Kindheit und Jugend in Weimarer Republik und NS-Diktatur
Kapitel 8
Zum Schluss
Zum Schluss möchte ich noch zwei wichtige Ereignisse nennen: Die Vernehmung bei der Gestapo im November 1943 in Hamburg und meine fristlose Beurlaubung
vom Volkssturm im Februar 1945.
Ein einziges Mal wurde ich zur Geheimen Staatspolizei bestellt. Die Gestapo hatte ihren Sitz in einem Backsteinbau in der Düsternstraße. Im dritten Stock befand sich ein langer schwarzer Gang, am Ende des Ganges eine rote Lampe.
Abends um 22 Uhr war ich bestellt worden. Ich hatte damals keine Ahnung, was die Gestapo von mir wollte. Aber schon bei der ersten Frage war es mir klar. Ich hatte irgendwo, als ich mit Studenten unterwegs war, erzählt, dass junge Leute Hitlerjugendführer in Hamburg ins Fleet geworfen hatten. Danach hatten sie einen Regenschirm mit Kreide auf den Boden gemalt. Dies war eine Erinnerung an Chamberlain, der mit einem Regenschirm nach München gekommen war, um mit Hitler einen faulen Frieden auszuhandeln. Die Gestapo fragte mich, woher ich das wüsste. Ich wusste es nicht mehr; aber in der Tat hatte ich es in Niedersachsen in einem kleinen kirchlichen Kreis berichtet. Ich antwortete: Das erzählt man so, ich weiß nicht mehr genau, wer es mir erzählt hat.
Das genügte ihnen als Antwort. Nach einem Gespräch, dessen Inhalt ich nicht mehr weiß, sagte der Beamte: Kommen Sie zu uns, Sie sind doch ein ganz vernünftiger Mensch! Und außerdem: Nach dem Krieg gibt es gar keine Pastoren mehr!
Ich antwortete: Das würde ich gerne in Ruhe abwarten.
Erleichtert ging ich wieder nach Hause.
Ich glaube, dass jedermann, der es mit der Gestapo zu tun hatte, wusste, dass es im Hintergrunde um Leben und Tod ging.
Ich war wegen der TBC nie Soldat geworden. Dafür war ich dankbar. Und nun ging der Krieg zu Ende. Der Volkssturm, das letzte Aufgebot, wurde aufgerufen. Im Februar 1945 rief mich Dr. Graf an, ein Zahnarzt, der als Kompanieführer für den Volkssturm eingesetzt war. Er sagte mir, ich müsse am Sonntag um 10 Uhr zu einer Übung des Volkssturms kommen. Ich antwortete, dass ich leider nicht könne, da ich Gottesdienst halten müsse. Das teilte er seinem Bataillonskommandeur mit, der mir umgehend einen Brief schrieb:
10. November 1944
Der Kompanieführer der 2. Kompanie, Herr Dr. Graf, hat mir von Ihrem Benehmen gelegentlich der Erfassung zum Volkssturm Kenntnis gegeben. Ich gestatte mir, Ihnen mitzuteilen, daß das Volkssturm-Bataillon Landau / Isar auf Ihre Person gar keinen Wert legt. Sie sind vom Dienst im Volkssturm-Bataillon Landau / Isar restlos entlassen beurlaubt.
Heil Hitler! Staudacher, Bataillonsführer
Es passierte nichts weiter, aber ich musste doch befürchten, dass Konsequenzen gezogen werden würden, denn wir hörten, dass auf dem Rückzug der Deutschen immer wieder Volkssturm-Verweigerer aufgehängt worden waren. Ich war erleichtert. Ich tat meine Pflicht und meinen Dienst, und das war in Ordnung.
Emmi Strebel war für mich Vorbild, als ich zum Volkssturm eingezogen werden sollte und mich schlicht zu meinem Amt als Pastor bekannte.
Am 30. April 1945 war der Krieg für uns aus. Ich kam aus dem Luftschutzkeller und ging einem amerikanischen Soldaten entgegen, der das Gewehr im Arm hielt und auf mich zukam. Ich hatte eine Windel von Michael in der Hand, mit der ich ihm zuwinkte. Er fragte: Wo sind die deutschen Soldaten?
Ich antwortete: Sie sind weg!
Und das war der letzte Eindruck vom Nationalsozialismus, zugleich auch der erste Eindruck von den Amerikanern, die sich jedenfalls gegenüber der Bevölkerung sehr positiv benommen haben.
Drei Wochen später, an meinem Geburtstag, haben mir Emmi Strebel und Elisabeth in der leeren Schulklasse der Schule ein Konzert gegeben, als Dank gegen Gott und zur Freude für mich.
