Start ins Leben 1939 in einem kleinen Eifeldorf
Kapitel 1
Start ins Leben
Am 17. Oktober 1939, einen Tag vor meiner Geburt, war die Kartoffelernte in vollem Gang. Meine Mutter Veronika Fink war noch voll im Einsatz. Eine schwere Arbeit, mit dickem Bauch die Knollen aus der Erde zu hacken. In der Eifel, ein schwerer, steiniger Lehm-Schieferboden. Seit sechs Wochen saß meine Mutter auf gepackten Koffern und wusste nicht, wo sie entbinden sollte. Jeden Tag konnte die Familie evakuiert werden.
Die Westwall-Linie zog sich an unserm Ort Eicherscheid vorbei. Ich bin also ein sogenanntes Kriegskind.
Am 18. Oktober 1939 erblickte ich das Licht der Welt. Es war eine Hausgeburt. Die Hebamme, Frau Winkhold, war ganz begeistert von mir. An mir war alles dran. Es wurde beschlossen, dass ich am gleichen Tag getauft werden sollte. Meine Eltern, Alois und Veronika, wollten es nicht verantworten, mich als ungetaufte Heidin auch nur eine Nacht ohne Gottes Segen zu lassen. Jederzeit konnte der Befehl kommen, die Heimat zu verlassen.
Meine Namen verdanke ich Großmutter Katharina und meiner Patin Tante Klara. Laut Geburtsurkunde heiße ich Klara Katharina. Um Verwechslungen auszuschließen, wurde ich Käthchen gerufen. Im Erwachsenenalter habe ich daraus Kathy
gemacht, obwohl ich Katharina auch gut finde.
Mein Bruder Paul wurde am 23. September 1941 geboren. Daran habe ich keine Erinnerung. Mit Paul habe ich mich immer gut verstanden. Als Kind war er unkompliziert und machte alles, was ich wollte. Wir waren Wunschkinder, auch wenn die Welt aus den Fugen geriet. Meine Erinnerung als Kind beginnt mit dem vierten Lebensjahr. Wir hatten einen kleinen Bauernhof, ein Fachwerkhaus mit Stallungen und Scheunen. Es gab Kühe, Schweine, Kälber, Hühner, Kaninchen, Pferde und Schafe. Auch hatte ich eine grau getigerte Katze. Das Haus war auf der Westseite von einer hohen Schutzhecke umgeben. Ein Schutz vor den rauen Westwinden, die vom Hohen Venn herüberwehten. In 550 Metern über dem Meeresspiegel kann es ganz schön stürmen und ungemütlich werden. Es wurde nur ein Raum beheizt, dort spielte sich alles ab. Ein großer Säulenofen sorgte für Behaglichkeit. Bratäpfel und eine Kanne Tee waren immer vorrätig. Meine Haarschleifen hat meine Mutter immer am Ofen glattgebügelt. Ein dickes Ofenrohr war durch die Zimmerdecke ins Obergeschoss gelassen. Der obere Raum, das Elternschlafzimmer, wurde dadurch temperiert. Jeden Abend mussten Paul und ich Punkt sieben den hölzernen Berg
hinauf. So nannten wir die Treppe ins Schlafzimmer.
Auf leisen Sohlen schlichen wir uns oben ans Ofenrohr. Ein Finger breit war das Rohr von den Dielen entfernt. Durch den Spalt konnten wir hören und sehen, was es Interessantes in der Stube gab, Mutter nähte und strickte unermüdlich. Aus der Schafwolle, die erst gewaschen und gesponnen wurde, entstanden dicke kratzige Pullover. Vater schnitzte aus Holz Rechenzähne für Holzrechen, die während der Heuernte im Sommer benutzt wurden. Und er flocht Körbe für die Obst- und Kartoffelernte aus Weidenruten.
In der Vorweihnachtszeit zog der Duft von gebackenen Plätzchen nach oben. Mama sagte immer, das Christkindchen bäckt
. In großen Milchkannen wurden die Plätzchen für Weihnachten aufgehoben. Das wussten wir und haben davon genascht. Natürlich schmeckten die besonders gut. Waren wir oben am Ofenrohr endlich müde, schlichen wir in unsere Betten. Die Zimmer lagen nebeneinander, aber die Tür blieb offen. Leise haben Paul und ich noch Ecken raten
oder Namen raten
gespielt, bis einer von uns keine Antwort mehr gab.
