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Rektor Hermann Müller

Es muss 1936/1937 gewesen sein, ich besuchte die zweite Klasse der Volksschule Garstedt, als der erkrankte Klassenlehrer Wegener durch den Rektor der Schule, Herrn Haselof, vertreten wurde. Herr Haselof machte den Eindruck eines etwas dickleibigen gutmütigen Onkels. Sein Unterricht bezog sich auf englisch-französische Unstimmigkeiten über den Suezkanal. Ich bedeutete meinem Banknachbarn Werner Albrecht durch leichte Puffer an seinen Körper dass wir die Auseinandersetzung nachvollziehen wollen. Werner machte mit und so entwickelte sich ein leichter Boxkampf, der Herrn Haselof nicht unentdeckt blieb. Kommt mal her ihr Beiden! Wir gingen nach vorn und waren gespannt, was nun kommen würde. Ehe wir uns versahen, hatte der Rektor erst den einen und dann den anderen über sein Knie gezogen und jedem fünf Schläge auf das Hinterteil versetzt. Damit hatten wir nicht gerechnet. Dass wir in den kargen Zwischenraum zwischen Oberschenkel und Bauch passten, nahmen wir mit Verwunderung zur Kenntnis. Der Schreck war größer als der Schmerz. Mit leicht lädiertem Hinterteil durften wir uns wieder hinsetzen.

Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass der Rektor mit Ablauf des Schuljahres seinen Ruhestand antreten würde. Es sollte also ein neuer Rektor kommen. Ich kam mit dem neuen Schuljahr in die erste Klasse. Hier sollte ich wohl zum besseren Verständnis einfügen, dass die Schulzeit mit Klasse acht begann und mit der ersten Klasse ihren Abschluss fand. Die zweite Klasse erhielt den neuen Rektor, auf den alle gespannt waren. Der neue Rektor hieß Hermann Müller und war ein großer schlanker Mensch, der etwas schlaksig wirkte. Seinen Kopf zierte ein spärlicher Haarwuchs, man könnte ihn militärisch nennen. Er hatte stets Schwierigkeiten, sein Haar im Zaum zu halten. Ab und an strich er sich mit der Hand darüber.

Uns gefiel er nicht, aber wir hatten ihn ja auch nicht als Klassenlehrer. Mit ihm musste sich die neue zweite Klasse auseinandersetzen. Schnell verbreitete sich die Aussage, dass der Umgang mit ihm schwierig sei. Er hätte so gewisse Marotten, die nicht von jedem verstanden würden.

Was soll's, uns in der ersten Klasse focht das nicht an. Wir waren mit unserem Herrn Stapelfeldt als Klassenlehrer zufrieden. Auch er hatte seine Eigenarten, aber welcher Lehrer hat das nicht. Er hatte ein Faible für das große Einmaleins. Begann der Rechenunterricht, so mussten alle Schüler in der Klasse aufstehen und durften sich erst hinsetzen, wenn sie die Aufgabe gelöst hatten. So ging es dann: 18 mal 12, 17 mal 19, 13 mal 18 und so weiter. Wer es wusste, durfte sich setzen. Mein Banknachbar Hermann Lang war Spitzenkönner. Er war immer erster oder zweiter. Ich hatte so meine Schwierigkeiten. Ich erreichte lediglich eine Mittellage.

Hermann und ich kamen auch privat zusammen. Sein Vater hatte eine Tischlerei, die er später übernehmen sollte. Dazu kam es aber nicht. Hermann Lang war einer der ersten, die im Kriege fielen. Mich hat das sehr geschmerzt.

Für die Sammlungen der NSDAP mussten wir gelegentlich Sammellisten herrichten. Es war liniertes Papier, auf das als Kopfzeile mit Name und Anschrift eingetragen wurde. Der Rand wurde dann verziert, damit alles einladend aussah. Ich wählte ein Rosenmuster, umfasste also den Rand mit lauter Rosenblüten. Das gefiel Herrn Stapelfeld sehr gut, was er mir auch zu verstehen gab. Ich verstand mich mit ihm eigentlich sehr gut, was vielleicht damit zusammenhing, dass er bereits meine Mutter unterrichtet hatte.

