Generation Boomer – Warum sind wir so viele?
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg kamen in Deutschland deutlich weniger Kinder zur Welt als in den Friedenszeiten vor Beginn des Krieges: Viele Frauen waren verwitwet oder fanden keinen Mann, die zurückkehrenden Männer waren versehrt an Leib und Seele, und mindestens während der „schlechten Zeit“ bis zur Währungsreform 1948 waren alle froh, wenn sie selbst irgendwie überlebten: Sie schafften sich sicherlich nicht freiwillig noch durchzufütternde Kinder an. Erst nach der Währungsreform begann langsam das „deutsche Wirtschaftswunder", der Bevölkerung ging es zunehmend besser, die Jahrgänge, die zu jung waren, um während des Krieges zum Militär eingezogen zu werden, rückten langsam nach und die Geburtenraten begannen langsam bis 1965 zu klettern. Dann dürften zwei Effekte zugeschlagen haben: Zum einen ist eine bekannte Tatsache, dass wohlhabende Gesellschaften weniger Kinder produzieren – und der Wohlstand war seit dem Kriege unbestritten deutlich angestiegen. Zum anderen war die Antibabypille für zunehmende Gesellschaftskreise zugänglich – und wurde genutzt. Das führte dann zum bekannten „Pillenknick“ mit stetig abnehmenden Geburtenraten, die sich ab etwa 1975 auf einem Niveau von etwa 1,5 Geburten pro Frau im gebärfähigen Alter stabilisierten. Nur im Osten gab es noch ein „Zwischenhoch“, das aber bis zur Wiedervereinigung 1990 auf sehr ähnliche Zahlen wie im Westen abfiel.
Der geschilderte Verlauf lässt sich an der folgenden Tabelle ablesen:
- Jahr:
- 1901
- 1935
- 1955
- 1960
- 1965
- 1970
- 1975
- 1980
- 1985
- 1990
- Deutschland (West):
- 4,17
- 2,08
- 2,11
- 2,35
- 2,51
- 2,02
- 1,45
- 1,45
- 1,28
- 1,45
- Deutschland (Ost):
- –
- –
- 2,35
- 2,33
- 2,48
- 2,19
- 1,54
- 1,94
- (1,73)
- 1,52
Es kam also zu einem „Geburtenboom“ bis etwa 1965, die damals Geborenen bezeichnet man deshalb auch etwas flapsig als „Babyboomer“, heute auch kurz „Boomer“. Zu dieser Generation zählen auch ich, 1960, und meine Schwester, 1964 geboren.
Von Beginn an waren Gesellschaft und Politik mit uns völlig überfordert: Natürlich waren viel zu wenige Lehrer für uns da und auch ein Konzept, wie man mit den Schülermassen umgehen sollte, fehlte – man hatte schließlich nur sechs Jahre Zeit gehabt, sich Gedanken zu machen. Also pferchte man uns in Klassen mit oft über 40 Kindern, viele Schulstunden entfielen aufgrund von „Lehrermangel“. Das fiel auch zunächst nicht sonderlich auf: Direkt nach dem Kriege durften viele Lehrer aus politischen Gründen nicht weiter unterrichten, viele waren gefallen, daher herrschten schon länger solche Zustände, nun dauerte es eben nur etwas länger, bis sie sich wieder normalisierten.
Unsere Probleme hörten aber nicht auf, als wir die Schule verließen: Natürlich gab es keine Lehrstellen für uns, die Universitäten waren überfüllt und reagierten mit einem unzählige Studienfächer abdeckenden Numerus Clausus. Über andere Ausbildungskonzepte hatte sich niemand Gedanken gemacht, alle Verantwortlichen wurden von unserer plötzlichen Schwemme überrollt, wie sollte es auch anders sein, schließlich hatte man seit unserer Geburt nur gerade anderthalb bis zwei Jahrzehnte Zeit gehabt, sich auf uns vorzubereiten! Und eigentlich hatten wir ja selbst Schuld, was sind wir auch so viele?
