TimetunnelMachen Sie eine Zeitreise … mit der Zeitleiste zur Machtergreifung 1933
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Die 50er - 70er Jahre

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Die 50er bis 70er Jahre, Nierentisch und Tütenlampe
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Lebenserinnerungen
Kap. 4: Die „Spuckliese”

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  1. Bei der Flieger-HJ
  2. Verhaftung und Verhör
  3. Sibirien, im Kusnezker Becken
  4. Die Spuckliese
  5. Meine Heimkehr

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Ein Abschnitt meines Lebens vom Mai 1945 bis zum Mai 1950
Kapitel 4
Die Spuckliese

Alle vier bis acht Wochen wurden wir der Spuckliese vorgeführt: Leutnant Louise war die russische Lagerärztin, die zwar die medizinische Behandlung unserer Kranken an die deutschen Lagerärzte abgetreten hatte, doch blieb ihr die Arschbackendiagnose vorbehalten. Vornehmer sollte man Popotest gesagt haben. Jedenfalls saß sie dabei inmitten des Raumes gelangweilt auf ihrem Stuhl, spuckte nach rechts, wenn der Spucknapf links stand, und umgekehrt. Wir standen dann in langer Reihe splitternackt vor ihr. Auf ihr Kommando kehrt drehten wir ihr den Rücken zu. Sie tatschte zur Beurteilung des Ernährungszustandes mit ihren Händen an beide Pobacken und verkündete sogleich die Arbeitsgruppe Gruppe 1 bedeutete Arbeit im Kohleschacht, Gruppe 2 hieß tauglich für allgemeine Arbeiten und OK befand sie, wenn nur noch die Haut am Knochen hing, also arbeitsunfähig wegen Dystrophie, bekannt als Unterernährung. Oftmals hatten diese Gefangenen auch noch Wasser in den Beinen, sogenannte Ödeme, die schon auf mangelhafte Herztätigkeit hinwiesen. Die ganze Situation um die Arbeitsfähigkeit war natürlich das Resultat aus körperlicher Überlastung während der Arbeitseinsätze und mangelhafter Ernährung. Und der Menüplan unserer Küche bot wirklich mit der kalorienarmen Kost keine Möglichkeit zur körperlichen Substanzerhaltung.

Zur Frühmahlzeit vor der Arbeit erhielten wir einen halben Liter Wassersuppe mit drei bis vier Graupenkörnern und einigen Brennnesselblättern ohne Fettaugen und natürlich ohne Fleisch. Dazu 400 Gramm Brot. Dieses Brot, mit Kartoffeln angereichert und dann flüssig in die Backformen gefüllt, wurde im Ofen mehr gekocht als gebacken und enthielt das Höchstmaß an Wasser, es war regelrecht nass. Das Mittagessen wurde auf die Baustellen gebracht und während der Arbeitspause ausgegeben. Es bestand durchweg aus dreiviertel Liter dünner Graupensuppe mit etwas Kohl darin. Wer ein Stückchen Fleisch bekommen hatte machte eine Sondermeldung und wurde von allen beneidet.

Und nach der Arbeit, zum Abend, gab es noch einmal 200 Gramm Brot, dazu ein halber Liter dünne Suppe und einen Löffel Kascha, einen Mais-, Hirse- oder Graupenbrei. Zum Trinken gab es genug, es stand immer Fichtennadeltee oder Zwiebelschalentee zur Verfügung. Beiden Teesorten sagt man helfende Wirkung bei Ödemen nach.

Eines Tages konnte ich nicht mehr laufen. Eine Vereiterung der rechten Leistendrüse, das war eine Schwellung in der Größe eines Hühnereies, brachte mich ins Lazarett. Einer der deutschen Ärzte operierte mich mit gutem Erfolg, wenn auch ohne OP-Besteck und ohne Betäubung, nur mit einem von den Schlossern angeschliffenen messerartigen Blechstück und einem Draht.

Ich legte mich mit dem Rücken auf einen kleinen Tisch, der Sani empfahl mir mit beiden Händen über den Schultern die Tischkanten fest zu ergreifen und der Arzt meinte, ich solle am besten den Mund halten, denn wenn ich stöhnen oder gar schreien würde, könne er für das Gelingen des Eingriffes nicht garantieren. Mit Hilfe des gebogenen Drahtes, einer alten Fahrradspeiche, hat er mir dann noch meine Leistendrüse gezeigt, die ich ja sonst nie zu sehen bekommen hätte.

