Der alte Mann und die Liebe
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Ein neuer Lebensabschnitt beginnt
von Margot Bintig in einem Automobilhandel mit angeschlossener Werkstatt blieb ich noch einige Zeit in meiner Lehrfirma. Es war 1967, ich war 21 Jahre und hatte schon eine Vertrauensstellung in der Personalabteilung erworben. Ich konnte selbstständig arbeiten, und auch mit den Kollegen war die Zusammenarbeit angenehm. Kurzum, es gefiel mir hier gut. Leider war der Verdienst nicht hoch, denn allgemein waren die Löhne und Gehälter im Handwerk und Einzelhandel niedriger als in der Industrie, doch die schlechte Bezahlung konnte ich verkraften, denn mein Mann hatte ein gutes Gehalt.
Dennoch wollte ich meinen Marktwert
einmal testen. Ich bewarb mich auf eine Anzeige in der Tageszeitung, bei der das Stellenprofil wie auf mich zugeschnitten war. Auf meine Bewerbung bekam ich sofort einen Termin für ein Vorstellungsgespräch.
Es war eine mittelständische Lederwarenfabrik. Beim Vorstellungsgespräch waren der Geschäftsführer, der Prokurist und der Seniorchef anwesend. Es war ein ernstes und sachliches Gespräch, doch der Seniorchef sah mich wohlwollend an. Als es zu der Gehaltsfrage kam, pokerte ich aus dem bereits genannten Grund hoch und verlangte das Doppelte meines bisherigen Gehalts. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Das Doppelte von wenig
ist auch nicht viel
. Danach war das Gespräch mit der obligatorischen Floskel: Wir melden uns bei Ihnen
beendet.
Schon ein paar Tage später meldete sich die Firma. Ich hatte den Job! Zu meinen Bedingungen! Nun musste ich wohl oder übel die Firma wechseln, denn ein solches Angebot konnte ich nicht ausschlagen. Ich war stolz darauf, jetzt mehr zu verdienen als die ältere, gestandene Buchhalterin meiner Lehrfirma. Als Mitarbeiterin der Personalabteilung war ich zur Verschwiegenheit verpflichtet, in meiner Naivität dachte ich aber, über meine neuen Bezüge reden zu können, denn es betraf ja eine andere Firma. Meine Kolleginnen sagten zwar, dass sie sich für mich freuten, aber es gab für mich ein bitteres Ende. Nach ein paar Tagen rief mich der Chef zu sich. Es sagte, dass er jetzt ständig mit höheren Gehaltsforderungen der Angestellten überrannt werde. Dadurch, dass ich mein neues Gehalt ausgeplaudert hätte, störe ich den Betriebsfrieden und sei mit sofortiger Wirkung bis zum Ende der Kündigungszeit – die war noch zwei Monate bis zum Quartalsende – von der Arbeit freigestellt. Ich musste sofort meinen Schreibtisch räumen und ohne mich von meinen Kollegen zu verabschieden, das Haus verlassen. Statt mich jetzt über zwei Monate bezahlten Urlaub zu freuen, war ich am Boden zerstört.
Auch der Anfang in meiner neuen Firma war nicht leicht. Ich arbeitete jetzt in einem modernen Großraumbüro. Buchhalterin, Sekretärin, Fakturistin, Telefonistin, zwei Hilfskräfte und ich, alles junge Frauen, saßen zusammen in einem großen Raum. Es war für mich völlig neu, denn bisher arbeitete ich nur mit der Personalleiterin in einem Büro. Auch mein Aufgabengebiet hatte sich erweitert, denn während ich es bisher nur mit Handwerkern zu tun hatte, kamen jetzt noch Akkordarbeiter mit REFA-Zeitaufnahme und die in der Lederwarenindustrie allgemein üblichen Heimarbeiter hinzu.
Ein eigenes Zimmer hatten nur der Prokurist, der unser direkter Vorgesetzter war, und der Geschäftsführer. Das war der Sohn des Fabrikanten, der sich überwiegend um die Produktion kümmerte. Der Seniorchef und Inhaber der Firma war schon seit einigen Jahren aus dem operativen Geschäft ausgestiegen, kam aber noch fast täglich in die Firma.
Der Seniorchef war ein sehr alter Herr, er ging am Stock, machte aber trotzdem einen rüstigen Eindruck. Durch seine stets korrekte Kleidung und sein souveränes Auftreten erkannte ihn jeder als Chef, und so wurde er auch von allen genannt. Er ging durch die Abteilungen, begrüßte alle freundlich und ging dann in sein großes, mit einem wuchtigen Schreibtisch, Orientteppichen und dunklen Stilmöbeln eingerichtetes Büro.
Gleich in der ersten Woche rief er mich zu sich und fragte mich, wie es mir in seiner Firma gefiele. Er erkundigte sich auch nach meinem persönlichen Hintergrund und erzählte mir einiges über sich und wie er die Firma aufgebaut hat. Der alte Fabrikant war sehr freundlich und es kam nicht im Ansatz zu zotigen Sprüchen und Anzüglichkeiten oder den scheinbar wohlwollenden Tätscheleien, wie ich sie leider oft von alten Männern erlebt habe. Er war wie der liebe Opa, den ich nie hatte.
