Unsere Menagerie
Tiere, so sagt man, sind für Kinder gut, damit sie lernen, Verantwortung zu übernehmen. So dachten auch meine Eltern. Als ich Ostern 1951, ich war gerade sechs Jahre alt geworden, in die Schule kam, wohnten wir in Hamburg-Klein Borstel. Damals war es dort noch sehr naturnah, im Norden der Oberlauf der Alster und im Süden der Ohlsdorfer Friedhof mit seiner reichhaltigen Vogelwelt.
Im Oktober 1951 zogen wir in das neu erbaute Pfarrhaus in der Stübeheide 177 direkt neben der Kirche. Hundert Meter weiter die Straße hinunter, war eine Querstraße. Sie bildete die Grenze zu Hoheneichen. Klein Borstel war dort zu Ende. Und so hieß die Straße auch: Borstels Ende
. Damals war Borstels Ende noch ein Lehmweg mit Straßengräben auf beiden Seiten. Insbesondere im Grabenabschnitt auf der rechten Seite in Richtung S-Bahn-Brücke stand noch dauerhaft Wasser. Dort lebten Kammmolche und Stichlinge, die mein Bruder Thomas und ich fingen und in einem Aquarium und einem Terrarium hielten. So kam ich schon früh mit der Natur in Kontakt. Auch in den Schulferien hatten wir dazu oft Gelegenheit, denn unsere Großeltern wohnten in dem kleinen Dorf NeuenkirchenLesen Sie auch: Neuenkirchen — Kapitel 1:Das Dorf meiner Großeltern
im südwestlichen Zipfel Niedersachsens.
Irgendwann bekamen wir einen gelb-grünen Wellensittich. Wir nannten ihn Titus. Da er ziemlich schnell handzahm wurde, durfte er in unserem Zimmer bald frei herumfliegen. Er setzte sich auf unsere Schultern und knabberte am Ohrläppchen. Aber noch lieber knabberte er die Tapeten an den Stellen an, wo sich die einzelnen Bahnen der Mustertapete überlappten. Sehr schnell lernte er auch sprechen. Wir brachten ihm bei, Titus ist ein lieber Piepvogel
zu sagen.
Er war sehr zutraulich und auf uns fixiert. Deshalb machte mein Vater eines Tages den Vorschlag, ihn auch mal draußen fliegen zu lassen. Natürlich wohnte die ganze Familie diesem Experiment bei. Ich nahm ihn auf die Schulter und ging vorsichtig durch die Terrassentür nach draußen. Einige Zeit blieb er dort sitzen. Aber dann flog er los. Wir riefen und lockten ihn, aber vergeblich. Bald verschwand er außer Sichtweite. Es gab bittere Tränen.
1954 zogen wir um nach Hamburg-Groß Flottbek in die Feuerbachstraße 28. Das Grundstück war aus meiner damaligen Perspektive riesig und grenzte im Norden an den noch ungeteerten, kaum befahrenen Kalckreuthweg. Jeden Tag wurde dort eine weiße Terrier-Promenadenmischung mit schwarzen Ohren Gassi geführt. – Und die Hundedame war trächtig. In wochenlanger, mühevoller Kleinarbeit traktierte nun Thomas unsere Eltern, einen eigenen Hund aus dem Wurf zu bekommen. Und er siegte.
Der kleine Hund war ein putziges Kerlchen, braun mit einem hellen Bauch und ziemlich struppig. Wegen seiner Größe schlug mein Vater vor, ihn nach ZachäusNach Lk 19,1-10 EU war Zachäus ein Oberster der Zöllner
und Reicher
. Im Kontrast dazu war er klein von Gestalt
: Er kletterte auf einen Maulbeer-Feigenbaum, um den von einer Volksmenge erwarteten Einzug Jesu in die Stadt beobachten zu können.Siehe Wikipedia.org zu benennen, dem Zöllner aus dem Neuen Testament. Denn der, so argumentierte er, sei auch klein von Gestalt
gewesen und musste deshalb, um Jesus sehen zu können, auf einen Baum klettern. – Aber Zachäus
war uns zu lang und umständlich, und so einigten wir uns auf Zach
.
