Das goldene Schlüsselchen
Es war der erste Nachkriegssommer 1945 und ich hatte Ferien. Die Sommerferien in der UdSSR waren sehr lang.
Das Schuljahr hat immer angefangen am 1. September, auch an den Hochschulen. So hatten alle Schulkinder zwei bis drei Monate frei. Die Eltern mussten sich Gedanken machen, wohin mit den Kindern? Wenn man Großeltern im Dorf oder eine Datscha hatte, war das Problem gelöst, aber sowas hatten wenige. Die meisten beantragten im Betrieb einen Ferienscheck im Erholungsheim, in einem Pionierlager. Aber nicht für die ganzen Sommerferien.
Für Kinder, die ohne Aufsicht in der Stadt blieben, gab es eine Möglichkeit, in der Schule einen Ganztagesplatz zu bekommen, mit Mittagessen in der Schulkantine.
Diese Möglichkeit habe ich auch damals genutzt. Von der Schule sind wir manchmal gemeinsam mit den Lehrern in den Park gefahren oder ins Kino gegangen.
In der Nähe unserer Schule gab es ein Kinotheater Avangard
, das in einem großen ehemaligen Kirchengebäude untergebracht war. Dorthin sind wir an diesem Sommertag gegangen.
In Moskau waren die Schulen für Mädchen und Jungs getrennt. Das hatte Stalin in den ersten Kriegstagen befohlen, die Jungs sollten ordentlich für den Militärdienst vorbereitet werden. Also besuchte ich eine Mädchenschule. Mit Jungs haben wir uns bei Freizeitunternehmungen getroffen.
Während im großen Saal der Film lief, haben wir uns im Foyer aufgehalten. Die Lehrerin passte auf, dass wir in Grenzen blieben. Wir spielten und wir bildeten einen Kreis. In der Mitte standen Kegel, man musste seinen Nachbarn zwingen, einen Kegel zu Fall zu bringen. Wer einen Kegel umwarf, musste raus. Der letzte Gebliebene konnte mit einem Preis rechnen. Also zum Schluss war ich das einzige Mädchen, das noch geblieben war. Ich war damals linkisch und unsportlich, aber eigensinnig und verbissen. Und so kam es, dass die Jungs mich so gestoßen hatten, dass der Kegel mich in der Magengrube traf. Ich verlor das Bewusstsein und die verängstigte Lehrerin trug mich auf ihren Armen zur Apotheke. Dort hielten sie mir ein Wattestäbchen mit Ammoniak unter die Nase und ich wurde wieder lebendig.
Und der Preis für meine Heldentat? Ich hatte doch den Film verpasst! Also hat man mir eine Karte für das Goldene Schlüsselchen
geschenkt.
Der Kinderkinofilm nach der Geschichte von Alexei Tolstois Kinderbuch Das goldene Schlüsselchen
, oder Die Abenteuer des Buratino
von 1936 ist 1939 in der UdSSR erschienen. Politisch war der Film sehr korrekt:
Der arme Drehorgelspieler Papa Carlo musiziert auf der Straße und singt dabei über ein Land, in dem alle Kinder zur Schule gehen können und alle alten Menschen genug zu essen haben und glücklich sind. Weit – weit hinter sieben Meeren, singt Papa Carlo, steht eine goldene Mauer, die Mauer hat ein geheimes Türchen, das man mit einem goldenen Schlüsselchen aufmachen kann. Aber wo findet man das Schlüsselchen?
Das glückliche Land war natürlich die UdSSR. Und das Glück ist sehr nah, man muss nur das Schlüsselchen haben. Und alle Menschen in der UdSSR suchten das goldene Schlüsselchen.
Ich habe die UdSSR 1993 verlassen. Zu der Zeit haben manche reichen Neuen Russen
ihr Ersatzschlüsselchen gefunden und lebten sorgenfrei in London oder Paris. Aber das Volk war noch immer auf der Suche und hoffte auf Glück.
Es ist eine lange Zeit vergangen, auf Russisch sagt man die Hoffnung stirbt zuletzt
. Das goldene Schlüsselchen hat man bis jetzt nicht gefunden. Vielleicht ist es in der Ukraine verschwunden und jetzt muss man es dort suchen? Scheint so, aber die Suche bleibt ohne Erfolg – nur großes Leiden auf beiden Seiten.
Ich wünsche meinen ehemaligen Landsleuten viel - viel Glück!