Cafégespräch
In den 1970er Jahren wurde es zur Gewohnheit, dass ich mit meiner Großtante GustelLesen Sie auch meine Geschichte:Glückliche Zeiten
hin und wieder einen Sonntagsausflug machte. Sie war die ältere Schwester meiner früh verstorbenen Großmutter. Stellvertretend für sie wurde Tante Gustel für mich zur Oma. Im Winter gingen wir meistens nach Frankfurt in das Café Kranzler an der Hauptwache. Es war noch ein Café alter Tradition. Man ging über dicke Orientteppiche, an Palmen in Kübeln vorbei zu den Tischen, an denen Polstersessel standen. Alles Mobiliar war im Stil des 19. Jahrhunderts. Auf einem Podest spielte eine Kapelle leichte Klassik und Operettenmelodien. Ein Stehgeiger kam auch an die Tische und Tante Gustel fühlte sich hier in ihre Jugend zurückversetzt. Sie bekam rote Bäckchen vor Aufregung, wenn der Geiger nur für sie spielte.
Für den Sommer hatten wir ein schönes Gartenlokal im nahegelegenen Odenwald entdeckt. Tante Gustel konnte zwar nicht mehr gut sehen, aber sie schwärmte von dem tollen Ausblick hinunter ins Tal.
Einmal kam ich auf die Idee, bei einem dieser Ausflüge auch ihre ältere Schwester Marie mitzunehmen. Trotz Sehbehinderung der einen und Gehbehinderung der anderen lebten beide alten Damen noch in ihrer eigenen Wohnung und konnten sich selbst versorgen. Sie waren aber oft einsam und ich wunderte mich, warum sie nicht häufiger zusammenkamen. Ich dachte, ich könnte hier eine Brücke schlagen.
An einem sonnigen Sommertag holte ich meine beiden Großtanten von zu Hause ab und wir fuhren in das bekannte Lokal im hessischen Mittelgebirge. Ich führte die alten Tantchen einzeln vom Auto an einen schattigen Tisch im Gartenlokal.
Tante Gustel wusste schon genau, was sie bestellten wollte. Ein Stück Frankfurter Kranz und ein Kännchen Kaffee. Das bestellte sie immer. Tante Marie fragte die Bedienung: Welchen Kuchen haben sie denn?
Diese zählte einige Sorten auf. Haben sie auch Käsesahnetorte?
Nein nur gebackene Käsetorte
. Dann nehme ich den Apfelkuchen mit Sahne – nein doch lieber die Schwarzwälder Kirschtorte
. Als die Bedienung gehen wollte, rief Tante Marie sie nochmal zurück: Fräulein, bringen sie mir doch lieber auch ein Stück Frankfurter Kranz.
Dann begannen die beiden Schwestern sich zu unterhalten. Das Gespräch drehte sich ausschließlich um ihre längst verstorbenen Ehemänner, über die sie sich ganz und gar definierten. Ich war nicht mehr vorhanden.
Tante Marie schwärmte von ihrem Theo, der sie immer mein liebes Kind
nannte. Er war über 30 Jahre älter als seine Frau und verdiente sein Geld mit einem Weingroßhandel. Diese Tatsache prädestinierte ihn dafür, dass er alles besser wusste als andere und seine Meinung immer die richtige war. Tante Gustels Mann August war Polizeibeamter und hatte damit automatisch das Recht auf seiner Seite.
Das anfangs ruhige Gespräch wurde immer hitziger, denn jetzt ging es um Politik. Marie: Mein Mann war Mitglied in der Deutschen Zentrumspartei und die haben wir immer gewählt
.
Theo, der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an Altersschwäche starb, konnte seinem lieben Kind
nicht mehr sagen was es jetzt wählen sollte. Die Zentrumspartei gab es nicht mehr und Tante Marie ging deshalb nicht mehr zur Wahl. Gustel: August war immer ein aufrechter Sozialdemokrat, wir haben nur die SPD gewählt.
Tante Gustel ging auch nach dem Tod von August zu jeder Wahl, denn sie hatte es einfacher, die SPD gab es ja noch.
Als ich fragte, ob sie wirklich immer derselben Meinung waren und genauso gewählt haben wie ihre Männer, sahen beide mich empört an: Was ist denn das für eine Familie, in der jeder eine andere Partei wählt? Du bist doch nicht etwa eine Emanze?
Ich dachte: Vielleicht mussten die Frauen so lange um das Wahlrecht kämpfen, weil man nicht wollte, dass alle verheirateten Männer dann automatisch eine zweite Stimme bekommen?
Ja, aber das mit dem Hitler
, das hatten sie alle nicht gewollt. Wir hatten ja keine Ahnung. Aber dein August war doch in der Partei.
Ja was hätte er denn machen sollen? Er war doch Beamter.
Ich habe gesehen, wie ihr …
Ihr habt aber auch …
… und dein Theo hat doch …
So geiferten sich die beiden Schwestern ununterbrochen an. Plötzlich waren sich die Beiden für kurze Zeit wieder einig: Ja aber diese Gammler und Hippies mit den langen Haaren, die hätte es beim Hitler nicht gegeben, der hätte sie …
. Ich hoffte, sie wussten nicht, von was sie jetzt redeten.
Meine Versuche, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, liefen ins Leere. So bestellte ich Eckes Edelkirsch
, um mit einem Prösterchen die Stimmung aufzulockern und um wieder etwas Ruhe an den Tisch zu bringen. Das brachte aber nicht viel. Das Wetteifern, wer den attraktiveren, besseren, klügeren Ehemann hatte, riss nicht ab. Die beiden alten Frauen, einzeln sehr liebenswerte Personen, waren nicht wiederzuerkennen.
Deshalb drängte ich zu einem früheren Aufbruch als geplant. Schade, ich hatte so gehofft, dass sich die Schwestern etwas näher kommen, damit sie auf ihre alten Tage nicht mehr so einsam sind. Aber gegen eine wohl lebenslange Rivalität unter Geschwistern konnte auch kein noch so guter Wille ankommen.
Jedenfalls war es das erste und letzte Mal, dass ich beide Schwestern zusammen zu einem Ausflug einlud.