Der Maschendrahtzaun zum Kalckreuthweg hatte den Krieg zwar überlebt, aber der Zahn der Zeit hatte schon kräftig an ihm genagt. Dort, wo er Bodenberührung hatte, war er fast völlig weggerostet. Damals ging unsere hundepädagogische Erfahrung gegen Null, und das wusste Zach zu nutzen. Es scherte ihn nicht, dass wir ihm verboten, durch den Zaun zu krabbeln. Und so erweiterte er seinen Horizont.
Es war Heiligabend 1955, als es an der Tür klingelte. Ein Auto hatte ihn erfasst. Wir begruben ihn noch am selben Abend im Garten. Und wieder gab es bittere Tränen.
Nach einer Trauerphase von neun Monaten beschlossen meine Eltern, wieder einen Hund anzuschaffen. Diesmal fiel die Wahl auf einen reinrassigen, rot-braunen Kurzhaar-Dackel. Der hatte noch kürzere Beine als sein Vorgänger, und da war es fast zwangsläufig, ihn auch Zach zu nennen, Zach II.
Ich kann mich noch erinnern, dass er nur widerspenstig an der Leine lief. Eines Tages kauften wir einen Bogen dickeres Papier zum Basteln, das die Verkäuferin gerollt und eingeschlagen hatte. Ich hatte mir die Rolle wie ein Muff über die Hände gesteckt. Beim Schütteln gab die Rolle einen dumpfen Ton von sich. Das fand Zach sehr beunruhigend und da ich hinter ihm ging, beschleunigte er sein Tempo. Das wiederholte ich ein paar Mal auf dem Nachhauseweg. Seitdem lief er vorbildlich an der Leine.
Dackel gelten bekanntlich als schwer erziehbar, und so konnten wir nicht verhindern, dass auch er durch den Zaun am Kalckreuthweg kroch, wenn er im Garten Auslauf hatte. Es kam wieder, wie es kommen musste. Eines Tages wurde er uns gebracht. Er war angefahren worden, aber er lebte. Wir päppelten ihn wieder auf. Aber er hatte wohl einen Dachschaden davongetragen, denn als er wieder laufen konnte, lief er immer im Kreis. Wir stellten ein rundes ledernes Sitzkissen, auch Puff genannt, in die Mitte des Zimmers, um den er seine Kreise zog. Bald war klar, dass es ein bleibender Schaden war. Und so mussten wir uns tränenreich von ihm verabschieden.
Nun war endgültig Schluss mit Hunden. Nur der braune Königspudel unseres Nachbarn Herrn Schütt blieb uns erhalten. Da er ein prämiertes Tier war, bekam er gelegentlich Damenbesuch. Dann saßen die Besitzer beider Pudel auf der Terrasse und sahen ihren Hunden beim Kopulieren zu, die dann eine gefühlte halbe Stunde zusammenhingen. Auch Thomas und ich, beide im präpubertären Alter, fanden das ganz spannend.
Am nächsten Heiligen Abend bekamen Thomas und ich zwei lustige kleine Kater, beide weiß mit einigen schwarzen Flecken, die im Weihnachtszimmer herumtollten. Natürlich schöpfte unser namensgebender Vater wieder aus seinem Bibelfundus und so wurden sie Benjamin und Naftali genannt. Aber Anfang Januar wurden sie krank und starben am Dreikönigstag an der Staupe.
Unser nächster Kater kam von einem Bauernhof in Kuddewörde. Er wuchs dort wild auf und war deshalb kein Schmusekater. Wenn man ihm mit dem Gesicht zu nahe kam, konnte es passieren, dass man afrikanische Stammeszeichen
auf die Wangen bekam. Er war ein Kartäuser-Kater, zumindest sah er so aus. Ob er wirklich reinrassig war, wussten wir nicht. Sein Fell war silbrig-grau mit einem Hauch von Blau. Da er uns an einen Berglöwen erinnerte, bekam er den Namen Puma
. Im Jahr drauf folgte noch eine Katze, und hier kam wieder der biblische Namensfundus meines Vaters ins Spiel. Er schlug Sarah
oder Lydia
vor. Aber da es keine Mehrheit für einen der Namen gab, musste ein Kompromiss her: Wir bildeten aus den beiden Namen das Kofferwort Sadia
. Der Name gefiel allen.
