Ein Abschnitt meines Lebens vom Mai 1945 bis zum Mai 1950
Kapitel 2
Verhaftung und Verhör
Anfang Juni holte man mich wiederum mitten in der Nacht ab, dieses Mal kam ich in den Keller des Warener Landratsamtes. Hier herrschten die NKWD-Offiziere mit ihren Dolmetscherinnen.
Ich wurde zunächst in einem ungefähr 30 Quadratmeter großen Kellerraum gemeinsam mit weiteren sechs Gefangenen untergebracht. Wir erhielten regelmäßiges, jedoch kärgliches Essen und schliefen auf einer langen Holzpritsche ohne Decken. Fast jeden Abend wurden wir verhört. Es ging stets um eine angebliche Werwolf-Organisation und die Namen der Warener Parteiführer sowie der HJ-Führer. Alle Aussagen wurden protokolliert, doch die Verhöre wurden stets von Drohungen, körperlichen Schlägen, Tritten und sonstigen Misshandlungen begleitet. Da ich die gewünschten Namen nicht kannte, wir hatten uns immer nur beim Vornamen genannt, und auch vom Werwolf nichts wusste, liefen meine Verhöre immer nach dem gleichen Schema, mit denselben Fragen und quälenden Begleiterscheinungen ab.
Inzwischen war ein Warener Schulfreund von mir, Gerhard, ebenfalls 17 Jahre alt, verhaftet und zu uns im Keller einquartiert worden. Seine Verhöre und auch die gefürchteten Methoden, eine Aussage zu erpressen, deckten sich mit meinen Erfahrungen. Wir wurden gemeinsam in einem Lieferwagen nach Fünfeichen gefahren. Gerhard wurde dort abgeliefert, ich wieder zurück nach Waren gebracht. Gerhard ist 1977 nach schwerer Krankheit in Kamp-Lintfort gestorben. Warum ich in Fünfeichen nicht aufgenommen wurde, kann ich nicht sagen. Meine Verhöre wurden in heftigerer Form weitergeführt, doch nach drei weiteren Wochen entließ man mich wieder mit der Aufforderung, mich nun doch um die gewünschten Namen zu bemühen und sie ihnen zu melden.
Diesen Auftrag hatte ich zwar nicht vergessen, aber wohl nicht ernst genug genommen. Ich fühlte mich ohne Schuld, von den Russen dreimal entlassen, also wollte ich mich auf meine weitere Berufsausbildung konzentrieren.
Doch ich hatte die Situation falsch eingeschätzt. Mitte Juli 1945 erfolgte meine erneute Verhaftung, ich kam zunächst für zwei Tage in den Keller eines Privathauses Ecke Gerhart-Hauptmann-Allee, Goethestraße. Hier hatte ich einen Kellerraum ganz für mich alleine und sonst nur russische Soldaten im Haus. Zum Empfang der ersten dünnen Kohlsuppe gab man mir einen alten Blumentopf. Ich hatte weder Essbesteck noch Essnapf. Ich sollte einen Finger unter das Loch halten und die Suppe dann trinken. Doch die Suppe war kochend heiß und so lief sie bald auf den Kellerboden und meinen Finger bedeckte eine große Blase.
Am zweiten Tag kam Zuwachs in meine Zelle Herr Eugen Graf von Maltzahn beehrte mich mit seinem Besuch. Er sprach fließend russisch und konnte mir wenigstens einen Löffel und einen Blechnapf besorgen. Dann wurden wir beide in den Keller des Landratsamtes verlegt, nun jedoch in Einzelzellen von ungefähr eineinhalb Meter Breite und zweieinhalb Meter Länge mit Holzpritsche und einem Blecheimer.
Als Erstes wurde mir der Kopf kahlgeschoren, ein für mich sehr demütigender Akt. Danach bekam ich schon im Voraus eine tüchtige Tracht Prügel und im Verhör immer wieder die gleichen Fragen nach den Namen der Partei- und HJ-Führer. Die ganze Art der allabendlichen Verhöre lief jetzt strenger und härter ab. Grundsätzlich wurde der Verhörte von einer 100-Watt-Lampe angestrahlt, so dass er den vernehmenden Offizier gar nicht sehen konnte. Ich sollte nun sogar angeblich versteckte Waffenlager und Munitionsdepots kennen. Man glaubte mir zwar nicht, dass ich in der HJ das Fliegen von Segelflugzeugen erlernt habe, doch traute man mir zu, einen Aufstand gegen die russische Besatzung geplant und fertig organisiert zu haben.
