Das Schicksal einer dekorativen Vase
In Zeiten großer Umbrüche wie Kriege, Revolutionen und ähnliches, haben die Sachen, mit denen die Menschen zusammenleben, oft ihre eigenen, manchmal ganz komischen Schicksale.
In den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts lebte Benno, der Bruder meiner Oma, in Moskau. Er war ein sehr geschickter Kaufmann und als Lenin 1921 für kurze Zeit die NEP (Neue ökonomische Politik) einführte, hat er die Gunst der Stunde genutzt und ist reich geworden. Er heiratete die schöne erfolgreiche Schauspielerin Schoschana (Susanna) Avivit aus dem hebräischen Theater Gabima. In ihrer schönen Wohnung hatten sie viele antiquarische Sachen angesammelt.
Benno hat auch meine Oma unterhalten, als sie nach dem Bürgerkrieg ohne Mittel in Moskau erschien. Benno war nicht dumm und verstand, dass die NEP nicht lange dauern wird, dass die Bolschewiken solche wie ihn als schlimme Feinde betrachten werden, und dass das hebräische Theater in Russland keine Zukunft hat. Er und seine Frau wollten emigrieren. Und als das Theater 1925 zu Gastspielen nach Paris reiste, fuhr Benno mit. Natürlich mussten alle schönen Sachen zurückbleiben. Benno vermachte die Sachen meiner Oma, aber hat ihr geraten, so schnell wie möglich nach Riga zur älteren Tochter zu flüchten. Was sie auch getan hat und die Sachen wurden vorläufig
bei Verwandten und Bekannten untergebracht. Meine Mutter war damals Studentin, wohnte im Studentenheim, wollte zusammen mit dem Proletariat eine neue Welt bauen, und hatte an dem bürgerlichen Kram
überhaupt kein Interesse.
1937 flüchtete meine Oma aus Wien nach Moskau. Oma wollte Bennos Sachen zurückhaben. Wir bewohnten damals ein Zimmer, eine Küche wurde von zwölf Familien benutzt, ein Klo, wohin die Einwohner am Morgen mit Eimern marschierten. Bei solchen Umständen hatten nur die antiquarischen Sachen gefehlt. Oma wollte sie aber unbedingt haben und hat sich auf die Suche gemacht. Die meisten Sachen waren spurlos verschwunden zusammen mit den Leuten, die enteignet und aus Moskau verbannt wurden.
Aber sechs Gegenstände haben sich eingefunden und sind bei uns gelandet. Ein inkrustiertes Tischchen, den Deckel konnte man öffnen, innen waren ein Spiegel und Schubladen für Schmuck. Vielleicht hat die Susanne Avivit vor ihm gesessen und ihre Toilette gemacht. Ich konnte das schöne Innere nur unter Omas Aufsicht bewundern. Auf dem Tischchen stand eine halbnackte schöne Dame aus Elfenbein, Porzellan und Marmor. Dann war da noch die Statue eines Beduinen auf einem Kamel, die war aus Bronze und sehr schwer, stand auf dem Schrank.
Auf dem anderen Schrank ist eine riesige schwere Vase aus Porzellan gelandet. Beim Einschlafen guckte ich immer nach oben und stellte mir vor, wie ich in dem Wald auf der Vase spazieren gehe. Es gab noch den Narziss aus Bronze, der hat auf Mutters Schreibtisch Platz gefunden. Der war sehr schön, aber seine Nacktheit hat mich schockiert. Ich probierte, ihm Höschen zu nähen, aber seine Hand an der Hüfte hat mich gestört. Und dann waren noch ein paar Gegenstände vom englischen Tafelservice Rose and Jessamine
– tiefe und flache Teller und eine Suppenterrine. Das war das Einzige, das wir im Haushalt gebrauchen konnten. Wenn Gäste kamen, wurden aus dem Schrank die schönen Teller geholt, und die Terrine wurde mit Vinegret
gefüllt – ein Salat aus Rote Bete, Kartoffeln, sauren Gurken und Zwiebeln – die Hauptspeise in knappen Zeiten. Ich habe nicht gesehen, dass in einer Terrine Suppe zu Mittag gereicht wurde – vielleicht aber waren die Kreise, in denen ich verkehrte, nicht nobel genug.
