Nachkriegskindheit in Ost-Berlin
Kapitel 4
Gesund, doch ungeliebt: Milch und Lebertran
Milch und Lebertran waren die Zauberwörter der damaligen Zeit, in den 1950er Jahren.
Viele Kinder, ich auch, waren von der Mangelkrankheit Rachitis bedroht und dagegen gab es eben einen oder einen halben Liter Milch am Tag ohne Marken und zum Nachtisch dreimal am Tag einen Löffel Lebertran. Zweimal in der Woche ging ich mit meiner Mutter zum „Turnen“ so nannte sich das damals. Wir waren immer mehr Kinder und Mädchen und Jungen zusammen. Zuerst mussten wir uns bis auf Hemd und Unterhose ausziehen, dann wurden wir in einen Raum mit Rotlicht gesteckt. Wir hatten natürlich alle eine Schutzbrille auf. Die Prozedur dauerte nicht lange, ich denke vielleicht fünf Minuten. Ich mochte es, in dieser trockenen Wärme zu sitzen. Danach kamen wir dann, wie ich immer sagte, in einen Brutkasten. Das war ein Holzkasten mit geschützten Rotlichtlampen, die auf den Rücken schienen. Man nennt es wohl Höhensonne-Gerät. Danach mussten wir die Zehen bewegen und den Spruch „Lirum-larum-Löffelstiel, wer das nicht kann, der kann nicht viel“ aufsagen. Als ich einmal mit meinem neuen Luftreifenroller, den ich zu Weihnachten bekam, hinfiel, hatte ich ein paar Schürfwunden am Knie. Überzeugt davon, mit dieser schweren Verletzung nicht „turnen“ gehen zu müssen, war ich sehr entrüstet, als meine Mutter sagte: „Wir gehen und dort wird dir gesagt werden, wie schwer du verletzt bist“. Gespannt zeigte ich dem aufsichtführenden Arzt meine Verletzung. Doch er holte Jod, strich es drüber und ab ging es wieder in den „Brutkasten“. Ja, auch 1951 hatte man es als Kind nicht so leicht.
Da wurde mir tatsächlich dreimal am Tag dieses eklige, ölige Zeug in den Mund geschoben, doch damit nicht genug, Milch wurde mir auch noch eingetrichtert. Meine Mutter holte jeden Tag einen ganzen Liter Milch in unserer Milchkanne und sie versuchte mir alles einzuflößen, obwohl ich keine Milch mochte.
Meine Mutter trank keine Milch, weil sie den Milchzucker nicht vertrug, sie litt an Laktoseintoleranz, das Wort kannte man damals aber noch nicht. Mein Vater verstand nicht, warum sich Mutter nach dem Milchgenuss immer übergeben musste und behauptete, es wäre alles nur Einbildung.
Heute ist es wissenschaftlich erwiesen und anerkannt. Es ist ja nicht so, dass ich absolut keine Milch trank, Milchprodukte aß ich ja auch. Nur genügte mir eine Tasse pro Tag und nicht ein ganzer Liter. Mir schleimte es immer im Hals, wenn ich Milch trank, zum Nachspülen gab es ja nichts. Deshalb versuchte ich immer die Milch zu beseitigen, wenn Mutti nicht in der Küche war. Einmal kam ich auf die Idee, meine kleine Gummipuppe in der Milch baden zu lassen. Die „Freude“ meiner Mutter war groß, als sie es sah. Sie schimpfte natürlich, ich solle doch die Milch trinken und goss die Tasse leer und füllte wieder nach. Nun musste ich die Tasse in ihrem Beisein leeren. Trotzdem blieb immer viel Milch übrig, da Mutti jeden Tag ihren Liter abholte. Sie hätte auch nur einen halben Liter nehmen können, aber nein, der Liter stand ihr auf Marken zu und dann für nur 0,25 Pfennige, das musste mitgenommen werden. Das Resultat hing dann in unserer Küche rund um das alte runde Waschbecken. Die Milch wurde schnell sauer und wurde dann durch ein Sieb und ein Leinentuch, meistens Bettlaken, gegossen und zum Ablaufen angehängt. Wenn sich mein Vater die Hände waschen wollte, hieß es nur immer: „Erwin, pass auf die Beutel auf“. Es sollte ja kein Seifenwasser an den zukünftigen Quark, der aus der Milch nun werden sollte, kommen. Eines Tages war es dann soweit. Mutti wusste nicht mehr wohin mit ihren Quarkbeuteln und der Milch. So viel Quark oder saure Milch konnte sie gar nicht vertilgen, aber Quark und saure Milch vertrug sie.
Mein Vater hatte dann eine Idee mit der Milch, die mir gefiel. Meine Mutter hatte Zucker und Papa erwärmte die Milch in einer Pfanne und als sie kochte, schüttete er den Zucker hinein. Es wurde eine dicke Masse, die mein Vater in eine Kanne goss und somit gezuckerte „Kaffeesahne“ hatte. Es blieb was übrig und das ließ er kochen, schnitt es und wir hatten Sahnebonbons. Das war gut, ich freute mich auf jeden Sonntag, wenn es „Milch aus der Pfanne“ gab.


