Der kleine Finger war ab …
Mit fünfzehn Jahren wurde ich aus meiner naturhaften Umgebung auf Gut Sierhagen bei Neustadt jäh in die so schroffe, gefahrvolle Welt eines Bergmanns katapultiert.
Vater entschied das so: Du kannst den Beruf des Bergmanns erlernen, hier im Norden finden wir keine Lehrstelle für dich. Du kannst dort auch viel mehr verdienen als Lehrling hier und wir, deine Eltern, bekämen dann obendrein auch einmal im Jahr Debutatkohle per Bahn geschickt.
Eine fremde Welt tat sich für mich auf, hart und extrem bis auf die Knochen. Warum habe ich mir diese Entscheidung damals, 1952, bloß so aufzwingen lassen? Von Vaterliebe war nichts zu spüren, Mutter hatte zu schweigen, musste alles akzeptieren. Sie weinte heimlich viele Tränen. Nun, etwas wie Abenteuerluft spürte ich dann doch, wollte dem Vater das auch beweisen und war bald gefangen von der Faszination des Schwarzen Goldes
, dessen Entstehung einst vor Millionen von Jahren geschichtlich aus riesigen Urwäldern begann und zu endlosen Kohleflözen (das Ruhrgebiet) zusammen gepresst wurde.
Dieses Schwarze Gold
abzubauen wurde nun für fünf Jahre mein schweißtreibendes und zu oft auch blutiges Schicht-für-Schichterleben
in beinahe 850 Metern Tiefe in den fast endlosen Stollenvortrieben. Bei anstrengenden Schichten mit Kohlenstaub und vorwiegend stickiger Luft musste das Hangende
, die steinerne Decke über dem Kohleflöz, nach dem Abbau der Kohle mit schweren Presslufthämmern und großen kurzstieligen Schaufeln, danach mit tausenden und vielen Kilos schweren Stahlstempeln und Stahlkappen gesichert werden.
Bei dieser mühsamen Tätigkeit stürzte aus eigener Unachtsamkeit ein bereits aufgestellter Stempel gegen meine rechte Hand. Ich schrie laut auf, zog vorsichtig den ledernen Handschuh ab und sah den kleinen Finger der rechten Hand nur noch stark blutend an einem kleinen Hautfetzen hängen. Mit höllischen Schmerzen und dürftigem Notverband versorgt trat ich die vier Kilometer lange Hauptstrecke zum Förderturm der Zeche Lohberg 1/2 an, permanent daran denkend, dass ich wohl nie mehr mein geliebtes Hohner-Akkordeon würde spielen können, wenn der Kleine Mann
für einen Oktavgriff auf der Akkordeontastatur an meiner rechten Hand fehlte.
Hier kürzte ich weitere angstvolle Gedanken und Gefühle ab und wurde am Hauptschacht nach ungefähr zwei Stunden Fußmarsch und der staubigen Förderkorbausfuhr Übertage auf dem Schachtgelände von den Sanitätern eines bereits wartenden Krankenwagens mit Sirene und Blaulicht ins städtische Krankenhaus Dinslaken gefahren. In der Notambulanz von einem Mann mit den Worten im typischen Jürgen-von-Manger-Dialekt
empfangen: Junge, da haste aber wat am Pech gehabt, den Finger kannste am wegschmeißen und von ein großet Glück reden, dat dat mit dein
– Gerade war er im Begriff, den restlichen Hautfetzen mit einem Skalpell zu durchtrennen, als sich in diesem Moment die Rolltür zur Notaufnahme öffnete und der Chef der Chirurgie den Raum betrat und den Sani in dritter Person befragte: vor-Kohle-malochen
für eine längere Zeit für ein schönet Krank-am-feiern
is!Kann er mir vielleicht mal erklären, was er da gerade vorhatte? Wir wollen doch wohl nicht annehmen, dass er dem jungen Mann ohne fachliche Beurteilung seinen Finger abschneiden wollte?
Dieser stotterte höchst verlegen und hochrotem Kopf: Ich wollte doch nur …!
– Schluss damit, was er wollte? Kein Wort mehr!
, knurrte dieser für mich Gott in Weiß
erzürnt.
Die folgenden gut zwei Stunden konnte ich nun ärztliche Filigranarbeit bewundern, wie mein kleiner Finger wieder nach einer Betäubungsspritze und desinfizierender Jodbepinselung angenäht wurde und danach unter einem dicken Gipsverband verschwand.
Für ganze sechs nicht enden wollende Wochen als Linkshänder und wie man damit ziemlich eingeschränkt leben kann, was körperliche Hygiene und so fort, aber besonders meine damals geliebte Raucherzeremonie erschwerte, wurde mir dann doch schnell klar und bekam im Krankenhaus die Ansage: In zwei Wochen kommt er bitte zur Kontrolle
meinte lächelnd der Chefarzt, dann sehen wir weiter, ob seine OP des kleinen Fingers Erfolg hatte, Ok?
Die folgenden Wochen wurden natürlich im Bemühen akut, alles in der Heilphase mit Links
machen zu müssen und auch die Erkenntnis: Rechtshänder bleibt Rechtshänder. Irgendwann war auch das geschafft und mir wurde der mittlerweile unansehnliche harte Gipsverband mit vielen Kritzeleien der Stubenfreunde darauf entfernt. Entsetzt sah ich: Das war mal mein kleiner Finger? Der hatte doch mehr eine befremdliche Ähnlichkeit mit einem zu dick geratenen weißlichen Wurm mit noch restlicher blutiger Nagelkruste, und außerdem hatte der unterm Gips die ganze Zeit scheußlich gejuckt, ohne dass ich daran kratzen konnte.
Die anschließende sogenannte Reha-Phase ist erinnerungswürdig. Eine mehr als resolute DRK-Krankenschwester nahm mich in die Kellerräume mit, wo es stark nach Desinfektionsmitteln roch. Sie drückte mir einen großen grauen Zinkeimer in die linke Hand, den ich nun unter einem Wasserhahn langsam mit Wasser füllen sollte. Der tiefere Sinn und Zweck dieses Reha-Gedankens war nichts anderes, als meinen kleinen Finger zu aktivieren, was nach vielen, geduldig gefüllten und sofort wieder entleerten Wassereimern in den nächsten Wochen dazu führte, ganz behutsam dazu beizutragen, den steif gewordenen unansehnlichen Kleinen Mann
ins rechtshändische Leben zu integrieren. Langsam spürte ich wieder ein Hoffen auf ein Leben mit ihm.
Seinen Retter traf ich erst nach einigen Wochen auf der Station wieder, wobei er mich befragte: Nun, wie geht’s denn dem jungen Mann? Zeigt er mir bitte einmal unser Kunstwerk?
Ich antwortete ihm: Ich übe täglich auf meinem Akkordeon das noch etwas eingeschränkte Spiel auf den Tasten und möchte mich sehr bei Ihnen bedanken. Ganz langsam kann ich ihn wieder mitbenutzen!
Er lächelte: Na, denn haben wir ja noch mal richtig Glück gehabt. Alles Gute, junger Mann, und ich will ihn hier nicht wieder sehen!