Meine ersten Schuljahre
Ich wurde im Herbst 1942 eingeschult. Weil ich im Dezember Geburtstag habe, war ich zu dieser Zeit schon fast sieben Jahre alt. Das ist an sich nicht besonders erwähnenswert, aber aus unserer Straße wurde auch ein kleiner Junge eingeschult, der noch nicht ganz sechs Jahre alt war und das fand ich damals ziemlich ungerecht. Dass ich mich nach dem Krieg mit Manfred Rätzke, so hieß er nämlich, prächtig verstand und wir ganz dicke Freunde wurden, stand damals noch nicht auf dem Tapet.
Wir waren 43 Knaben. Unser Lehrer war noch von altem Schrot und Korn, kurz geschnittener, schlohweißer Kinnbart, weiße Haare, tadelloses Hemd mit weißem Stehkragen, also ein Bild von Lehrer und: er hatte einen kleinen Zeigestock, mit dem es auch mal kurz was auf die Finger gab! Wenn ich mir aber unser erstes Klassenbild genau ansehe, dann meine ich, er war mindestens schon 70 Jahre alt. Eigentlich eine unrealistische Vorstellung und doch könnte es so gewesen sein, denn die jungen Männer waren ja alle schon im Krieg.
Unsere Schule hieß einfach nur Rütlischule
, weil sie in der Rütlistr. in Neukölln lag. Sicher hatte sie einen offiziellen Namen, aber den kenne ich bis heute nicht. Die Rütlistr. war eine höchst merkwürdige, allerdings auch sehr kurze Straße. Dort gab es eigentlich nur die Schule. Das Grundstück Weser-/Ecke Rütlistr. war seit ewigen Zeiten eine bereits ausgehobene riesige Baugrube, vorbereitet für drei bis vier große Wohnhäuser die dort schon in den zwanziger Jahren hätten hingebaut werden können. Aber der Zeitlauf hatte dies wohl verhindert: Inflation – Arbeitslosigkeit – Vorkriegszeit, na und nach 1939 wurde ja sowieso nicht mehr gebaut. Also entstanden dort Kleingärten, mitten in der Großstadt - ein merkwürdiger Anblick, aber wir waren ja nichts anderes gewöhnt. So war es auch mit den übrigen Grundstücken in der Rütlistraße. Diese Straße sollte wohl nach den Reißbrett-Planungen in den Gründerjahren ebenfalls eine Wohnstraße werden, stattdessen siedelten sich dort ein Holzhandel und ein Autohof an und auf der gegenüberliegenden Seite wiederum Kleingärten. Vielleicht schreckte die Schule mit dem eigentlich natürlichen Kinderlärm potentielle Bauherren ab und deshalb blieb diese Straße lange Zeit unbewohnt, was sicher auch dazu führte, dass es dort nach dem Krieg nur ganz geringe Schäden zu verzeichnen gab.
Berlin wurde 1942/43 schon massiv von den Alliierten bombardiert, so dass wir auch in der ersten Klasse schon nicht mehr regulär unterrichtet werden konnten. Ein Jahr später wurden wir evakuiert, d.h. im Zuge der Maßnahmen, die die Behörden zum Schutz der Zivilbevölkerung veranlassten, wurden Familien - meist natürlich nur die Mütter mit ihren Kindern - in weniger gefährdete Gegenden verschickt, die sie sich anfangs sogar noch selber aussuchen konnten.
So kommt es, dass ich an meine erste Klasse kaum eine Erinnerung habe. Aber auch an die Schulzeit während der Evakuierung habe ich keine bleibenden Erinnerungen. Wir hatten dort nur noch wenige Monate Unterricht, denn schon Anfang/Mitte 1944 kamen Flüchtlingstrecks durch unser Dorf, da wurde die Schule zu einer Notunterkunft degradiert und wir Kinder hatten bis auf weiteres schulfrei. Allerdings haben wir in dieser schulfreien Zeit dennoch weiter Schreiben, Lesen und Rechnen gelernt, denn die Mütter waren angehalten, mit ihren Kindern weiter zu üben.
Als wir nach Kriegsende wieder nach Berlin zurückkamen, wurde ich im Spätherbst 1945 in die vierte Klasse gesteckt
, wo ich dem Jahrgang nach eigentlich auch hingehörte. Durch den fehlenden Unterricht war ich nicht sonderlich benachteiligt, denn es ging ja allen Kindern so wie mir.
Die Rütlischule diente damals noch für längere Zeit als Lazarett oder Hilfskrankenhaus, so dass wir dann in einen Schulkomplex am Hermannplatz umgeschult wurden. Mitte 1946 konnten wir uns für den Wechsel an eine Oberschule bewerben. Die kostete aber merkwürdigerweise noch Schulgeld, und zwar monatlich 20 Reichsmark
. Wenn auch das Geld damals nicht viel wert war, ich hatte Bedenken, dass meine Eltern das würden aufbringen können. Als sich aber auch Klassenkameraden bewarben und angenommen wurden, die nach meiner Meinung viel blöder als ich
waren, packte mich der Ehrgeiz. Ich wusste, dass kinderreiche Familien eine Ermäßigung bekamen und erfuhr, dass für mich (wegen meiner beiden Schwestern) lediglich zwölf Reichsmark monatlich fällig wurden. Also machte ich die Aufnahmeprüfung und bestand sie!
Zu Hause gab es natürlich Ärger, aber ich hatte alles auf eine Karte gesetzt: meine Tante aus Amerika hatte kurz zuvor in einem Brief jedem Kind eine Dollarnote geschickt und ich wusste, bei der Sparkasse bekam man 96 Reichsmark dafür! Das war mein Schulgeld für die kommenden acht Monate. Was danach kam, würde man schon sehen, denn besonders fleißige Schüler konnten auch befreit werden, darauf spekulierte ich natürlich.
Es kommt ja immer anders als man denkt. Die ersten freien Wahlen nach dem Krieg bescherten der Stadt einen sozialdemokratischen Magistrat, der u.a. auch die endgültige Schulgeldfreiheit beschloss.
Aber mein
Dollar war zu dieser Zeit schon umgetauscht.
Für den Rest konnte man sich damals nicht einmal 'nen Appel und'n Ei
kaufen!
Leider.