Höhlenfahrt im Weserbergland
Schließlich haben meine Bemühungen, herauszufinden, wer oder welche Späläogruppen im Weserbergland aktiv sind, doch noch Früchte getragen.
Der Betreiber des Steinbruchs hatte bei den Arbeiten zufällig einen Hohlraum freigelegt und die weiteren Arbeiten daraufhin sofort eingestellt. Eine Untersuchung der Kluft durch den örtlichen Späläoverein ergab, dass es sich um ein ausgedehntes Höhlensystem handelte, was niemand dort vermutet oder für möglich gehalten hatte, zumal es sich um ein Kluftsystem ohne äußere Zugänge handelte. Das erinnerte doch sehr an die Legende des Rattenfängers von Hameln, der, nachdem die Stadtväter ihm den Lohn für die Beseitigung der Rattenplage verweigert hatten, die Kinder in den Berg führte. Sie wurden nie wieder gesehen.
Der Steinbruchbetrieb in diesem Bereich wurde aufgegeben, nach Westen verlagert und die Höhle unter Naturschutz gestellt. Die Erforschung und Vermessung übernahm die örtliche Späläogruppe. Über den Steinbruchbetrieb kam ich an die Adresse und schrieb nun an den Leiter der Gruppe in Rinteln. Unsere Bewerbung als Höhlengruppe des DAV Hamburg war erfolgreich und wir wurden zu einem Kennenlernen eingeladen.
Ich besuchte Bodo Schillert zu Hause in Rinteln. Er bewohnte mit seiner Frau ein bescheidenes Nurdahaus (Nur Dach Haus) in Rinteln, vollgestopft mit Fossilien, wie wir sie auch schon gefunden hatten. Er erklärte uns die selbstauferlegten Regeln zur Befahrung der Höhle. Dazu gehörte, dass auf halber Strecke der Schlaz (Schlufanzug) Handschuhe und Stiefel gegen sauberes Zeug getauscht wird, um die weitere Strecke nicht mit Schlamm zu kontaminieren. Das haben wir gerne zugesagt, entsprach es doch auch unserer Einstellung, in Höhlen keine Spuren der Befahrung zu hinterlassen und nichts zu verändern oder gar zu zerstören. Der Besuch endete mit einem gemütlichen Kaffeetrinken bei den Schillerts mit frisch gebackenem Kuchen und der Verabredung, Mitte April eine gemeinsame Höhlenfahrt zu unternehmen.
Wir trafen uns wie verabredet Mitte April in der Nähe des Steinbruchs. Um die Höhle sicher zu verschließen, hatte der örtliche Verein großen Aufwand betrieben. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Deckel geöffnet war und einer nach dem anderen auf dem Bauch liegend durch die enge Öffnung kriechen konnte. Als ich um die Ecke schaute, sah ich dort ein halbes Kaninchen liegen und auch viele Federn. Drei graue Federbällchen schauten mich mit großen Eulenaugen an, ein Uhu hatte genau hier seinen Horst. Was nun? Ich hatte mich also nicht getäuscht, und aus den Augenwinkeln einen großen braunen Vogel gesehen, der zwischen den Bäumen hindurchhuschte. Der Uhu ist die einzige Eule, die auch am Tage jagt, und dieses halbe Karnickel zeigte, mit wem wir es zu tun hatten. Vorsichtig wurden die Junguhus etwas beiseite geschubst und wir verschwanden möglichst schnell im Berg, um nicht weiter zu stören.
