Kindheit und Jugend in Weimarer Republik und NS-Diktatur
Kapitel 2
Die Mittelallee
Spielend lernte ich. Die Sozialisation der Straße war eine gute, als selbstverständlich angenommene Schule.
Die Mittelallee hatte zwei Fußballmannschaften und eine Schlagballmannschaft. Wir gingen zum Schlagballspielen rüber nach Hinter den Höfen
und schlugen mit den Klippen unseren Lederball 40 m weit oder mehr. Einige waren darin glänzende Experten, z. B. die Königs-Jungs.
Mit den beiden Fußballmannschaften hatten wir eine gute Auswahl, wenn wir gegen die Mannschaft der Louisenallee (Nachbar-Allee, die wir die Luus-Angeln nannten) oder gegen die Stoeckhardtstraße spielten.
Manchmal aber trafen wir uns alle und spielten gegen Barmbek. Oft war es aber kein Spiel, sondern eine Klopperei zwischen den Stadtteilen. Nicht bös‘ gemeint, aber es gab ganz schöne
Wunden. Ich war dabei — oft verprügelt oder prügelnd oder die Kräfte im Weglaufen übend. Das Lob der Großen war Balsam, ihre Gegnerschaft, die im Sinne der Hackordnung latent bestand, war gefährlich. Aber ich genoss immer den Schutz meiner Brüder, und das war gut so. Ich habe mich immer zurückgehalten und nie an die vorderste Front gewagt — ein vorsichtiger Junge. Aber gehetzt hab ich: Man los! Drauf! Auf ihn!
Und zwar immer von hinten. Nö, was ist das bloß für ne schöne Jugend, wo man so ungeschützt vor sich hin ballern konnte, ohne dass einem etwas passierte.
Wir spielten Probe
— ein Spiel nicht nur für Mädchen, die allerdings besonders gewandt, ja, virtuos die Ballkunst an der schwarzen Wand beherrschten. Kreisspiele und Die Meyer'sche Brücke
waren bei den Kleineren so beliebt wie Himmel und Hölle
, Kibbel-Kabbel
oder Marmeln.
Gefährlich war auch der Sprunglauf von einer Schottschen Karre zur andern, zweirädrige Karren, die der Zigarrenhändler Westphal vermietete und die mit der Tendenz, das Gleichgewicht zu verlieren, ein beliebtes Spielobjekt waren.
Frau Eggers und die gutmütige, dicke Frau Paulsen in Haus 1 und 2 waren die Straßenhuren, liebevoll gegen jedermann, besonders gegen Kinder. Aber Jonny Paulsen war ein Schwein. Er hetzte Richard, genannt Schimmel, auf mich und wir mussten kämpfen. Er zwang uns dazu wie ein römischer Feldherr seine Gladiatoren. Er sagte: Wir wollen ein neues Spiel spielen. Beug dich, so stell ich mich quer, dass dein Gesicht an meinem Hintern ist.
Ich tat wie befohlen, neugierig auf das neue Spiel. Aber er ließ einen Furz los und schaute mich schadenfroh an. Er war ein Schwein. — Heinz Eggers dagegen war lieb, aber trottelig. Nein, die Hurensöhne waren nicht first class — auch nicht in der Fußballmannschaft. Sie waren Füllsel, das Fußvolk der Straße, angeführt von Herbert Fels, einem schnellen Burschen, der immer eine Zigarette zur Hand hatte.
Sonntags gingen wir zur Sonntagsschule. Die Sonntagsschule war in der Jungmannstraße. Die Jungmannstraße ging von der Wandsbeker Chaussee ab. Dort war ein Knabenhort. In diesem Knabenhort förderte die Evangelische Gemeinschaft sonntags die Kinder zur Sonntagsschule. Wir waren in Gruppen eingeteilt und bekamen wie bei Huckleberry Finn jeden Sonntag eine kleine Spruchkarte. Die sollten wir auswendig lernen, am nächsten Sonntag wiederbringen und das auswendig Gelernte aufsagen. In der ersten Gruppe war es ein halber Satz, z. B. Der Herr ist mein Hirte
auf einer roten Karte. Dann kam eine grüne, dann eine blaue Karte, und da musste man schon ganz tüchtig lernen.
Ich brachte es dabei zu einiger Fertigkeit. Meine Bibelkunde beginnt in dieser Zeit. Die erweiterte ich immer mehr, einerseits durch diese Sprüche, dann aber auch durch die Erzählungen von Schwester Emmi Schlüter, einer angesehenen älteren Diakonisse mit dunkler Stimme, braunem Blick und freundlicher Hand. Ich war von ihr begeistert. Aber ich gehörte noch nicht in ihre Gruppe. Ursprünglich gehörte ich zu Fräulein Stern. Ich glaube, sie war eine christliche Jüdin. Fräulein Stern nahm mich immer auf den Schoß. Es war die Zeit, in der ich Abraham und Petrus und alle anderen durcheinander warf, wie es mir gefiel. Langsam lernte ich, Altes und Neues Testament auseinander zu halten. — Man muss einen langen Weg gehen, wenn man gut in Bibelkunde sein will. Es machte mir Spaß!
