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Die letzte Geschäftsreise meiner Mutter

Meine Mutter war eine der ersten fünf Frauen, die im Jahr 1928 die älteste Moskauer Technische Hochschule absolviert hatten. Sie bekam ein Diplom mit Auszeichnung und übte den Beruf eines Ingenieur-Elektrikers aus. Sie erzählte mir von ihrer hungrigen, aber lustigen Studentenzeit, wie sie zum Lebensunterhalt mit Schirmmütze und einer Leiter durch die Straßen zog um die Gaslaternen anzuzünden. In ihrer Hochschule erlebte sie auch eine große Enttäuschung — sie wollte dem KomsomolKomsomol (kyrillisch Комсомол) war die Jugendorganisation der KPdSU. Das Silbenkurzwort wird aus den Anfangssilben der Wörter Коммунистический союз молодёжи (Kommunistischer Jugendverband) gebildet. beitreten, aber ihr verstorbener Vater gehörte zur Kapitalisten-Klasse und sie wurde nicht akzeptiert. Außerdem konnte man ihr nicht verzeihen, dass sie bei der Abstimmung über das Todesurteil für Trotzki sich der Stimme enthielt, weil sie mit ihm Mitleid fühlte. Zu der Zeit hielt Stalin schon fest die Zügel in der Hand, so ist sie noch glimpflich davongekommen.

Ihr Beruf war nicht leicht, damals ein Männerberuf. Sie musste sehr oft für die Instandsetzung ihrer Projekte auf weite und schwere Geschäftsreisen gehen und auf Riesenbaustellen in Wohnheimen mit wenig Komfort wohnen.

1948 promovierte Mutter und arbeitete in einem Forschungslabor für Elektrotechnik. Auch dort waren Geschäftsreisen nicht selten.

Gesundheitlich ging es meiner Mutter nicht besonders gut. Ihr Leben war alles andere als leicht. Zwei Weltkriege, Bürgerkrieg, Evakuierungen, Hunger und Not, Strapazen wegen der Angehörigen im Ausland. Mein Vater starb jung, mit 34 Jahren, sie musste Geld verdienen und sich um alles sorgen. Und sie litt an schweren Schlafstörungen. Sie war einfach sehr müde, und obwohl die Arbeit ihr Spaß machte, beschloss sie, sobald das Alter es erlaubt, in Rente zu gehen. Sie schwärmte vom Leben auf unserer Parzelle, in frischer Luft, von Blumenbeeten. Doch kurz vor ihrer Pensionierung Ende 1957, ging sie auf ihre letzte Geschäftsreise.

Es wurde notwendig, an den Turbogeneratoren und Stromleitungen im Elektrosystem rund um Novosibirsk verschiedene Tests durchzuführen. Für solche Experimente war eine spezielle Erlaubnis notwendig. Die Turbogeneratoren und große Bereiche der Stromleitungen wurden abgeschaltet. Das war eine sehr teure und komplizierte Maßnahme. Es war schon der letzte Tag der Tests und es war noch notwendig, Messwerte von Sensoren im Inneren des demontierten Generators aufzunehmen. Mutter zog ihren Mantel aus, legte ihn auf die Aktentasche neben dem Generator und kroch mit dem Kopf nach vorne in den Stator herein, ihre Füße blieben draußen. Als sie wieder herauskam, waren die Aktentasche und der Mantel weg. Zuerst dachte sie, es war ein Scherz, jemand wollte Spaß haben. Aber keiner war in der Nähe und keiner hatte etwas gesehen.

Das war eine richtige Katastrophe — um den alten Mantel, einen speziellen Geschäftsreisemantel war es nicht schade, aber in der Aktentasche waren die ganzen Ergebnisse der drei Wochen des Tests. In jenen Tagen gab es noch keine Computer, das Hauptinstrument eines Ingenieurs war der Rechenschieber, und alle Testergebnisse waren handschriftliche Tabellen in einem einzigen Exemplar. Mutter lief zur Verwaltung.

Das Kraftwerk war ein Riesenobjekt mit vielen Werksabteilungen. Es befand sich hinter Stacheldraht in einer geschlossenen Zone. Die meisten Arbeiter waren Häftlinge im GULAG. Obwohl Stalin vor ein paar Jahren gestorben war und der Personenkult verurteilt wurde, war der GULAG immer noch sehr groß, und an den meisten großen Anlagen in Sibirien arbeiteten Gefangene. Die Fülle der Macht auf dem Kraftwerk hatte ein KGB-Major. Er wurde gerufen, hat Mutter wegen ihrer Tölpelei getadelt und sagte: Wir finden ihre Sachen.

Ein paar Stunden später fand man die Aktentasche im Schnee am Stacheldraht, nur das wenige Geld war verschwunden und ein belegtes Brötchen, aber der Ordner mit den Tabellen war da. Zum Glück waren der Ausweis und das Rückflugticket im Hotel geblieben. Mama war im siebten Himmel, man hatte ihr eine wattierte Jacke gegeben, und am nächsten Morgen kam sie zum letzten Mal zur Arbeit. Und hier gab es für sie eine große Überraschung. Der Major war mit dem Mantel erschienen und er führte einen ganz jungen Häftling vor, der sollte bei Mutter um Vergebung bitten. Ihm drohten für die Tat zusätzlich lange Jahre im Knast. Der Junge fiel meiner Mutter zu Füßen, bat um Verzeihung und flehte sie an, beim Major ein gutes Wort für ihn einzulegen. Nachdem er abgeführt wurde, bat Mutter den Major um Nachsicht, der arme Junge sei doch so jung. Aber der Major war unerbittlich — der Gefangene hat das strenge ungeschriebene Gesetz verletzt: Beim Anlagenpersonal darf man nicht klauen.

Es stellte sich heraus, dass auf dem Kraftwerk eine große Ermittlung durchgeführt wurde. Alle Gefangenen der Werksanlage, wo der Generator stand, wurden verhört. Jedem drohte man mit einer neuen Haftfrist für Mitbeteiligung. Einer der Gefangenen hatte gesehen, wie eine fremde Person mit einem Paket den Raum verlassen hat. Aber er hat den fremden Mann nur von hinten gesehen. Man führte den Häftling durch alle Werksanlagen, und er hat diesen Fremden am Nacken erkannt. Der Mantel war schon bei einem Aufkäufer außerhalb der geschlossenen Zone gegen Wodka umgetauscht worden. Man hatte auch den Aufkäufer gefunden und ihm den Mantel weggenommen. Die Männer vom KGB mussten also viel Arbeit leisten.

Meine Mutter war besorgt, dass ein junger Kerl wegen ihrer Tölpelei so lange in Haft bleiben musste. Das war ihre letzte Geschäftsreise.