Zu dieser Zeit wog ich gerade noch 50 Kilo. Der deutsche Arzt meinte, eine kleine Pause würde mir guttun, und nach ein paar Manipulationen am Fieberthermometer wurde ich als Tbc-verdächtig ins Lazarett eingewiesen. In der äußersten Ecke des großen Tbc-Raumes wurde mir ein Bett zugewiesen, mit etwas Abstand zu den wirklichen Tbc-Kranken. Den ganzen Tag im Bett liegen dürfen, ohne Arbeit herrlich. Doch nach drei Wochen erhielten wir ein Röntgengerät, und als mich der russische Röntgenarzt auf der Mattscheibe betrachtete und feststellte, dass es gar keine Tbc war, flog ich aus dem Röntgenraum und war sofort wieder arbeitsfähig und wurde für den Totenkeller eingeteilt. Ich hatte den Keller zu reinigen und den Ärzten bei den Leichenöffnungen Handreichungen zu machen. Bei einer dieser Obduktionen war die russische Lagerärztin, die Spuckliese dabei. Sie staunte und sagte zu einem untersuchten Organ: bolschoi Zerdze, großes Herz, wurde aber von dem deutschen Arzt darüber aufgeklärt, dass es sich um die Leber handelte.

Im Winter wurde wegen der Kälte nur alle Woche eine Beerdigung durchgeführt. Unsere Toten wurden auf der Kuppe eines dem Lager benachbarten Berges beerdigt. Mit drei Mann gingen wir ohne Bewachung voraus, um die Gräber schon auszuheben. Der von weiteren Gefangenen gezogene Panjewagen mit den Toten sollte uns in einer Stunde folgen. Als wir mit den Gräbern fertig waren, begann ein starkes Schneetreiben. Der Weg für den Totenwagen war bald tief verschneit, also mussten wir zurückgehen und den Wagen freischaufeln. Da es zwei Wege auf den Berg gab und wir nicht wussten, welchen Weg der Wagen nehmen würde, trennten wir uns. Zwei Kameraden liefen den Hauptweg hinunter, ich übernahm den Nebenweg. Vom Wagen war nichts zu sehen. Den größten Teil des Berghanges rutschte ich auf dem Bauch runter, bis ich in einer Mulde stecken blieb. Zwar mit dem Kopf nach oben, doch bis zum Hals im Schnee, Temperatur um die -30° C. Dass mich in dieser Situation die Angst befiel will ich gerne zugeben, denn der Schnee ist sofort fest wie Stein. Kurz, ich konnte mich wieder befreien und erreichte ohne Erfrierungen das Lager. Meine Hosen waren hart gefroren wie Ofenrohre und teilweise gebrochen. Der Totenwagen war gar nicht erst losgefahren.

Ende 1948 kam ich in das Lager Nr. 7525/1 in StalinskStalinks, Namesgeber der Stadt war Josef Stalin, heute Nowokusnezk, liegt im Steinkohlerevier des Kusbass in der Oblast Kemerowo am Fluss Tom im Südwesten Sibiriens.. Hier arbeitete ich in einem Sägewerk als Gatterführer und zersägte Baumstämme bis zu 80 Zentimeter Durchmesser, eine körperlich sehr schwere Arbeit. Allein unser Arbeitsgerät, das wir die Schicht über mit uns herumtrugen, die Brechstange, wog schon knapp 10 Kilo. Doch hier konnten wir durch raffinierte Abrechnungsmethoden stets Arbeitsleistungen über 200 Prozent nachweisen und bekamen für diese Leistung tatsächlich bares Geld ausgezahlt, für das wir uns in einem Kiosk auf dem Gelände des Sägewerkes zusätzliche Lebensmittel kaufen konnten. Natürlich waren diese raffinierten Abrechnungsmethoden reiner Betrug, doch trotz ständiger Anwesenheit einer russischen Kontrolleurin hat man uns nie erwischt. Und wir ließen uns immer neue Möglichkeiten einfallen, die Berechnung der gesägten Kubikmeter zu unseren Gunsten zu erhöhen. Eine Inventur der lagernden Baumstämme hätte uns für viele Jahre ins Bleibergwerk in den Ural gebracht.

Die ersten 450 Rubel eines Monatslohnes gingen an das Lager für Unterkunft, schlechtes Essen und gute Bewachung, den Rest erhielten wir bis zu 150 Rubel ausbezahlt. Hier sei noch zu bemerken, dass ein einfacher russischer Arbeiter zu jener Zeit ungefähr 300 Rubel verdiente.