Eigentlich umfasste die Schulzeit acht Jahre. Für die Schüler, die am Ende des Schuljahres, also beim eigentlichen Abgang, noch keine Lehrstelle hatten, wurde ein Jahr angehängt. In unserer Klasse befanden sich auch sechs solcher Schüler, zu denen wir ein gutes Verhältnis hatten. Sie hatten in der linken Bankreihe die obersten sechs Plätze für sich eingenommen. Das war ihr Privileg.

Allmählich neigte sich das Schuljahr dem Ende zu und wir mussten uns entscheiden: Abgang oder ein Jahr anfügen. Ich würde wohl zu denen gehören, die ein Jahr länger bleiben mussten, denn ich hatte noch keine Lehrstelle. Eigentlich war dieser Umstand zu verkraften, aber ich hätte dann Herrn Möller als Klassenlehrer bekommen. Davor hatte ich einen ziemlichen Bammel.

Der Zeitpunkt näherte sich und Rektor Müller suchte die Eltern derjenigen Schüler auf, die er übernehmen würde. Er wollte sich bekannt machen. So kam ich eines Tages vom Spielen nach Hause und traf in der Wohnstube auf meine Mutter, die sich eingehend mit Rektor Müller unterhielt. Anscheinend verstanden sich beide recht gut, was mich wunderte. Nach Worten der Begrüßung meinte Rektor Müller: Na Kurt, wir werden uns sicher gut verstehen. Nach kurzer Pause erwiderte ich: Das kann ich nicht sagen, ich kenne sie ja noch gar nicht. Herr Müller war etwas perplex ob dieser Antwort, gluckste aber ein hörbares Lächeln. Irgendwie muss ihn meine Antwort amüsiert haben.

Naja, ich harrte der Dinge, die da kommen würden. Ade, Herr Stapelfeldt. Mit einem absolut unguten Gefühl betrat ich meine neue erste Klasse, eigentlich die Klasse, die ich nur zu wiederholen hatte. Aber es kam alles anders. Für mich gab es kein Privileg der obersten Reihe, ich setzte mich viel mehr unten in die zweite Bankreihe neben Bruno Diercks, den ich vom Jungvolk her kannte. Wir waren befreundet. Hinter mir auf der Bank saß mein späterer Kollege in der Gemeindeverwaltung Garstedt, Herbert Carstens. Vor mir in der Bank saß ein Neuer, wie sich schnell herumsprach, Klaus-Henner Müller, der Sohn des Rektors. Henner versuchte sich zu produzieren und spielte den Klassenclown. Nun war es so bei Herrn Müller, dass vorne vor der Klasse, vor den Schülern und Schülerinnen, ein Aufpasser stand. Davon hatten wir schon gehört. Hans-Andreas Ohlsen passte bei den Mädels auf und Ingeborg Zimmermann oder Paula Stellwag standen vor den Jungen. Sie hatten die Aufgabe, jede Unbotmäßigkeit wie zum Beispiel Schwatzen! dadurch zu ahnden, dass der Name des Übeltäters an die Wandtafel geschrieben wurde. Ein weiteres Vergehen desselben Täters wurde durch einen zusätzlichen Strich kenntlich gemacht. Normalerweise bedeutete jeder Strich eine Seite Schönschreiben in seiner Kladde ‒ natürlich nach der Schulzeit zu Hause. Klaus-Henner hatte bereits fünf Striche hinter seinem Namen angesammelt. Das machte uns neugierig.

Zunächst noch ein Wort zur Erklärung einer solchen Maßnahme. Der Rektor musste mitunter die Pausen etwas ausdehnen, um noch Gespräche mit seinen Kollegen oder mit den Eltern zu führen. Da sollte es in der Klasse des Rektors natürlich ruhig zugehen. Eine Remmidemmiklasse hätte er sich nicht erlauben können.