Es blieb nicht aus, dass Sadia im darauf folgenden Jahr trächtig wurde. Einige Katzenkinder konnten wir gut vermitteln. Aber da der Wurf zu groß war, besorgte meine Mutter eine Flasche Äther in der Apotheke. Der kam zusammen mit den nicht vermittelbaren Katzenkindern in eine gut verschließbare Blechdose. Ob das ein angenehmer Tod war? Ich glaube kaum. Aber was die Alternative gewesen wäre, hat Theodor Storm in seinem Gedicht sehr anschaulich beschrieben:
Von Katzen
Vergangnen Maitag brachte meine Katze zur Welt sechs allerliebste kleine Kätzchen, Maikätzchen, alle weiß mit schwarzen Schwänzchen. Fürwahr, es war ein zierlich Wochenbettchen! Die Köchin aber, Köchinnen sind grausam, und Menschlichkeit wächst nicht in einer Küche, die wollte von den sechsen fünf ertränken, fünf weiße, schwarzgeschwänzte Maienkätzchen ermorden wollte dies verruchte Weib.
Ich half ihr heim! – Der Himmel segne mir meine Menschlichkeit!
Die lieben Kätzchen, sie wuchsen auf und schritten binnen kurzem erhobnen Schwanzes über Hof und Herd; Ja, wie die Köchin auch ingrimmig drein sah, sie wuchsen auf, und nachts vor ihrem Fenster probierten sie die allerliebsten Stimmchen.
Ich aber, wie ich sie so wachsen sahe, ich preis mich selbst und meine Menschlichkeit.
Ein Jahr ist um, und Katzen sind die Kätzchen, und Maitag ist's! – Wie soll ich es beschreiben, das Schauspiel, das sich jetzt vor mir entfaltet! Mein ganzes Haus, vom Keller bis zum Giebel, ein jeder Winkel ist ein Wochenbettchen!
Hier liegt das eine, dort das andre Kätzchen, in Schränken, Körben, unter Tisch und Treppen, die Alte gar – nein, es ist unaussprechlich, liegt in der Köchin jungfräulichem Bette! Und jede, von den sieben Katzen hat sieben, denkt euch! sieben junge Kätzchen, Maikätzchen, alle weiß mit schwarzem Schwänzchen!
Die Köchin rast, ich kann der blinden Wut nicht Schranken setzen dieses Frauenzimmers; ersäufen will sie alle neunundvierzig! Mir selber, ach, mir läuft der Kopf davon O Menschlichkeit, wie soll ich dich bewahren! Was fang ich an mit sechsundfünfzig Katzen!
Thomas und ich wollten uns ein Meerschweinchen anschaffen und besuchten deshalb den Hamburger Fischmarkt, auf dem es alles gab. Wir hatten die Freigabe für ein Meerschweinchen, aber sie waren viel kleiner und niedlicher als erwartet. Deshalb suchten wir eine Telefonzelle auf, um die Freigabe für ein zweites zu bekommen. – Nein, keine Chance. Aber als unsere Eltern das Meerschweinchen sahen, stimmten sie doch zu, sodass wir bald ein zweites Mal den Fischmarkt besuchten. Mit den biblischen Namen war nun Schluss, wir begannen mit der griechischen Mythologie und nannten sie Zeus und Hera.
Eines Tages beschlossen wir, uns einen Gartenteich anzulegen. Wir hoben eine etwa eineinhalb mal ein Meter große Grube aus und kleideten diese mit Zement aus. Dort setzten wir ein paar Goldfische hinein. Aber komischerweise wurden es immer weniger. Schließlich mussten wir beobachten, dass Puma sich an den Teich setzte und sie mit der Pfote angelte
. So gaben wir bald die Fischzucht auf.