Der Krieg nahm immer schlimmere Formen an. Wir Kinder haben davon nichts gespürt. Von den Eltern und Großeltern wurden Pläne erdacht, was mit der Landwirtschaft passieren würde, wenn die Söhne in den Krieg müssen? Onkel Josef, mein Patenonkel, wurde zuerst eingezogen. Er kam nach Frankreich, in die Normandie.
Mein Vater wurde immer wieder zurückgestellt, weil er mit Pferd und Wagen ausgestattet war. Im Dienst für Führer, Volk und Vaterland
musste er für andere die Feldarbeit mit erledigen, deren Söhne schon im Krieg waren. Doch dann bekam mein Vater doch die Einberufung. Am Tag vor seiner Abreise hat er ein letztes Foto von uns gemacht. Die Gesichter meiner Eltern sind sehr traurig, wie das Bild zeigt. Meine Mutter hat Papa mit dem Pferdefuhrwerk nach Konzen zur Bahn gebracht. Wir bekamen Arbeiter zugeteilt, auch eine Frau, die, wie Mama sagte, Richard von der Arbeit abhielt. Luba, so hieß die junge Frau, war mit ihrem Mann in Eicherscheid, er war aber auf einem anderen Hof untergebracht. Es war streng verboten, dass beide im gleichen Hause wohnen, aber Mama hat bei Dunkelheit erlaubt, dass sie sich heimlich bei uns treffen konnten. Sie ging damit zwar ein Risiko ein, aber die beiden taten ihr leid. Ihre kleine Tochter wohnte mit Luba in unserm Haus, mit ihr hatte ich mich angefreundet. Die zugeteilten Arbeiter waren polnische Kriegsgefangene.
Der Westwall und die Höckerlinien, so nannte man die Panzersperren, wurden errichtet, auch durch unsere Felder, die wir zum Teil nicht mehr beackern konnten. Später hat meine Mutter erfahren, dass mein Vater in russische Kriegsgefangenschaft gekommen ist. Es kam nie ein Lebenszeichen von ihm. Trotzdem versicherte sie uns jeden Tag, dass Papa noch am Leben ist und wir haben ihn jeden Abend ins Abendgebet eingeschlossen. An der Wohnzimmerwand hing ein Foto, Papa lachend, mit Hut und einer dicken Zigarre. So behielten wir Kinder ihn in Erinnerung. Wie wir später erfahren haben, war Papa in Russland am Weißen Meer in Archangelsk.
Nun waren mein Vater Alois und mein Pate Onkel Josef im Krieg. Onkel Josef, genannt Pat
, war unverheiratet und lebte mit auf dem Bauernhof. Meine Mutter Veronika, die Großeltern Matthias und Katharina Fink sowie mein Bruder Paul und ich lebten jetzt allein auf dem Hof. Als Hilfe bekamen wir Richard, einen Polen, zugeteilt. Er half bei der Landwirtschaft. Es wurde ein Planwagen gebaut und für den Tag einer schnellen Flucht vorbereitet. Da wir Grenz- und Kampfgebiet waren, mussten wir täglich damit rechnen, unsere Heimat verlassen zu müssen. Dreimal sind wir nachts zur Düvelsley mit den Milchkühen und dem Planwagen gezogen. Ich habe das lustig gefunden mit der Taschenlampe und den dicken Federbetten im Planwagen. Opa hat, mit einem dicken Knüppel bewaffnet, unter dem Planwagen gelegen und Wache geschoben. So haben wir uns sicher gefühlt wie in Abrahams Schoß. Einmal hatten wir auch Kaninchen mit, morgens waren sie verschwunden. Die Kühe wurden von Hand gemolken und die Milch gleich wieder verwendet. Erst haben wir uns satt getrunken, anschließend haben die Kühe die Milch wieder gesoffen. Wenn die Luft rein war, wie Opa sagte, ging es zurück nach Eicherscheid.
In der Zwischenzeit war unser Haus geplündert worden! Von wem? Mama sagte, das können nur welche gewesen sein, die das Dorf nicht verlassen hatten. Die Schinken im Räucherofen, auch sie waren verschwunden. Jeder war sich jetzt selbst der Nächste. Danach haben wir einige Nächte im Keller übernachtet, aus Angst vor den Bomben der Alliierten. Am nächsten Tag schien die Sonne wieder über unserm kleinen Eifeldorf. Die meisten Männer waren nun im Krieg und die Frauen mussten sehen, wie sie mit Haus, Hof und Kindern allein klarkamen.