Nach einiger Zeit betrat der Rektor die Klasse. Was kam nun? Herr Müller schaute sich die Einträge auf der Wandtafel an und entdeckte natürlich den Eintrag seines Sohnes. Mit einer bedächtigen Geste drehte er sich der Klasse zu und fragte: Klaus-Henner, auch du?. Ja, Papa, tönte Henner weinerlich zurück. Nach kurzer Pause der Rektor: Na, dann komm mal her, dann wollen wir die Sache gleich hier abmachen. Klaus Henner ging zu ihm und ehe er sich's versah, hatte ihn Herr Müller übers Knie gezogen und verpasste ihm fünf heftige Schläge auf das Hinterteil. Die Strickhose von Bleyle, die Henner anhatte, wird nicht viel abgehalten haben und Henner jaulte wie ein junger Hund. Die ganze Klasse war erstarrt, hatten wir doch damit nicht gerechnet.

 Wir erkannten aber, dass der Rektor nicht umhin konnte, ein Exempel zu statuieren. Klaus-Henner fügte sich dann auch gut in die Klassengemeinschaft ein. Sein Vater hatte ihn von der Mittelschule zurück in die Volksschule nehmen müssen, weil Henner Schwierigkeiten hatte. Das Verhältnis Vater ‒ Sohn war offensichtlich nicht gut. Väter erwarten immer mehr von ihren Söhnen, als diese zu leisten imstande sind.

 Uns tat der Junge leid, aber wir konnten nichts ändern.

Aber etwas anderes änderte sich: Die Mädchen lehnten Hans Andreas als Aufpasser ab und machten das deutlich. Insbesondere Hanna Eichblatt bewegte heftig ihre Arme und Hände, um anzudeuten, es muss eine Änderung erfolgen.

 Überraschenderweise war der Rektor der Forderung sehr zugetan und bat die Mädels darum, einen Nachfolger vorzuschlagen. Insbesondere Hanna war es, die laut in die Gegend schrie: Sibbi, Sibbi, Sibbi!!!. Die anderen Mädchen schlossen sich dem Ruf an. Zunächst wusste ich gar nicht, dass ich damit gemeint war und konnte die Sympathie für den Neuen nicht ergründen, denn in der Vorklasse nannte man mich Negus in Andeutung an den 1937 stattfindenden Abessinienkrieg. Mein bräunlicher Teint und meine braunfarbenen Rollkragenpullover trugen zur Namensgebung bei. Hier nun diese neue Bezeichnung, an die ich mich zu gewöhnen hatte.

Allerdings war das Hannas Bezeichnung. Hanna war ein sehr hübsches Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen (Schneewittchen ‒ immer etwas vorlaut ‒ absoluter Kumpeltyp) und einem interessanten Gesicht mit einer auffallenden, leicht gekrümmten Nase. Ich mochte sie von Anfang an. Zu einer freundschaftlichen Beziehung kam es allerdings nicht; meine Angst vor kleinen Mädchen war immer noch viel zu groß. Aber wir mochten uns. Die Zustimmung für mich war einhellig. Auch die Edeldamenriege ganz oben links in den ersten Bänken war einverstanden. Hier saßen die hübsche Vera Pohlmann, Lehrerstochter Grete Dall und Grete Goldschmidt, die Tochter des Bürgermeisters. Es muss noch ein viertes Mädel da gewesen sein, deren Namen mir nicht einfällt.

Die Klassenbesten bei den Mädchen waren die schon erwähnten Ingeborg Zimmermann und Paula Stellwag. Bei den Jungen dürfte es der etwas arrogant wirkende Hans Andreas Ohlsen gewesen sein. Möglicherweise folgte ich ihm. Auffällig bei den Mädchen war noch Mary Meyer. Sie war ein burschikoser Typ und prima Kumpel. Ihre roten Haare und ihr entwickelter Körper brachten manchen Jungen in Versuchung, einen leisen Spott anzubringen. Doch der hatte sich verrechnet, Mary war nicht feige und verprügelte ihn. Ich kam sehr gut mit ihr aus, weil ich sie respektierte, wie sie war.