Stattdessen kauften wir uns auf dem Fischmarkt zwei flauschige Gössel und zogen sie groß. Sie kackten den ganzen Rasen voll, sodass man dort nicht mehr barfuß laufen konnte. Bald kippte auch der kleine Teich um, denn sie nutzten ihn nicht nur zum Baden. Als nun der Martinstag näher rückte, beschloss der Familienrat, dass etwas passieren musste. Eine der beiden inzwischen ausgewachsenen Gänse traten wir an Medizinstudenten des Christophorus-Studentenheims schräg gegenüber am Kalckreuthweg ab mit der Auflage, beide fachmännisch zu schlachten. Die andere kam bei uns auf den Tisch. Beim Essen heulten Thomas und ich. Thomas vergoss wegen der geschlachteten Gans bittere Tränen, und ich, weil ich wegen irgendetwas ausgeschimpft worden war. Die Gans haben wir aber mit Genuss gegessen.
Bei den Meerschweinchen stellte sich bald Nachwuchs ein. Wir bauten einen Wanderkäfig
aus Latten. Er hatte eine Grundfläche von einem Quadratmeter, war einen halben Meter hoch und mit Maschendraht bespannt. Das Dach konnten wir zur Hälfte aufklappen. Wenn die Rasenfläche darunter abgegrast war, verschoben wir den Käfig. Dabei mussten wir aufpassen, dass die Schweinchen mitliefen, damit ihre Beinchen nicht unter das Gestell gerieten. Später grenzten wir einen größeren Bereich mit einer Mauer in der Höhe von fünf Klinkersteinen ab. So übernahmen die Schweinchen das Mähen und düngten zugleich den Rasen.
Mit der Zeit kauften wir weitere Meerschweinchen hinzu, denn wir wollten Inzucht vermeiden. Eine der Neuen, eine schwarz-braun melierte namens Penelope, schien uns ein bisschen debil. Ihr fehlte das Fluchtverhalten. Doch Thomas kam bald empirisch hinter das Geheimnis: Penelope war blind. Aber sie bekam schönen Nachwuchs. Bald wuchs unsere Schweinerei auf über zwanzig Tiere. So konnte das nicht weitergehen. Unser Vater wusste über seine Studenten von einem Institut in der Breitenfelder Straße in der Nähe des UKEUKE = Universitätsklinik Eppendorf in Hamburg, die Meerschweinchen für ihre Forschungszwecke benötigten. So gingen wir in unregelmäßigen Abständen mit einem Korb voller Meerschweinchen dorthin und kassierten drei D-Mark pro Stück. Auch an die Firma Schwarzkopf in Bahrenfeld konnten wir welche verkaufen. Dort arbeitete nämlich ein Onkel von uns, der uns das vermittelte. Ich vermute, dass die Schweinchen dort gründlich shampooniert wurden.
Damals machten wir uns keine Gedanken über die Gefühle der Schweinchen. Ein Ereignis ist mir allerdings doch zu Herzen gegangen. Unter unserer Aufsicht ließen wir die Schweinchen frei im Garten laufen. Anschließend mussten wir sie wieder einfangen. Ein total schwarzes Meerschweinchen war damit aber nicht einverstanden. Es war noch recht jung und sehr flink. Wir hatten es Siegfried
getauft, denn wir waren inzwischen zu den Germanischen Heldensagen gewechselt. Siegfried wetzte also hinter den Apfelbaum, vor dem ich kniete und ihn zu greifen versuchte. Beim Hinterherhechten muss ich wohl die Knie etwas angehoben haben und Siegfried war, statt das Weite zu suchen, weiter um den Baum herumgelaufen. So hockte er genau unter meinem linken Knie, als ich mich wieder hinkniete. Thomas und ich hörten das Rückgrat knacken. Siegfried war sofort tot. Er bekam ein Ehrengrab an der Stelle, wo wir einst Zach I. beerdigt hatten. Wenn die Sprache auf Siegfried kommt, veräppeln mich meine Kinder heute noch als Meerschweinchenmörder. Hätte ich doch bloß nichts erzählt!