Was wir indessen im Licht unserer Karbidlampen zu sehen bekamen, wäre uns in den kühnsten Träumen nicht in den Sinn gekommen. Die flache, lehmige Schlufstelle (Engstelle, in der man sich nur auf dem Bauch liegend vorwärts bewegen kann) erweitere sich schnell zu einer geräumigen Halle mit wunderbaren Versinterungen, genannt der Vorhang
und das Haifischmaul
. Im weiteren Verlauf sahen wir hier auch einige Experimente der Universität Hannover, das Wachstum der Stalagmiten betreffend. Bloß nicht mit der nackten Hand die Auftrefffläche der Stalagmiten berühren, das Hautfett unterbricht das Wachstum für hunderte von Jahren. In solchen Höhlensystemen reagiert alles ausgesprochen sensibel gegen äußere Einflüsse. Stalagmiten wachsen
in hundert Jahren etwa acht bis 15 Millimeter. Um die Höhe von einem Meter zu erreichen, braucht es etwa zehntausend Jahre; die Natur hat Zeit.
Vorsichtig schlängeln wir uns um die Versinterungen herum, um nichts abzubrechen, dann werden wir aufgefordert, die verschmutzte Kleidung abzulegen. Nach dem Geistergang
mit seinen schönen Tropfsteinen folgt das Kleinod
der Höhle. Wir dürfen anstehende Aragonitkristalle von nie gesehener Schönheit bewundern. Aragonit, nach einer Provinz in Spanien benannt, ist uns auch als Eisenblüte
bekannt. Es handelt sich um Kalziumkarbonat und entsteht in stillen, kalziumgesättigten Gewässern. Durch Verdunstung des Wassers bilden sich hauchfeine Kristallnadeln, die kreuz und quer übereinander gelagert, mit der Zeit zusammenwachsen. Das Ergebnis dieses Prozesses bringt erstaunliche Gebilde hervor, die allesamt als Späläothemen bezeichnet werden. Dazu gehören auch die Kristallbäumchen, die scheinbar gegen die Schwerkraft wachsen. So etwas haben wir in Frankreich, in der Provence, bereits gesehen und auch fotografiert. Auch damals war Wolfgang schon mit dabei gewesen.
Bodo hatte viel Geduld mit uns und wir durften wirklich alles ansehen, wofür wir sehr dankbar waren, denn er war nicht mehr der Jüngste und die Höhlenfahrt strengte ihn sichtlich an. Eine kleine Wasserfledermaus, erkennbar an ihren großen Füßen, hängt an einer Versinterung und zeigt an, dass es einen Zugang nach draußen geben muss, der aber für uns Menschen viel zu klein ist. Im Geistergang erneutes Umziehen, jetzt in die lehmigen, dreckigen Sachen zu schlüpfen, ist gar nicht so einfach. Dann wieder durch den engen Deckel nach draußen, vorbei an den drei Uhuküken, die um einen frisch erbeuteten Vogel herumhocken. Die Uhueltern müssen also in der Zwischenzeit dagewesen sein und haben die Kleinen gefüttert. Die Störung wurde uns nicht übelgenommen.
Auf der Hütte haben wir uns dann mit Kaffee und Kuchen für die wunderbare Höhlenführung bedankt und Bodo verabschiedet. Er hat uns, trotz seines hohen Alters, ein unvergessliches Höhlenabenteuer ermöglicht. Vielleicht war es auch für ihn das letzte Mal in dieser Höhle, er äußerte sich einmal so in einem unserer Gespräche.
In der folgenden Woche hörte ich etwas aus Rinteln, was mich sehr traurig stimmte. Bodo hatte mit dem NABU gewaltig Ärger bekommen. Was wir nicht wussten, der Uhu-Horst wurde von NABU-Leuten Tag und Nacht bewacht und unsere Aktivitäten sind denen natürlich nicht verborgen geblieben. Schwerste Vorwürfe musste er sich nun gefallen lassen. Es hat uns sehr leidgetan, dass die Geschichte so hoch aufgebauscht wurde, ist doch den Küken nichts geschehen. Die Uhueltern haben fleißig weiter gefüttert und die Störung durch uns Höhlis weniger tragisch genommen als die NABU-Leute, die den Vorfall jetzt unnötig aufbauschten. Für den alten Mann, ein Nagel zum Sarg, das hätte nicht sein müssen.