Nach der Sonntagsschule gingen die Drehfahl-Jungs und wir über den damaligen Jakobi-Friedhof, der an der Friedenstraße in Eilbek lag. Dort schossen die großen Jungs Spatzen. Mir war das nicht so ganz recht, aber interessant war es doch! Dann steckten sie die toten Spatzen in ihre Hosentaschen, und wir marschierten nach Hamm-Süd, zum Luisenweg, wo sie zu Hause waren. Dort warteten schon die Katzen, die die Spatzen mit großem Behagen futterten.
Als mein Bruder Hans ausgezogen war, wurde es etwas leerer bei uns. Aber ich muss noch eine kleine Geschichte erzählen, ein Erlebnis mit Hans: Als ich ein kleiner Kerl war, gerade geboren oder etwas älter, jedenfalls war ich noch im Kinderwagen, bekam Hans immer den Befehl, mich spazieren zu fahren. Er machte daraus einen Sport und raste mit dem Kinderwagen die Mittelallee rauf und runter, immer mit dem Ruf: Ab! Zur Seite! Zur Seite!
Und dann, eines Tages, passierte es: Ein Siebenjähriger verfehlte den Absprung, Hans überfuhr ihn. Der kleine Kerl im Kinderwagen wurde umgeschmissen, auf die Straße gerollt, und alle alten Frauen auf dem Balkon, alle Mütter, schrien und riefen: Pfui!
Aber Hans sammelte mich und das Bett wieder ein, alles in den Kinderwagen, und verschwand, so schnell er konnte. Mir war nichts passiert, aber Hans‘ Fahrten hörten damit auf.
Zu Hause habe ich nicht sehr viel freie Zeit gehabt, weil ich immer in den Haushalt mit einbezogen wurde, besonders als nun Hans weg war. Wenn ich lesen wollte, wurde das zwar toleriert, aber ungern gesehen. In der Volksbücherei in der Hasselbrookstraße und in der Schulbücherei besorgte ich mir die Bücher. Es waren meistens leichte Geschichten, Tom Sawyer und ähnliches. Und damit verdrückte ich mich dann, um Ruhe zu haben, hinter den Kleiderschrank in die Stubenecke, wo ich nicht so schnell entdeckt wurde und nicht im Wege stand.
Wir kauften ein beim Krämer Bornhold, dem Grünwarenhändler von Allwörden und dem Milchhändler Clasen, alle in den Geschäften der Vorderhäuser. Wir ließen anschreiben. Bezahlt wurde, wenn Vater sein Gehalt brachte. Wir waren oft rückständig. Mein Bruder Heinrich, der Systematiker, versuchte, unser Schuldenbuch zu liquidieren und Mutter zu einer schuldfreien Wirtschaft anzuhalten. Vergeblich. Warum auch? Wenn wir einkauften, bekamen wir einen Bonbon. Kinder sind bestechlich. Eine Zeitlang versuchte ich, möglichst oft bei Bornhold zu kaufen. Es gab 10-Pfennig-Schokolade mit Gartmann-Bildern.
Jeden Tag mittags um drei Uhr wurde ich zur Mittelstraße geschickt, um bei Klotz, dem Bäcker, vier frische Brötchen zu kaufen. Mein Vater kam um zwei Uhr in der Mittagspause aus der Stadt nach Hause, um zu Mittag zu essen und zu schlafen. Mit zwei frischen Brötchen und einer Thermosflasche schönen Kaffees wurde er dann wieder in den Dienst zurückgeschickt. Ich glaube, dieses Leben ist ihm nicht gut bekommen, er hatte immer, immer, immer Kopfschmerzen.
Wenn mein Vater abends nach Hause kam, nahm er mich gelegentlich mit, wenn es ihm gut ging. Wir gingen spazieren zum Hammer Park. Zu meiner großen Freude, denn im Hammer Park war manchmal ein Sportfest und ich durfte zugucken. Aber nicht lange, denn es zog ihn nicht zum Sportfest, sondern zu den Neubauten in Hamm. Er inspizierte ein Haus nach dem anderen, denn er suchte dort eine neue Wohnung. Bei der einen gefiel ihm die Küche nicht, bei der anderen gefiel ihm das Klo nicht, bei der dritten die Größe des Wohnzimmers usw. Er hatte an jeder etwas auszusetzen. Vielleicht gehörte das auch zu seinem Sport, denn dann konnte er am nächsten Tag wieder suchen gehen. Wohnungssuche war seine Leidenschaft, bis er 1927 tatsächlich in der Hasselbrookstraße 160 die neue Wohnung gefunden hatte. Die war allerdings etwas zu groß, weil Hans bereits ausgezogen war. Deshalb hatten wir dort eine Untermieterin. Diese Untermieterin war ein Mords-Weib für meine Vorstellung. Ich konnte wohl verstehen, dass sie Fußpflege brauchte. Dass sie diese Fußpflege bei meiner Schwester Grete in Anspruch nahm, konnte ich allerdings nicht verstehen. Grete musste ihr immer ein warmes Fußbad machen, und dann musste sie die Füße bearbeiten. Schrecklich! Doch die arme Grete tat es immer friedlich und freundlich.