Der Rektor war mit der Wahl einverstanden und ich spielte fortan den Aufpasser bei den Mädchen. Die Aufgabe war gar nicht so einfach, wie man meinen könnte. Leicht konnte man ins Fettnäpfchen treten. Also was tat ich ‒ ich orientierte mich an meiner Mitaufpasserin. Natürlich durfte ich mich nicht bei den Mädchen unbeliebt machen und den Hass der Jungen auf mich ziehen. Schrieb also meine Kollegin einen Mitschüler auf, bemühte ich mich, ein geeignetes Mädchen zu finden. Das war nicht schwer, weil es den Mädchen doch sehr viel abverlangte, ihren Mund zu halten. Schnell war ein geeignetes Opfer gefunden. Das alles hört sich etwas gehässig an, aber was sollte ich anderes machen. Ohne etwas Fingerspitzengefühl ging es nicht und ich glaube, sehr oft unauffällig ein Auge zugedrückt zu haben.

Vorn auf der Mittelbank saß ein Mädel ganz allein und rutschte mal hierhin und mal dahin. Das war natürlich kein Grund zum Aufschreiben. Es geschah in aller Ruhe. Ingeborg Heerde hieß das Mädel und ich mochte sie leiden. Sie wohnte mit ihrer geschiedenen Mutter am Hempberg in der Nähe der Ochsenzoller Straße. Das war für eine freundschaftliche Annäherung viel zu weit weg, denn ich wohnte in der Mitte der Ohechaussee. Anscheinend mochten wir uns mehr als erkennbar. Dazu mehr an anderer Stelle.

Meinen Job als Aufpasser behielt ich das ganze Schuljahr lang. Des Rektors Unterrichtsgestaltung gefiel mir. Obwohl Wiederholungsklasse, habe ich viel Neues bei ihm gelernt. Er lehrte uns Algebra und Quadrat- und Kubik-Wurzel ziehen, in der Geometrie auch Winkelberechnungen pp. Ich durfte für ihn sogar eine Unterrichtstafel herstellen, etwa fünfundvierzig mal neunzig Zentimeter groß, welche die Buchstaben des lateinischen Alphabets enthielt. Alles musste natürlich in absoluter Schönschrift erfolgen und das traute er mir anscheinend zu. Leider konnte ich nicht verhindern, an einer Stelle den Buchstaben leicht zu verunstalten, doch schnell ließ sich dieser Fehler wieder beheben. Die Tafel hat noch lange Zeit der Schule als Unterrichtsmaterial gedient. Selbstverständlich war ich sehr stolz auf mein Werk.

Für die Sommerferien war eine Schulfahrt angesagt. Es sollte acht Tage in den Harz gehen. So eine Rasselbande 14-Jähriger war natürlich nicht einfach in Schach zu halten. Deshalb hatte der Rektor Herrn Becker, den Vater einer Schülerin, als Aufpasser mitgenommen. Erstes Reiseziel war Goslar, eine sehr interessante Stadt. Aufgesucht wurde die Kaiserpfalz und eingehend besichtigt. Im Weiteren sollte eine Bergkuppe überwunden werden, um zum Romkerhaller-Wasserfall zu gelangen. Auf halber Höhe hatte unsere Mitschülerin Ursula Kliefoth Probleme mit ihren Füßen. Es wurde eine Pause eingelegt und die Verantwortlichen kümmerten sich um die Wunden. Letztlich wurde auch der Anstieg geschafft und bergab ging es ins Tal zum Wasserfall.

Es war schon beeindruckend, was wir Flachländer dort zu sehen bekamen.Wir gingen dann den Fluss entlang in Richtung Altenau. Dort übernachteten wir im Heu. Morgens diente uns ein einbetonierter Flusslauf als willkommene Erfrischung. In Altenau kauften Herbert und ich uns unseren Spazierstock, den wir fortan eifrig mit Stocknägeln besetzten. Oh wie stolz waren wir auf unseren Marschhelfer.

Die genaue Reihenfolge der absolvierten Marschpunkte kann ich nach fast 80 Jahren natürlich nicht mehr bestimmen, zumal jegliche Aufzeichnungen fehlen. Es folgten irgendwann Bad Harzburg, wo wir die Seilbahn benutzten, und Wernigerode. Dort besichtigten wir die Burg und die steinerne Renne, eine Steinansammlung in einem flachen Flusslauf. Von der Burg aus hatte man einen herrlichen Blick über die Landschaft. Weitere Stationen waren Elend und der hübsche Kurort Schierke. Natürlich durfte auch der Brocken nicht vergessen werden. Bevor der Anstieg begann, wurde noch ein Erfrischungsgetränk zubereitet. In einem großen Topf mit moorigem Wasser wurde Zitronensäure aufgelöst und wir genossen eine wohlschmeckende Zitronenlimonade. Leider hatte das moorige Wasser unangenehme Folgen, doch dazu später.