Ich bin dankbar, dass ich in der Kindheit und Jugend Menschen gefunden habe, die mich vor politischen Irrwegen bewahrten. Das geschah durch ihr Vorbild in Wort und Tat: Der Werftarbeiter Heini Mohr, Kommunist, der Chemiker Fritz Fränkel, Halbjude, der Jurist Dr. Hamburger, Jude, der Bildhauer Wilhelm Groß, Halbjude, der Pastor Hans Asmussen, der 1932 die Erklärung zum Altonaer BlutsonntagAls Altonaer Blutsonntag wird der 17. Juli 1932 bezeichnet, an dem es bei einem Werbemarsch der SA durch die damals zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein gehörende Großstadt Altona/Elbe zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, bei denen 18 Personen erschossen wurden.[1] in Altona verfasst hatte, der Professor Günter Dehn, der 1931 durch den Druck der SA in der Universität Halle relegiert wurde, der Professor Helmut Gollwitzer, der als Nachfolger von Martin Fischer auch später meinen Söhnen Michael und Thomas vertraut war, als sie in Berlin in der Studentengemeinde waren, und schließlich Emmi Strebel — quer durch die verschiedenen Bevölkerungs- und Bildungsschichten habe ich Menschen gefunden, die mich aufmerksam begleiteten oder mir Erkenntnisanstöße vermittelten, die mich urteilsfähig gegenüber der radikalen politischen Umwelt machten. Der Jugendbund für entschiedenes Christentum, die Bekennende Kirche und die Evangelische Studentengemeinde haben mir als Basis gedient, um meinen Weg als politischer Außenseiter zu finden und zu gehen. Dafür kann ich nur dankbar sein. Ohne Begleitschutz
kann man durch solche Zeit, in der die Radikalität zunimmt und in der die Masse mehr bedeutet als der Einzelne, kaum durchkommen.
Aber in allem meine ich auch nachträglich, die Führung Gottes zu erkennen. Der versperrte Weg zum Lehrerberuf öffnete den Zugang zum Theologiestudium; die Tuberkulose verschloss nur auf Zeit diesen Weg und bewahrte mich vor dem Militär. Das Kriegsende am 1. Mai 1945 in Landau habe ich als Befreiung erlebt, und ich meine, ich bin wach gewesen in den weiteren Jahren demokratischer Entwicklung in der Bundesrepublik.
[1]Als Altonaer Blutsonntag wird der 17. Juli 1932 bezeichnet, an dem es bei einem Werbemarsch der SA durch die damals zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein gehörende Großstadt Altona/Elbe (1938 durch das Groß-Hamburg-Gesetz nach Hamburg eingemeindet) zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, bei denen 18 Personen erschossen wurden. Dieser Vorfall wurde von der Reichsregierung unter Franz von Papen als Anlass benutzt, um die noch amtierende preußische Regierung im Preußenschlag
am 20. Juli 1932 abzusetzen.
Am 16. Juni 1932 hob die Regierung Papen das im April 1932 von Heinrich Brüning erlassene SS- und SA-Verbot wieder auf, um sich den Nationalsozialisten für die Tolerierung seines Minderheitskabinetts erkenntlich zu zeigen. Damit waren erhebliche Auseinandersetzungen im Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 31. Juli in Deutschland zu erwarten. Innerhalb eines Monats gab es in Deutschland 99 Tote und 1125 Verletzte bei Auseinandersetzungen vorwiegend zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Auch in Schleswig-Holstein, zu dem Altona gehörte, hatte es Zusammenstöße gegeben. So waren in den ersten Julitagen zwei Sozialdemokraten und zwei Kommunisten von den Nationalsozialisten getötet worden. Für den 17. Juli wurde vom Altonaer Polizeipräsidenten Otto Eggerstedt ein großer Demonstrationszug von 7.000 aus ganz Schleswig-Holstein zusammengezogenen uniformierten SA-Leuten durch die verwinkelte Altonaer Altstadt genehmigt, die wegen ihrer mehrheitlich kommunistisch oder sozialdemokratisch wählenden Arbeiterschaft als rotes Altona
galt und unter der lokalen Bezeichnung Klein-Moskau
bekannt war. Die Kommunisten sahen diesen Aufmarsch durch die Arbeiterwohngebiete als eine Provokation an. Trotz dieser bedrohlichen Lage waren Eggerstedt und sein Stellvertreter am Tag der Demonstration nicht in Altona. Ihr Vorgesetzter, der Schleswiger Regierungspräsident, war auch nicht durch einen höheren Polizeibeamten vor Ort vertreten.
Quelle: Wikipedia.de