Beim Berufseinstieg hatte es natürlich wenig Sinn, über das Gehalt zu diskutieren, schließlich mussten wir froh sein, überhaupt etwas zu finden. Auch im Beruf selbst war es um unsere Karrierechancen selbstverständlich infolge der überall gegenwärtigen Konkurrenz wesentlich schlechter bestellt. Das führte zu schlechteren Gehältern, als wenn wir weniger gewesen wären. Und das führte damit natürlich auch zu geringeren Einzahlungen in die Rente. Aber daran waren wir ja eigentlich selbst Schuld, was sind wir auch so viele?
Überhaupt, die Rente: Einst von Bismarck eingeführt, um der verbotenen Sozialdemokratie das Wasser abzugraben, war sie ursprünglich so konzipiert, dass jeder Einzahler seine eigene Rente finanzierte. Die Rentenanstalt verwahrte und verwaltete die Gelder nur, bis es zur Auszahlung kam.
Dieses System existierte im Prinzip auch noch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, war aber stark angeschlagen: Die Nazis hatten, um ihren Krieg zu finanzieren, unter anderem die Notenpressen angeworfen. Gleichzeitig war das Warenangebot kriegsbedingt eher zurückgegangen. Stehen aber weniger Waren mehr Geld gegenüber, kommt es im Allgemeinen zu Preissteigerungen, also einer Inflation. Die unterdrückten die Nazis aus Furcht vor der Reaktion der Bevölkerung künstlich, indem sie die Preise festschrieben.
Nach dem Kriege entfielen die künstlichen Preisfestsetzungen. Mit Verzögerung machte sich nun die dadurch über Jahre verdeckte Inflation bemerkbar und das Geld verlor rapide an Wert – so stark, dass man vielerorts auf Ersatzwährungen wie Zigaretten zurückgriff. Die Währungsreform trug dem Rechnung, indem das alte Geld nur zu einem sehr geringen Prozentsatz in neues umgetauscht wurde.
Das betraf aber nicht nur den einfachen Bürger direkt, der so praktisch alle seine Ersparnisse verlor, soweit er sie nicht notgedrungen bereits in den Notjahren zwischen Kriegsende und Währungsreform aufgebraucht hatte. Das betraf auch die Rentenanstalt, die auf einen Schlag wie schon bei der Hyperinflation 1923 einen großen Teil ihrer Rücklagen verlor – nominell zumindest, denn real trat der Verlust durch die Geldentwertung ja bereits in den Jahren zuvor ein.
Gleichzeitig galt es nicht nur die normalen Altersrentner, sondern auch die vielen Kriegswitwen und -waisen zu versorgen, also weit mehr Ausgaben zu begleichen als ursprünglich vorgesehen. Das Prinzip, dass jeder seine eigene Rente zuvor einzahle, ließ sich nicht mehr aufrechterhalten.
In dieser Situation griff man 1957 auf einen Plan Wilfrid SchreibersSchreibers Plan sah allerdings auch eine Versicherungspflicht für Selbstständige und Besserverdienende vor: Vollmitglied der Rentenkasse des deutschen Volkes ist kraft Gesetzes jeder Bürger der Deutschen Bundesrepublik, der – als Arbeitnehmer oder Selbständiger – Arbeitseinkommen erzielt.
von 1955 zurück, der vorsah, dass die Ausgaben durch die laufenden Einnahmen von den Folgegenerationen beglichen würden.
Dieser Plan hatte in den Augen der damaligen Politiker sicherlich Vorteile: Dadurch fielen die staatlichen Unterstützungsleistungen für die Auszahlungen der Rentenversicherung fort, die bisher den Bundeshaushalt stark belastet hatten. Quasi durch einen Rechentrick konnte man nun viel freier wirtschaften – auch wenn das natürlich im Grunde auf ein riesiges Geschenk aus der Rentenkasse in die Staatskasse hinauslief.