Im ganzen industrialisierten Raum zwischen den Städten Prokopjevsk und StalinskHeute: Nowokusnezk gab es wohl nur Verbannte und Verurteilte. Verurteilte, die ihre Strafe bereits abgebüßt hatten, durften häufig das Gebiet dennoch nicht verlassen und mussten als Verbannte bleiben. Selbst unsere Bewacher und deren Offiziere, wie auch die Leiter der Fabriken waren Strafversetzte oder gar Verurteilte. Gleichfalls handelte es sich bei den auf dem Sägewerk tätigen russischen Arbeitern um Strafgefangene im offenen Strafvollzug. Sie besaßen nur einen Ausweis, der ihnen freie Bewegung im Umkreis von 50 Kilometern erlaubte. Die Überschreitung dieser Erlaubnis brachte sie sofort wieder hinter Stacheldraht. Das Verhältnis zwischen diesen russischen Arbeitern und uns war nicht gerade gut zu bezeichnen. Deswegen bewegten wir uns auf dem Werksgelände immer nur in Gruppen, niemals alleine. Eines Tages machten wir mit mehreren eine Arbeitspause in einer Kurilka, einem Rauchsalon. Auf dem gesamten Gelände des Sägewerkes bestand striktes Rauchverbot. Plötzlich war ich alleine mit einer Gruppe russischer Arbeiter und sofort gab es, ohne Grund, heftigen Streit. Ich lag schon auf dem Boden und weiß nicht, wie diese Schlägerei wohl ausgegangen wäre, wenn nicht Otto Kretschmer, ein ehemaliger Europameister im Schwergewichtsringkampf und Kumpel in meiner Arbeitskolonne, erschienen wäre. Er überlegte nicht lange und schmiss einzeln alle Beteiligten in hohem Bogen durch die Tür auf die Straße. Auch ich flog als letzter hinterher, unser Otto war in seinem Element.

Ein paar Tage später traf ich einen der russischen Beteiligten im Keller des Gatterwerkes wieder. Sofort sprang er auf mich zu und versuchte mich in den ungeschützten rasenden Pleuelantrieb zu drücken. Hätte ich nicht vor Jahren die japanische Verteidigungstechnik Jiu-Jitsu gelernt, hätte man mich sicherlich dort begraben können, so brachte man den stämmigen Russen mit ausgekugeltem Ellbogengelenk ins Krankenhaus.

Nach dem dritten Genfer Abkommen vom 12. August 1949, über die Behandlung von Kriegsgefangenen, durften wir zum ersten Mal eine Nachricht an unsere Angehörigen schicken, eine Postkarte mit 21 Worten. Obwohl meine Eltern und auch meine Schwester zahlreiche Antwortkarten an mich auf den Weg brachten, erreichte mich keine von all den Sendungen. Eine einzige Karte ließen die Russen passieren, einen Gruß von Hermann (Männer), der Text war auf Plattdeutsch geschrieben.

In der Not ist der Selbsterhaltungstrieb in ständiger Entwicklung und so kamen wir auf eine goldige Idee. Ein dickwandiges Messingrohr mit 20 Millimeter Durchmesser ließ uns zu Goldschmieden werden. Von einem Mitarbeiter der Schlosserkolonne zu Ringen zersägt und von uns in stundenlanger Arbeit rund gefeilt, entstanden echte Eheringe. Echt, weil ein Graveur sich einen Metallstempel gemacht hatte und mit jeweils einem Hammerschlag Messing zu 585'er Gold wurde. Den russischen Käufern, die uns gut bezahlten, sagten wir, dass Gold nur echt sei, wenn der Ringfinger davon schwarz würde. Das Geschäft ging gut, denn alle Finger wurden stets schwarz. Unter den Lagerinsassen waren alle denkbaren Berufe vertreten. Ein Geigenbauer aus dem Erzgebirge baute eine Violine und ein Cello. Ein talentierter Klempner bastelte eine Trompete und eine Posaune, Trommeln und eine Pauke brachten die Russen ins Lager. So hatten wir bald ein kleines Orchester, dessen Töne nicht ganz so rein waren, doch wir machten eigene Musik. Auf Wunsch des Kommandanten wurde nicht nur klassische Musik gemacht, man brachte uns auch die Weisen des Kommunismus näher.

Schauspieler und Sänger fanden sich, die uns unvergessene Abende bereiteten. Der Gefangenenchor aus Verdis Nabucco war in unserer Situation verständlicherweise der Höhepunkt.


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  • Autor: Karl A. Kramer, 23. Juni 2004
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