Nun marschierten wir den Brocken hinauf. Der Weg wurde länger und länger und die Brockenspitze war durch die Bergwölbung nicht mehr zu erkennen. Wir fragten deshalb diejenigen, die vom Berg herunterkamen, nach der zeitlichen Wegeslänge. Nach deren Antworten verlängerte sich die Zeit von mal zu mal ungemein. Endlich hatten wir es geschafft und waren oben. Wir standen auf der Brockenspitze. Es war beeindruckend!

Zurück ging es natürlich auch wieder zu Fuß, um dann den Weg nach Blankenburg fortzusetzen. Auch hier ein herrlicher Blick von der Burg. Am Fuße der Burg war ein Jahrmarkt, der uns Jungen fesselte. Weiter ging es in Richtung Rosstrappe und Hexentanzplatz. Unseren Standplatz hatten wir in Thale genommen, von wo aus die weiteren Besichtigungen erfolgen sollten. Doch nun begann es: Es rumpelte und pumpelte in unseren Bäuchen herum und wir mussten recht oft die Toilette aufsuchen.

Auch ich gehörte zu denen, die lieber im Hause blieben, also auf Rosstrappe und Hexentanzplatz verzichteten. So hatte ich Gelegenheit, Herbert einen abgerissenen Knopf wieder an sein Zeug zu nähen; Herbert konnte das nicht. ‒ Dennoch war es eine sehr schöne Fahrt. Uns allen hat sie gefallen und Spaß gebracht. Den Verantwortlichen, die sich eine solche Last aufgebürdet hatten, sei Dank.

Wieder in der Schule, blieben wir nicht vom Unterricht verschont. Es musste ja weitergehen. Inzwischen hatte sich die Freundschaft mit Henner so vertieft, dass ich auch ins Müllersche Haus kam. Die Familie Müller wohnte in dem direkt neben der Schule stehenden, geräumigen Reetdachgebäude. Auch Frau Müller lernte ich näher kennen. Sie war eine Frohnatur und angenehm, um sich zu haben. Sie spielte Klavier und gab Klavierunterricht. So lernte ich auch Henners Freunde aus Pinneberg kennen. Einer war der Sohn des Amtsschreibers Dunker, ein netter Kerl. Es hat mich gefreut, dass die alten Beziehungen auch aufrechterhalten wurden, nachdem Henner die Pinneberger Schule hat verlassen müssen. Was Henner eigentlich hat nach der Schule werden wollen, weiß ich nicht. Studieren war ja wohl nichts.

Frau Müller hatte in der Lüneburger Heide Spargelbeete (Familienbesitz) und so kam es, dass wir einige Male unseren Einmachspargel bei den Müllers kauften. Billig war das nicht. Ein Vorzugspreis wurde nicht eingeräumt, aber der Spargel war sehr gut.

Die Herbstzeugnisse standen an. Rektor Müller las jedem von uns die vorgesehene Benotung vor. Wer nicht damit einverstanden war, konnte sich melden. Für Musik war in meinem Zeugnis eine vier vorgesehen. Das passte mir nicht. Die gehörte nicht dahin und ich meldete meinen Protest an. Rektor Müller bat mich nach vorn und gab mir Gelegenheit, mein Anliegen zu begründen. Laut schmetterte ich das Lied Kein schöner Land in dieser Zeit… in die Klasse. Singen war ich vom Jungvolk gewohnt. Und tatsächlich erhielt ich eine drei. Das genügte mir, denn die Vier wird eine generelle Zensierung der Jungen gewesen sein, die sich allgemein im Stimmbruch befanden. – Allerdings weiß ich nicht, ob die bessere Benotung meiner Gesangsleistung oder dem Mut zum Protest galt.