Als ich wieder zurück ins Büro ging, wurde ich von allen seltsam angesehen, eine Audienz beim Chef
gab es selten. Auch in der nächsten Zeit kam er immer zu mir an den Schreibtisch und fragte, ob es mir gut gehe und dass ich sofort zu ihm kommen solle, wenn es Probleme geben sollte. Die anderen begrüßte er nur freundlich im Vorübergehen.
Der Geschäftsführer, Sohn des Seniorchefs ignorierte mich völlig, hatte aber auch mit den anderen im Büro wenig Kontakt, sondern überließ alles seinem Prokuristen.
Der Prokurist war ein richtiges Ekelpaket. Wenn eine der Angestellten einen Fehler gemacht hatte, schrie er sie vor allen anderen an und gebrauchte Wörter, die den Begriff der Beleidigung erfüllten. Ich machte am Anfang durch das neue Aufgabengebiet auch einige Fehler, auf die mich der Prokurist scharf, aber mit angemessener Ausdrucksweise aufmerksam machte.
Anfangs wusste ich nicht, warum ich diese Sonderbehandlung bekam, aber es hatte Einfluss auf die Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen. Ich fühlte mich wie die Lieblingsschülerin des Lehrers, die von allen in der Klasse gemieden wurde.
Eines Tages war unsere Sekretärin krank geworden und es gab keinen Ersatz. Da erklärte sich die Haushälterin des Chefs bereit einzuspringen, denn dieser war zu der Zeit zur Sommerfrische in der Schweiz. Die Haushälterin war eine ältere, mütterlich wirkende Frau und war früher die Sekretärin des Chefs gewesen. Nachdem dieser zum zweiten Mal Witwer wurde, übernahm sie bei ihm die Stelle der Haushälterin. Sie wohnte mit ihm zusammen in seiner großen alten Villa am Stadtrand.
Als sie mich sah, kam sie auf mich zu und begrüßte mich mit Namen, obwohl ich mich ihr nicht vorgestellt hatte, und sagte, dass sie sich freue mich kennenzulernen, sie hätte schon viel von mir gehört. Mein Kopf war voller Fragezeichen. Sie machte sich aber gleich an die Arbeit, denn in dem Großraumbüro konnten wir nicht ungestört reden. Im Laufe des Tages bekam sie sicherlich mit, wie angespannt die Stimmung zwischen meinen Kolleginnen und mir war. Am nächsten Tag lud sie uns alle zu einem Imbiss nach Feierabend zu sich nach Hause ein. Keine sagte ab, denn alle wollten wohl sehen, wie der alte Chef lebt.
Wir bestaunten erst die große alte Villa und wurden dann in das Wohnzimmer der Haushälterin geführt. Sie wohnte zwar in eigenen Räumen, die in dem großen Haus integriert waren, doch sie zeigte uns trotzdem das große, ähnlich wie das Büro eingerichtete Wohnzimmer des Seniorchefs. Über dem Kamin hing ein großes Bild seiner ersten Frau. Die Frau auf dem Bild hatte eine auffallend große Ähnlichkeit mit mir. Man konnte es aber erst auf den zweiten Blick erkennen, denn sie war stark geschminkt, sehr mondän gekleidet, mit einer langen Zigarettenspitze in der Hand, während ich mich meist leger kleidete und kaum schminkte.
Die Haushälterin erzählte uns, dass die erste Frau des Seniorchefs schon in jungen Jahren gestorben und die Ehe kinderlos geblieben war. Mit seiner zweiten Frau hatte er einen Sohn, der jetzt als Geschäftsführer die Firma leitet. Nachdem auch diese Frau gestorben war, holte er das Bild seiner ersten Frau aus dem Keller und hängte es über dem Kamin auf, sehr zum Missfallen seines Sohnes. Abends sitzt er oft mit einem Glas Rotwein vor dem Kamin und starrt auf das Bild seiner ersten Frau, seiner großen Liebe.
Wir wussten jetzt alle, mit der Bevorzugung war nicht ich persönlich gemeint, sondern ich löste durch meine Ähnlichkeit bei ihm die Erinnerung an seine große Liebe aus. Vielleicht sah er in mir die Enkelin oder besser Urenkelin, die er mit seiner ersten Frau nie haben konnte?
Wir alle waren sichtlich gerührt, denn junge Frauen haben ein Faible für große, unglückliche Liebesgeschichten. Die bunten Klatschpressen sind voll davon. Die Haushälterin sagte aber lapidar, wir sollten jetzt nicht gleich vor Rührung heulen, denn diese Frau habe ihren Mann zweimal durch ihre Spielsucht in den Bankrott getrieben und ihre Affären wären damals Stadtgespräch gewesen.
Kann man das verstehen? Nach über 50 Jahren kann er seine erste Frau und eine Ehe, die eigentlich eine toxische Beziehung war, noch immer nicht vergessen? Doch Liebe kann man nicht verstehen, man muss sie akzeptieren, wie sie ist.
Wenn später der Seniorchef mich wieder besonders freundlich begrüßte, zwinkerten sich alle wissend zu und ich war jetzt anerkanntes Mitglied im Team.
Ich war nicht mehr lange in diesem Unternehmen, denn kurz darauf kam meine Tochter zur Welt und ich machte ein paar Jahre Familienpause. Das erstklassige Zeugnis von der Firma erleichterte mir später den Wiedereinstieg in das Berufsleben.