![Die große Terrine](thumbs/terrine.jpg)
Während des Krieges waren wir in Evakuation, und das Antiquariat ist natürlich in Moskau geblieben, und in unserem Zimmer wohnten fremde Leute. 1943 kamen wir zurück und Mutter ist es gelungen, unser Zimmer zurückzubekommen. Alle Sachen waren heil, nur das Tischchen hatte einen Fleck von einer heißen Pfanne.
Es war eine sehr hungrige Zeit. Mutters Institut hat am Rande von Moskau ein Feld bekommen und jedem Arbeiter hatte man 200 Quadratmeter zugewiesen, um Kartoffeln für den Winter zu pflanzen. Wir wohnten im Erdgeschoss. Unter dem Haus von einer Seite war ein Keller, dort lagerte man Kohle für den Ofen, denn unser Haus hatte eine Kaloriferheizung. Mutter hatte einen Handwerker gerufen und für eine Flasche Wodka hat er unter dem Schlafsofa im Eichenparkett einen Eingang mit Treppe gemacht und einen recht großen Keller ausgegraben. Dort bewahrten wir im Winter unsere Ernte. Im Winter konnte man auf dem Markt Sauerkraut kaufen, aber es war teuer. Deshalb hat Mutter entschieden, selbst Kohl zu säuern. Aber worin? Einen emaillierten Eimer oder einen großen Topf hatten wir nicht. Aber wir hatten doch die große schöne Vase! Also haben wir die Vase vom Schrank geholt, Kohl und Möhren geschnitten, gesalzen und in die Vase gelegt, und von oben mit einem Stein zugedrückt. Dann die Vase in einen Sack gesteckt, mit einem Strick zugebunden und in die Luke vorsichtig heruntergelassen. Im Winter bin ich mit einer kleinen Schüssel die Treppe heruntergestiegen und habe eine Portion Kohl geholt. Der Kohl war immer gelungen. Der Designer der Vase konnte gar nicht ahnen, für welch einen guten Zweck sie genutzt wurde.
Die Zeit ging, das Leben wurde leichter, die schönen Sachen fanden ein neues Zuhause in unserer neuen Wohnung. Wir hofften auf eine helle Zukunft. Aber dann wurde es wieder schlimmer und schlimmer und 1993 entschieden wir, nach Deutschland zu emigrieren. Es war nicht erlaubt, Antiquariat mitzunehmen und auch keine alten Bücher, alte Fotos, Gold, Silber usw. Für ein Porträt meiner Tochter musste ich eine Erlaubnis des Ministeriums für Kultur bekommen.
![Die flachen Teller](thumbs/rosenteller.jpg)
Es war eine ganz wilde Zeit – der wilde Kapitalismus ist gekommen, die Neuen Russen
haben angefangen, ihr Geld in Kunstgegenstände zu investieren, wie in den NEP-Zeiten. Ich brachte meine Vase zur Auktion, in der Zeitung stand, dass der Preis voraussichtlich über eine Million Rubel sein soll – damals ist der Rubel tief gefallen. Ich weiß nicht, wie die Auktion verlief, und in welcher Villa unsere Vase steht, mir haben sie 1000 Dollar gegeben, und ich war sehr zufrieden. Alle anderen Sachen hat uns ein halbneuer
Russe zusammen mit der Wohnung abgekauft.
Nur zwei flache Teller von der Rose und Jasmin
habe ich herausgeschmuggelt, sie stehen bei mir zum Andenken an meine Oma und an Großonkel Benno, der, nachdem seine Frau ihn verlassen hat, aus Paris nach Riga gekommen war und dort im Getto umkam.