Es ist nicht zu vermeiden, dass Schulmöbel unter ihren Benutzern leiden. Auch unsere Bank war – vermutlich aus Langeweile – irgendwann angebohrt worden. Jeweils vor Bruno und mir befand sich in der Tischmitte ein kleines Löchlein. Die wurden mit einem Band verbunden und an dessen Enden jeweils das Bein eines kleinen hölzernen Schafes befestigt. So war es uns möglich, unter die Bank zu greifen und von dort aus durch entsprechende Zugbewegungen das Schaf über die Tischfläche spazieren zu lassen. Sehr zum Amüsement der den Fez entdeckenden Mitschüler – aber man durfte sich von dem Lehrer keinesfalls schnappen lassen.

Einmal erwischte ich Bruno dabei, wie er sich das Nasenloch zuhielt und versuchte, die Luft aus dem anderen Nasenloch auszublasen. Das gab natürlich ein recht komisches Geräusch und ich fragte ihn, was das solle:  Ich blase aus dem letzten Loch war seine typische Antwort. Ohne Blödsinn ging es eben nicht in den langen Schulstunden.

Mein Banknachbar Bruno kam natürlich nicht umhin, auch einmal angeschrieben zu werden. Bruno kannte aber die Müllersche Verfahrensweise zur Genüge. Er war vorbereitet. Bei ihm hatten sich inzwischen einige Kladden angesammelt, die restlos beschrieben waren. Alles noch Relikte aus dem Vorjahr. Bestand die Aufgabe darin, eine Seite als Strafarbeit zu schreiben, so musste sie am nächsten Tag vorgezeigt werden und der Rektor zeichnete sie mit einem großen M ab. Brunos Hefte hatten also auf jeder Seite in der rechten unteren Ecke die Paraphe des Rektors stehen. Er nahm also ein Stahllineal und ein scharfes Messer und schnitt einfach unten einen Zentimeter von dem Heft ab. Nun standen also auf jeder Seite jungfräuliche Schönschriften, die vom Rektor ohne weiteres wieder abgezeichnet wurden. Es war ohne Belang, dass auch die folgenden Seiten schon beschrieben waren. – Man muss sich eben zu helfen wissen.

Eines Tages überraschte uns der Rektor damit, dass er Englisch-Kurse anbot. Die sollten zweimal in der Woche abends um 18.00 Uhr stattfinden. Ich meldete mich sofort, hatte großes Interesse. Für den Anfang reichte der Umfang des Lehrstoffes. Mir schwirren immer noch einige Zeilen durch den Kopf: A pen? Is it a pen? Yes, it is a pen!... Auch Steno-Kurse bot Herr Müller an. Die fanden eine Stunde vor Unterrichtsbeginn statt. Man musste also früher aufstehen. Auch dafür zeigte ich Bereitschaft. Das kam mir in meiner Lehrzeit sehr zustatten. Konnte ich mir doch kleine Notizen in Kurzschrift machen.

Sportunterricht hatten wir bei Dr. Elend. Er war ein sportliches Ass. Spielten wir Schlagball, spielte er mit. Das Spiel erstreckte sich über den ganzen Schulhof. Vorne wurde geschlagen, im Hintergrund befanden sich die Male. Die Mannschaft im Feld hatte nun die Aufgabe, die Abschläger mit dem Ball abzuwerfen und diese hatten das Bestreben, eine Malstange zu erreichen. Ein Schüler, der sich von der Malstange gelöst hatte und den Abschlag anstrebte, wurde nur wenige Meter vorher durch einen Ballwurf des Dr. Elend, der ganz hinten am Mal Stand, zwischen den Schulterblättern getroffen und hatte arge Schmerzen. Das saß!

Ich vermute, dass Dr. Elend als Offizier zur Wehrmacht eingezogen wurde, denn er war plötzlich nicht mehr da. Auch bei dem Erdkundelehrer Knop konnte ich durchaus punkten. Unter einer Niederschrift, die sich mit dem Sonnenaufgang und Sonnenuntergang befasste, prangte sehr zu meiner Freude eine Eins. Anscheinend hat ihm meine etwas romantisierte Darlegung gefallen. Schneller als man denkt ist dann plötzlich die Schulzeit zu Ende und es beginnt die Lehrzeit.