Die sogenannte und gefürchtete Wasserzelle, als Einzelzelle, in der der Boden mit zehn Zentimeter Wasser bedeckt war, habe ich verschiedentlich bewohnt. In der Einzelzelle waren das Sitzen und das Liegen während des Tages nicht erlaubt und man durfte nur stehen oder die zweieinhalb Meter hin- und hergehen. Häufig brachte man mich mit zwei Wachposten in meine Zelle zurück, und ich sah aus wie ein Boxer nach langem verlorenem Kampf.
Als ich eines Nachts das Protokoll wieder einmal nicht unterschreiben wollte, warf mir der NKWD-Offizier nach mehreren Tritten in den Unterleib seine Pistole ins Gesicht. Der abgebrochene Schneidezahn hat mich noch lange Jahre an dieses Verhör erinnert.
Es ist schon schwer zu sagen, wo eine Misshandlung endet, und wann die Folter beginnt. Eines Abends habe ich während des Verhörs vom Schreibtisch des vernehmenden Offiziers ein Taschenmesser geklaut. Es steckte an diesem Abend mehrere Stunden lang geöffnet in meiner Hosentasche …
Der Sohn eines im Landratsamt beschäftigten Handwerkers, Hans, brachte dieses Messer am nächsten Tag mit einem Gruß von mir zu meinen Eltern. Heute hat dieses Messer bei mir im Schreibtisch einen Ehrenplatz.
Die Wochen im Landratsamt waren lang. Tagsüber keine Ruhe, nur Angst vor dem nächsten Verhör und nachts kaum Schlaf. Man hatte gegen mich kein ausreichendes Material an Aussagen für eine Verurteilung, und ich war froh, als ich endlich im Oktober wieder nach Fünfeichen gebracht wurde und mich fortan nichts weiter als nur die Unfreiheit und der Hunger quälte.
Und doch war es nur die Verlegung von einer Hölle in die nächste. Die hermetische Abgeschlossenheit von der Außenwelt, von Angehörigen und Freunden, die Ungewissheit über die Zukunft und die unbekannte Dauer des Lageraufenthaltes stellten eine seelische Belastung dar, der so mancher nicht gewachsen war. Hinzu kam der allgegenwärtige Hunger von einer Mahlzeit zur anderen, die totale Untätigkeit und die geistige Verblödung, der die Gerüchteküche zu immer neuen Hoffnungen verhalf. Zu vergessen sind auch nicht die uns bisher unbekannten Tierchen, wie Wanzen und Flöhe. Hier traf ich auch den Warener Gerhard wieder.
Im Kampf gegen den Stumpfsinn baten wir die älteren, erfahrenen Lagerinsassen, uns über die Themen ihres Berufes Vorträge zu halten. Das half beiden Parteien und unter den Zuhörern fand man nicht nur die Jugendlichen. Interessant waren die Erzählungen eines professionellen Expeditionsleiters mit vier Doktor-Titeln und lehrreich die Themen aus der Medizin, den Naturwissenschaften sowie der Technik. Ich selbst habe aus diesen Vorträgen sehr viel gelernt.
Anstelle des morgendlichen gestrichenen Esslöffels Zucker erhielten wir manchmal eine Tube Nescafé Pulver. Aus diesem Pulver machten wir uns, in Wasser gelöst und mit einer Gabel geschlagen, eine herrliche Kaffee-Schlagcreme. Das gab fast einen Liter Schaumcreme der den Magen zwar nur mit Luft füllte, uns aber den Zustand der Sättigung vorgaukelte.
Erhard, ein Jugendlicher aus meiner Baracke, hatte eine recht gute Stimme und er sang auch gerne. So baten wir ihn abends häufig uns das Lied: Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt
, zu singen. Bei der Melodie konnte man so herrlich träumen und an zu Hause denken.