So richtig verkehrt war der Plan ja auch nicht: Dadurch, dass das eingenommene Geld unmittelbar wieder ausgegeben wurde, entfielen zukünftige Inflationsrisiken. Aber was würde passieren, wenn die Leute auf einmal deutlich weniger KinderSchreiber vertrat dazu die Ansicht: Wer kinderlos oder kinderarm ins Rentenalter geht und, mit dem Pathos des Selbstgerechten, für gleiche Beitragsleistungen gleiche Rente verlangt und erhält, zehrt im Grunde parasitär an der Mehrleistung der Kinderreichen, die seine Minderleistung kompensiert haben. Es gibt allen Spöttern zum Trotz ein gesellschaftliches ‚Soll‘ der Kinderzahl, eben jene 1,2 Kinder, die jeder Einzelmensch haben muß, damit die Gesellschaft am Leben bleibt und auch für den Unterhalt ihrer Alten aufkommen kann.
bekämen? Diese Bedenken soll Bundeskanzler Adenauer seinerzeit mit den legendären Worten „Kinder bekommen die Leute immer“ fortgewischt haben. Ich habe für diese Aussage keinen richtigen Beleg finden können, auch wenn sie überall wieder auftaucht – sicherlich, weil sie die Einstellung Adenauers in jedem Fall sehr gut wiedergibt.
Nun ist 1957 ja schon ein paar Monate her, genügend lange zumindest, um bei entsprechendem politischen Willen die Rente zwischenzeitlich wieder auf das Prinzip umzustellen, dass jede Generation von ihren eigenen Einzahlungen lebt – oder zumindest auf ein gegen den Rückgang der Geburtenzahlen unempfindlicheres Mischmodell. Aber quer durch alle Parteien scheint der Konsens geherrscht zu haben, am Umlagemodell nichts zu ändern, obwohl seit Jahrzehnten absehbar war, dass irgendwann die Boomer die Rente erreichen würden, die von den zahlenmäßig kleineren Nachfolgegenerationen getragen werden müsste.
Stattdessen beschneidet die Politik in seltenem Einklang über alle Parteien hinweg seit 1984 kontinuierlich das Standardrentenniveau, das 1977 noch bei etwa 60 % des Durchschnittseinkommens aller Arbeitnehmer gelegen hatte und heute bei 48 % gestoppt ist – unter fortdauerndem politischen Streit. Wir Boomer haben also die hohen Renten der Vorgenerationen bezahlt, bekommen aber selbst eine deutlich niedrigere. Natürlich haben wir wieder selbst schuld, sogar noch über sechs Jahrzehnte nach unserer Geburt: Warum sind wir auch so viele?
Da nutzt es auch nicht viel, dass wir durch unseren Abgang in Rente endlich einem anderen Vorwurf ausweichen: Wir blockieren die Karrieren aller nachfolgenden Generationen, weil wir ja alle höheren Positionen besetzen – warum sind wir auch so viele?
So langsam sollte für die Politik absehbar sein, dass wir in Zukunft auch Einrichtungen wie Krankenhäuser und Altenheime vermehrt brauchen. Aber ich bin mir sicher, wenn ich wie meine Mutter mal mit 90 Jahren einen Altenheimplatz brauche, wird das noch viel schwieriger als heute, schließlich konnte niemand nach nur neun Jahrzehnten diesen immens gestiegenen Bedarf vorhersehen und schuld bin eigentlich auch ich und meine Generation: Warum sind wir auch so viele?
Ehrlich gesagt: So richtig viele Gedanken darum, was mein Zur-Welt-Kommen für die Gesellschaft bedeutet, habe ich mir damals neun Monate vor meiner Geburt nicht gemacht, ich bitte das zu entschuldigen, zu dem Zeitpunkt hatte ich keine Möglichkeit zu erfahren, dass wir so viele werden würden. Und nach diesem Zeitpunkt nahmen die Dinge eben ihren bekannten Verlauf, den ich aber auch nicht mehr stoppen konnte. Genaugenommen weiß ich nicht einmal, wie ich das neun Monate vor meiner Geburt hätte stoppen sollen?