Herbert und ich traten unsere Lehrzeit bei der Gemeindeverwaltung Garstedt an, Herbert in der Kasse und ich in der Verwaltung. Auch die anderen Mitschüler traten ihre Lehrzeit an.

Doch dann wurden auch sie eingezogen zum Kriegsdienst. Wer hatte schon das Glück, einen solchen Krieg zu überleben. Hermann Lang traf es gleich bei seinem ersten Fronteinsatz. Anderen wurde etwas Zeit gegeben. Viele kamen nicht oder als Krüppel zurück. Auch Wilhelm Burgdorf, unserem Klassen-Faulpelz, aber liebenswertesten Klassenkameraden, war ein Heimkommen nicht beschert. Ebenfalls Klaus Möller, unserem Klassen-Frechdachs wurde der Tod im Felde zugedacht. In meinem Buch Meine Soldatenzeit habe ich eine Ehrentafel derjenigen Mitschüler verfasst, die gefallen sind.

Wilhelm Burgdorf, Albin Schleifer, Karl-Heinz Schrader, Werner Albrecht und ich, alle aus der gleichen Schulklasse, wurden während der Rekrutenzeit als Kriegsoffiziersbewerber ausgewählt. Bei einer zu absolvierenden mündlichen Prüfung, an der noch weitere Prüflinge teilnahmen, fand der prüfende Major und Regimentskommandeur Anerkennung für unsere schulische Ausbildung und zollte dem Rektor Respekt für seine ausgezeichnete Leistung. Er konnte das beurteilen, denn er war im Zivilberuf leitender Direktor einer höheren Schule in Uetersen.

Mit Gottes Fügung bin ich nur leicht verwundet aus dem Krieg heimgekehrt. Nun galt es, alte Verbindungen wieder aufzunehmen. Auf einer Fahrt mit der Hochbahn in die Stadt Hamburg traf ich auf dem Bahnsteig Ingeborg Heerde, meine kleine Flamme. Ingeborg hatte aber schon zwei Kinder bei sich, etwa sieben Jahre alt. Sie musste also schon zeitig angefangen haben, was ich ihr wirklich nicht zugetraut hätte, zumal sie immer sehr schüchtern tat. Auf dem Rücken trug sie einen Rucksack. Sie war also bemüht einzukaufen, was damals gar nicht so einfach war. Wir wechselten einige freundliche Worte und erklärten unser bisheriges Ergehen. Dann wurde die Bahn bestiegen und die Fahrt fortgesetzt.

Auch auf einem Klassentreffen hatten wir noch einmal eine Begegnung mit Ingeborg. Da war ich auch schon verheiratet und hatte Kinder. Ingeborg dürfte mit etwa 78 Jahren gestorben sein. Ihrem Sohn hatte sie extra aufgegeben, mir von ihrem Heimgange Mitteilung zu machen. Wenn das nichts bedeutete. Natürlich habe ich mit sehr netten Worten kondoliert.

Nun hörte ich auch davon, dass Klaus Henner im Kampf um die Seelower HöhenDie Schlacht um die Seelower Höhen im April 1945 eröffnete die Schlacht um Berlin der Roten Armee am Ende des Zweiten Weltkrieges.Siehe Wikipedia.org (Klick...) gefallen war. Vater Müller war inzwischen pensioniert und bewohnte ein Häuschen am Tarpenufer mit großem Garten. Es kann die Zeit gewesen sein, wo ich schon in Halstenbek beschäftigt war, als ich mit dem Fahrrad an seinem Grundstück vorbeifuhr. Er stand im Garten und schaute sich ihn versonnen an. Eigentlich hätte ich absteigen und ihn aufsuchen müssen, um zu kondolieren und ihm die Anerkennung des Regimentskommandeurs zu überbringen.

Ich wagte es nicht! Wenn ich vor ihm gestanden hätte, diesem für mich so großartigen Mann, der mir so viel gegeben hatte, und ich hätte auch nur eine Träne in seinem Auge entdeckt, wäre ich angefangen bitterlich zu weinen und vielleicht hätte ich ihn mitgerissen. ‒ Vielleicht wäre aber auch nur folgendes passiert: Er hätte ein gesummtes so für die eine und ein einfaches danke für die andere Mitteilung von sich gegeben, wie es in seiner coolen Art durchaus zu erwarten gewesen wäre. ‒ Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen!