Eines Tages stand ich vor unserer Haustür und blinzelte in den blauen Himmel … Plötzlich fiel ein komischer Stein aus der Luft, genau an meinem Kopf vorbei. Ich hob ihn auf und ließ ihn gleich wieder aus der Hand fallen, er war so heiß, ich hatte meine kleinen Hände verbrannt. Erschrocken rief ich nach meiner Mutter. Sie sagte, das ist ja ein Granatsplitter, du hast einen guten Schutzengel gehabt
. Fortan mussten wir uns verstecken, wenn Flugzeuge im Anflug waren. Unsere Hecken boten genügend Schutz.
Die Front rückte immer näher. Die Höckerlinie, eine sogenannte Panzersperre, entlang der Grenze zu Belgien war fertiggestellt, somit sollte der Feind nicht weiter vordringen können. Wir bekamen 1944 den Befehl, Eicherscheid zu verlassen. Unser Vieh wurde von der SS aus den Ställen getrieben, das Brüllen und Schreien der Tiere hatte ich noch lange im Ohr. Es ging mit Pferd und Planwagen bis nach Dedenborn. Dort verbrachten wir die erste Nacht. Mama hatte den Kinderwagen voll Decken gepackt und schob ihn hinter dem Planwagen her. Opa, Oma, Paul und ich saßen auf dem Wagen, der von unserm Pferd Max gezogen wurde. In Etappen ging es bis Merzbach. Geschlafen wurde meistens in Kuhställen oder Scheunen. Oft ging es tagsüber nicht weiter, weil wir von Fliegern unter Beschuss genommen wurden. Opa wollte nicht über den Rhein, er hatte Angst, wir kämen nicht mehr zurück aus Furcht, das könnte eines Tages die deutsche Grenze werden. Eine Rückkehr wäre dann wohl ausgeschlossen.
In Merzbach bei Rheinbach fanden wir in einer Gastwirtschaft ein Quartier. Das kinderlose Ehepaar Anna und Toni Mahlberg hat uns gut aufgenommen. Wir Kinder nannten sie Onkel und Tante Mahlberg. Mama half im Haushalt und Opa in der Landwirtschaft. Bei einem Bombenangriff kam unser Pferd Max ums Leben, und wir verloren unsere ganze Habe. Das Haus wurde getroffen und wir mussten in den Keller ziehen. Ein alter Weinkeller mit dickem Gewölbe, relativ sicher. Dort habe ich in großer Angst viele Stunden meiner Kindheit verbracht. Wenn feindliche Flugzeuge angriffen, ging der Alarm los, und alle flohen in den schützenden Keller. Vor lauter Angst fing ich an zu stottern. An einem Tag im Mai mussten wir alle auf die Straße und weiße Tücher schwenken. Amerikanische Soldaten fuhren mit Panzern durch den Ort, die Menschen lachten und meinten, der Krieg ist vorbei
.
1945 im Mai war der Krieg dann endlich vorbei und wir konnten nach Eicherscheid zurück. Viele Häuser waren zerbombt, abgebrannt, dem Erdboden gleichgemacht. Unser Haus war schwer beschädigt. Opa hat einen Raum notdürftig hergerichtet. Alte Säcke in Türen und Fenster festgenagelt. Eine Familie Nußbaum aus Merzbach hat uns mit dem Pferdefuhrwerk nach tagelanger Fahrt nach Hause gebracht. Mein Opa hatte Saatgut und Saatkartoffeln bekommen und sofort den Acker bestellt. Drei Hühner und eine Milchkuh hatten wir von Merzbach mitgebracht. Gehungert haben wir nicht. Meine Mutter und Oma waren sehr erfinderisch. Gerste vom Vorjahr wurde noch gefunden und Oma röstete daraus den berühmten Muckefuck (Malzkaffee). Rüben gab es auch noch, daraus wurde ein schmackhafter Sirup hergestellt.
Küchengeräte und Porzellan hatte meine Mutter vor der Flucht im Garten vergraben. Vieles war von den Panzern zerstört worden, aber einige Sachen waren noch erhalten geblieben. Aus Stahlhelmen wurden Küchensiebe gemacht. Immer mehr Menschen kamen in unser Dorf zurück. Jeden Tag gab es neue Meldungen über vermisste oder tote Soldaten. Wir Kinder durften auch nicht in Wald und Wiesen spielen, überall lagen noch Minen herum. Aus der Zivilbevölkerung wurden noch manche durch Minen und Granaten getötet.
Im Herbst 1945 sollte mein Leben sich verändern, aber das ist ein anderes Kapitel …