Insgesamt hatten wir in zwei Jahren bestimmt weit über 50 Meerschweinchen. Im Winter kamen sie in den Heizungskeller und mussten sich von Blumenkohlblättern ernähren, die wir auf dem Groß Flottbeker Markt von den Gemüsehändlern erbaten. Auch zwei griechische Landschildkröten überwinterten dort. Sie hießen Habakuk und Amos, nach zwei Propheten des Alten Testaments. Als wir sie im Frühjahr aus dem Winterschlaf wecken wollten, stank es erbärmlich. Eine der beiden war in ihrem Gehäuse verwest.
1960 zogen wir um nach JerusalemLesen Sie auch: Jerusalem 1960 — 1965, Kapitel 1: Wie es dazu kam
. Die Meerschweinchen haben wir wohl verkauft. Was aus den Katzen geworden ist, weiß ich nicht mehr.
Auch hier dauerte es nicht lange, bis wir wieder einen Kater und eine Katze hatten. Sie wurden wieder Puma und Sadia getauft. War es Fantasielosigkeit oder die Trauer um den Verlust der Katzen, die wir zurücklassen mussten? Ich weiß es nicht. Der neue Puma war rot-weiß und recht langhaarig. Sadia war dreifarbig. Sie bekam auch Kinder, aber wahrscheinlich nicht von Puma. Denn hinter der Erlöserkirche auf den Kuppeldächern des Suq lebte ein verwilderter, sehr misstrauischer Kater, den wir Löwe
nannten. Er beherrschte das Revier. Wir fütterten ihn an, aber er wurde nie handzahm.
Der Suq unter Löwes Revier war der Suq der Schafschlachter. Dort kauften wir frische Schafslunge, mit der wir die Katzen fütterten. Die Lunge an der Luftröhre haltend, schnitten wir mit einer Schere jeweils ein Stück davon ab und die Katzen machten dann ihre Kapriolen, um das Stück im Sprung zu erhaschen.
Auch zwei Schildkröten und ein Wellensittich gehörten bald wieder zur Familie. Die beiden Schildkröten tauschte ich gegen zwei Blumenkärtchen und nannte sie Obadja
und Haggai
nach zwei Propheten des Alten Testaments. Die Blumenkärtchen waren gepresste und auf eine Karte geklebte Wiesenblumen aus Palästina, die als Souvenir an Touristen verkauft wurden.
Ein blauer Wellensittich pickte eines Tages an unsere Fensterscheibe und bat um Einlass. Er war ganz zerzaust, wahrscheinlich von Spatzen. Wir öffneten das Fenster und ich fing ihn mit dem Einkaufsnetz meiner Mutter ein. Dann setzte ich ihn in den Bücherschrank hinter die Scheibe und flitzte sofort zum Haarschneider, denn der hatte auch zwei Wellensittiche, und gab mir etwas Futter. Den Käfig schenkte uns ein Klassenkamerad von Thomas. Wir nannten ihn wieder Titus, Titus II. Heute ist mir diese Fantasielosigkeit eher peinlich, aber vielleicht steckt dahinter auch ein höherer Sinn. Als ich bereits in Kairo zur Schule ging und Thomas noch in Jerusalem war, überlegten wir, ob ich ein Wellensittich-Weibchen in Kairo kaufen und zu Zuchtzwecken mit nach Jerusalem bringen könnte, denn die Wellensittiche waren in Kairo sehr preiswert. Aber das zerschlug sich, als Thomas mir per Brief die Todesanzeige von Titus II. schickte. Er lag eines schönen Sonntagmorgens tot in seinem Käfig.
Gelegentlich kletterten wir mit der langen Leiter vom Dach des Kreuzgangs aus aufs Kirchendach. Dabei entdeckten wir im Einlauftrichter am oberen Ende des Fallrohres, das das Wasser des Kirchendaches aufnimmt, das Nest einer Türkentaube mit einem Gelege von zwei Eiern. Sie brütete eifrig und die Jungen schlüpften und wuchsen heran. Doch bevor sie flügge waren, regnete es. In Jerusalem regnet es selten, zumal im Sommerhalbjahr. Aber dieser Regen war heftig. Und so starteten wir eine einmalige Rettungsaktion und holten die Jungen aus dem Nest. Nach dem Regen setzten wir sie wieder zurück.