Mir fehlte einfach der Mut, ich war feige! Wie Leid tat mir dieser Mann. Wie oft muss ihm durch den Kopf gegangen sein, wie er seinen Sohn verprügelte und wie er jetzt miterleben muss, dass dieser in der Hölle geblieben ist; denn die Schlacht und die Seelower Höhen waren die Hölle. Etwa. eine Million Rotarmisten stürmten auf 120.000 deutsche Soldaten ein. Ich stellte mir vor, wie auch Klaus Henner sich in den Boden krampfte, um den tödlichen Schüssen zu entgehen. Ich hatte Ähnliches erlebt, nur nicht mit einer solchen Gewalt und Materialmasse. Er hat es leider nicht geschafft.

Eigentlich war Feigheit nicht unbedingt meine Sache, aber die Bewunderung und der Respekt für den alten Herrn waren einfach zu groß. Vielleicht hat er alles, was ich hier diktiere da oben mitgehört. Ich habe Tränen in den Augen und vermute, dass er mir vergeben hat. Es tut mir sehr leid!

» Das hier war ich ihm schuldig! «

Natürlich trug auch Rektor Müller das Parteiabzeichen, die sogenannte Wollhandkrabbe. Ein Lehrer konnte es sich damals nicht erlauben, ohne ein solches Schmuckstück aufzutreten. Ob er innerlich überzeugt war, bezweifle ich. Auf jeden Fall hat ihm der sogenannte StaatsjugendtagStaatsjugendtag bedeutete für Mädchen und Jungen der Hitler-Jugend, dass ab Mitte 1934 der Sonnabend einer jeden Woche Diensttag war. Man hatte also in der Uniform am vorgegebenen Ort zu erscheinen und es wurde dann exerziert oder es wurden andere, den Nazis nützlich erscheinende Aufgaben, erledigt (z. B. Flachs ziehen). Der Dienst dauerte von 8 Uhr bis gegen Mittag, meist länger als der Schulunterricht, von dem man befreit war. Mit dem 1.1.1937 wurde der Quatsch wieder abgeschafft.Kurt Sievers[1] sehr zu schaffen gemacht. Er hatte kein Verständnis dafür, dass Jungen und Mädel auf eine solche Weise dem Unterricht fern gehalten wurden. Wissen zu vermitteln, um seine Mädel und Jungen vorbereitet in das Leben nach der Schule zu entlassen, war sein besonderes Anliegen.

Klaus-Henner hatte noch einen jüngeren Bruder, der wie sein Vater mit Vornamen Hermann hieß. Hermann kam ganz seiner Mutter nach, wobei ich nicht weiß, ob er auch deren Begabungen hatte. Wie sich Hermann durch das Leben schlug, ist mir nicht bekannt. Er soll verheiratet gewesen sein und zwei Töchter haben – unten, in Süddeutschland. In den letzten Jahren trafen wir uns einige Male zu einem netten Klönschnack im Herold-Center. Plötzlich erschien Hermann nicht mehr. Ich befragte seine Lebensgefährtin Hilde Stahl gelegentlich nach seinem Verbleib. Oh, Hermann ist bereits vor einem Vierteljahr verstorben. Ich war entsetzt. Wie einfach doch plötzlich gute Freunde verschwinden. Man muss es hinnehmen.

Die Müllersche Grabstelle auf dem Garstedter Friedhof existiert nicht mehr, wohl aber diese kurze Geschichte über die Familie.


[1] Zum Staatsjugendtag wurde durch eine Verfügung des Reichsjugendführers Baldur von Schirach vom 7. Juni 1934 der Samstag erklärt. Schüler, die der Hitlerjugend angehörten, waren danach an Samstagen vom Schulunterricht befreit bzw. für Veranstaltungen der HJ freigestellt. Mit der Verpflichtung der gesamten Jugend zur Mitgliedschaft in der HJ zum 1. Dezember 1936 wurde der Staatsjugendtag wieder abgeschafft.