Weihnachten bei den Flüchtlingen
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die deutsche Bevölkerung aus Pommern auf abenteuerliche Weise in den Westen gelangt. Wenn man dort keine Verwandten hatte, die einen freudig aufnahmen, dann lebte man noch jahrelang in prekären Verhältnissen. Aus einer solchen Umgebung stammt folgender Erfahrungsbericht einer Pommernfamilie.
Meine erste Weihnachtsfeier erlebte ich im Alter von fünf Jahren und ich erinnere sie so:
Trotz der eigentlich schlechten Zeit gab es auch in dieser Gegend Weihnachtsfeiern. Bei den noch ärmlich lebenden Flüchtlingen waren die dabei verteilten Geschenke nicht üppig, es gab Socken und so. In unserer Familie unterschied sich die Weihnachtszeit bisher nicht vom Alltagsleben. Dieses Mal ging Mutter mit mir zu einer Weihnachtsfeier. Vater hatte Mutter dazu gedrängt. Auf dem Hinweg meckerte Mutter vor sich hin. Ihr passte das nicht und ich hatte den Eindruck, als sei es ihr peinlich, mit mir dorthin zu gehen. Während ihrer dunklen Vorahnungen meinte sie: „Alles sinnlos!“
Was geschah bei der Feier? Es war vermutlich eine Betriebsweihnachtsfeier am Arbeitsort meines Vaters. Man sprach dort englisch.
Was eine Weihnachtsfeier ist, wusste ich nicht. Man hatte versäumt, mir das zu erklären, und man hatte in unserer Familie, wenn überhaupt, für mich unmerklich Weihnachten gefeiert. Das rituelle Verteilen von Geschenken kannte ich nicht.
Diese Feier fand in einer Baracke statt. Wir saßen alleine an einem kargen Holztisch, ohne Gedecke, aber in der Mitte eine Vase mit trockenen Tannenzweigen. Dann kam der Weihnachtsmann. Roter Mantel, weißer Rauschebart und Geschenksack.
Wir Kinder mussten auf der kleinen Bühne anstehen. Jedes Kind kam dran. Ich bekam eine Rute und war erschrocken und sehr enttäuscht.
Dann griff der Weihnachtsmann nochmal in den Sack und ich bekam ein silbernes Flugzeug. Mit vier Motoren. Vor Freude fiel ich fast um. An so was Tolles hatte ich nicht gedacht. Mein schönstes Geschenk. Stolz ging ich zu Mutter an den Tisch. Dabei ließ ich das Flugzeug mit meinem Arm fliegen. „Brummmm.“
Mutter guckte ungläubig. Am Tisch hielt ich das Flugzeug hoch und betrachtete es stolz. Mutter ging wortlos weg und kam gleich darauf wieder. Sie nahm mir das Flugzeug aus der Hand. „Das solltest du nicht kriegen, der andere Junge weint jetzt. Ich gebe ihm das zurück.“
Noch war ich stumm vor Schreck. Als sie zurückkam, gab sie mir das für mich vorgesehene Geschenk, einen Lappen.
Nun weinte ich. Vielleicht zu laut. Mutter befahl sofort: „Sei still und benimm dich!“ Sie half mir mit Ohrfeigen.
Sofort hörte ich wohl nicht auf zu weinen. Meine Enttäuschung war zu groß. Dann betrachtete ich meinen Geschenklappen und beruhigte mich. War ja klar, dass ich nichts Schönes geschenkt bekam.
Mutter fügte meinen fatalistischen Gedanken verbal hinzu: „Das ist dein Geschenk, was Besseres kriegst du nicht. Finde dich damit ab!“
Es mag sein, dass die englischsprachigen Eltern mit dem enttäuscht weinenden fremden Jungen Mitleid hatten und mir auch so ein Flugzeug zukommen lassen wollten. Nun wollte ich aber keines mehr, weil ich glaubte, dann nochmal enttäuscht zu werden.
Mutter verließ mit mir kurz nach diesem Geschenkeunfall die Feier und beschimpfte mich: „Mit dir kann man nirgendwo hingehen. Du kannst dich einfach nicht benehmen. Ich wollte da von Anfang an nicht hin. Ich gehe mit dir nie mehr irgendwo hin!“ Für Mutter waren Vater und ich an dem Desaster schuld. Auf die Idee, mich zu trösten, kam sie nicht, schließlich hatte ich sie blamiert.
Auf dem Rückweg stolperte ich geknickt neben ihr her, deshalb gab es vermutlich keine weiteren Ohrfeigen.
Damals und dort gaben die Eltern dem Weihnachtsmann die Geschenke zum Verteilen. Der Mann musste dem richtigen Kind das vorgesehene Geschenk überreichen. Aus heutigem Blickwinkel lässt sich sagen, ob er nach dem Aushändigen der Rute so viel Mitleid mit dem traurig erschreckten Kind hatte, dass er reflexartig wieder in den Geschenksack griff, oder ob die Geschenkeverwechslung einfach der Super-GAU für eine Weihnachtsbescherung war, bleibt unbekannt. Bei einer Massenbescherung kann so was vorkommen. Allerdings tröstet man dann das enttäuschte Kind. Mutter war dazu nicht in der Lage. Ihr Trost war Prügel bis zu meinem Verstummen – „nur ein ruhiges Kind ist ein gutes Kind“. So waren die Erziehungsregeln der NS-Zeit, in der meine Mutter erzogen wurde.
Es war für fast ein weiteres Jahrzehnt dann auch meine letzte Weihnachtsfeier.
Die Rohheiten aus der NS- und Kriegszeit waren noch nicht überwunden. Mein erstes richtiges Weihnachten verbrachte ich in der Studienzeit mit Kommilitonen. Das hatte auch wieder einen Haken, wir waren alle der Auffassung, dass demonstrativer Konsumverzicht zum Konsumfest Weihnachten nachhaltiger sei. So kann man sich selbst im Wege stehen. Das der Weihnachtsmann eigentlich die Werbefigur eines Kaltgetränke-Herstellers war, merkte ich erst viel später. Die in den Medien beschworene so genannte Weihnachtsromantik erschloss sich mir nie.