Vom flachen Dach des Kreuzganges aus, der an unser Haus grenzte, konnte man hinüberblicken in einen Khan, eine alte KarawansereiEine Karawanserei (veraltete Schreibweise auch Karavanserai, aus persisch كاروانسرا kārwānsarā Karawanenhof
, türkisch kervansarayı) war eine ummauerte Herberge an Karawanenstraßen. Reisende konnten dort mit ihren Tieren und Handelswaren sicher nächtigen und sich mit Lebensmitteln versorgen.Siehe Wikipedia.org. Von dort aus flogen immer wunderschöne weiße Brieftauben auf und drehten ihre Kreise über den Kuppeldächern der Altstadt. Diese Tauben weckten unsere Neugier. Der Taubenbesitzer war ein älterer Mann namens Ibrahim. Er war bereit, uns welche zu verkaufen. Nun musste ein Stall mit Bruthöhlen her. Der entstand in der Südost-Ecke des Kreuzgangdaches.
Unsere Tauben vermehrten sich durch Zukauf und Geburt. Eine war uns sogar zugeflogen. Zur Zeit von Titus‘ Ableben hatten wir zwölf Tauben aller Sorten. Etwa die Hälfte waren die eleganten Brieftauben. Ein Taubenpaar zog es vor, auf dem Dach der Grabeskirche zu brüten. Aber aus dem Gelege ist leider nichts geworden. Als auch Thomas nach Kairo kam, lösten meine Eltern den Schlag auf und verschenkten die Tauben an Talitha KumiTalitha Kumi (arabisch طاليتا قومي, DMG Ṭālīṯā Qūmī) in Bait Dschala ist eine renommierte Schule im palästinensischen Autonomiegebiet. In Talitha Kumi werden derzeit ungefähr 900 Schüler vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse von über 50 Lehrern nach dem palästinensischen Lehrplan unterrichtet.Siehe Wikipedia.org.
Ich wundere mich noch heute, welche Freiheiten uns unsere Eltern auch in Jerusalem mit den Haustieren ließen, obwohl doch ziemlich bald klar war, dass wir nach Kairo zur Schule gehen sollten. Denn dann blieb die Arbeit an ihnen hängen. Sie hätten sogar nichts dagegen gehabt, wenn wir uns einen Esel gekauft hätten. Die waren das einzige TransportmittelLesen Sie auch: Kairo 1961-1966, Kapitel 3Erste Eindrücke
in den Suqs der Altstadt, schafften Waren hinein und den Müll wieder hinaus. Thomas und ich besuchten einige Male den Eselsmarkt, der einmal wöchentlich außerhalb der Stadtmauer am Stephanstor abgehalten wurde, und recherchierten Preise. Aber zu einem Kauf kam es dann doch nicht. Die Vernunft siegte angesichts der Fragen zur Unterkunft und Versorgung.
Im Oktober 1961 kam ich in das Schülerheim der Deutschen Schule in KairoLesen Sie auch: Kairo 1961-1966, Kapitel 1Auf nach Kairo
und mein Bruder folgte im Jahr darauf. Auch dort konnten wir Haustiere halten. Ich hatte mit einem Freund ein Bienenvolk eingefangen, das wir auf dem Dach des Heims unterbringen konnten. Dann fingen wir noch zwei junge MilaneLesen Sie auch: Kairo 1961-1966, Kapitel 6Freizeit in Kairo
und eine Aaskrähe ein und zogen sie groß. Aber langsam begann eine Zeit, in der wir uns für anderes interessierten und so verebbte das Interesse an Tieren bald.
Als meine Frau und ich viele Jahre später eine Familie gründeten und nach Norderstedt zogen, erinnerte ich mich wieder daran, wie meine Eltern dachten und handelten: Tiere sind für Kinder gut, damit sie lernen, Verantwortung zu übernehmen. Unser Kater Samson hat uns 18 Jahre lang begleitet und uns viel Freude gemacht. Und unser Jüngster hat auch einige Meerschweinchen besessen.