Wenn ich aber nicht daran schuld bin, möchte ich mich zukünftig auch Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen verweigern: Ich kann genauso wenig für die Situation wie die nachfolgenden Generationen! Und jetzt müssen wir eben sehen, wie wir die Suppe auslöffeln. Ich habe daran in überfüllten Klassen, überfüllten Seminaren an der Uni, überfüllten Berufen und dergleichen mehr mitlöffeln müssen, jetzt werde ich langsam zum Löffeln zu alt und ihr, liebe Nachfolgegenerationen, müsst mitlöffeln!
Da außerdem die Geburtenrate seit meiner Generation auf niedrigem aber konstantem Niveau verharrt, wird einst die Rente eurer Generation auf im Verhältnis genauso kleine Nachfolgegenerationen treffen. Das Problem erledigt sich also nicht von selbst, wenn wir – um bei der Löffelei zu bleiben – den Löffel abgegeben haben, sondern es betrifft alle derzeit bereits lebenden Generationen in gleicher Weise: Findet ihr also keine Lösung für uns, gibt es genauso wenig eine für euch.
Die Steigerung des Rentenalters ist aus meiner Sicht jedenfalls dafür keine Lösung. Sie trägt nur der Tatsache Rechnung, dass wir immer älter werden und hoffentlich auch mehr gesunde „junge“ Jahre haben. Dieses Mehr an gesunden jungen Jahren kann aus meiner Sicht ein höheres Rentenalter legitim „abschöpfen“, Jahre, die wir dank fortgeschrittener Medizin scheintot noch weiter am Leben bleiben, dagegen nicht. Dreht man also zu sehr an der Schraube des höheren Rentenalters, um auch die Tatsache, dass wir mehr sind, damit abzufangen, sorgt das zwar auch für bessere Finanzierbarkeit der Renten, aber nicht dadurch, dass wir sie durch mehr Rentenbeiträge stabilisieren, sondern dadurch, dass wir aus gesundheitlichen Gründen vor dem Rentenalter aufhören müssen und deswegen unsere Rentenansprüche sinken – falls wir die Rente dann noch erreichen, statt durch unseren vorherigen Tod noch mehr einzusparen.
Allerdings, wenn ich jetzt von höherem Rentenalter und dadurch ggf. sinkenden Rentenansprüchen schreibe: Eigentlich betrifft das nicht mehr mich, sondern eure nachwachsende Generation. Denn ich gehe spätestens im nächsten Jahr in Rente und damit in die ansteigende Rampe des Rentenalters. Daran wird kaum ein Politiker jetzt noch zu drehen wagen – und falls doch, reiche ich meinen Rentenantrag ein, bevor entsprechende Gesetze gültig werden. Ihr entscheidet also ab jetzt bei einer Anhebung des Rentenalters über euch selbst, nicht über mich.
Den oft aus der jüngeren Generation gehörten Gedanken, für euch sei dann eh keine Rente mehr da, halte ich übrigens für mathematisch verkehrt: Soweit man das steigende Lebensalter durch steigendes Rentenalter sauber abfängt, stehen wegen der gleichbleibenden Geburtenraten jedem von euch im Rentenalter genauso viele Erwerbstätige gegenüber wie jedem von uns. Und ihr habt sogar noch Zeit, an diversen Schrauben zu drehen: Ihr könnt mehr Kinder bekommen oder mehr Arbeitssuchende aus anderen Ländern nach Deutschland einladen, die unsere und später eure Renten zahlen.
Und jetzt beende ich diesen Artikel, um zukünftig Kreuzfahrtschiffe, Ausstellungen, Arztpraxen und Fortbildungskurse überzubevölkern – soweit ich mich nicht in meine Werkstatt zurückziehe, um an Oldtimern zu schrauben, an meiner Familiengeschichte schreibe oder an einer Geschichte der Fototechnik, an der Software meines zwölfjährigen Rechners schraube, meine alte Mutter unterstütze oder erledige, was sonst noch so anliegt.