Start ins Leben 1939 in einem kleinen Eifeldorf
Kapitel 3
Aufklärung (1947)
Januar 1947, ein kalter Wintertag in der Eifel. Die Landschaft tief verschneit. In der Stube wurde der Säulenofen beheizt, es war kuschelig warm, wenn ich aus der Schule kam. Es gab gleich Mittagessen und danach habe ich meine Hausaufgaben gemacht. Ich war im zweiten Schuljahr, Ostern sollte ich in die dritte Klasse kommen.
Aber an diesem 18. Januar war alles anders als sonst. Mein Patenonkel Josef empfing mich an der Tür und sagte: Heute darfst du ausnahmsweise zu deiner Freundin Martha zum Spielen. Nimm Paul mit
- das war mein kleiner Bruder. Meine Freundin wohnte zwei Häuser weiter. Das kam mir alles komisch vor, von Mama keine Spur.
Mit meiner Freundin spielen, war in jedem Fall verlockend. Mein Onkel, der aus der Kriegsgefangenschaft zurück war, lebte mit im Haushalt. Er war streng mit uns Kindern, meinem Bruder und mir. Im Krieg hatte er das linke Bein verloren und ging an Krücken. Für uns Kinder war es immer hörbar, wenn er im Anmarsch war, und wir machten uns unsichtbar.
Ihr kommt nicht eher nach Hause, bis ich euch abhole
, sagte er noch, bevor wir zu meiner Freundin gingen. Das war ja ganz neu! Der Nachmittag verging wie im Flug. Es wurde schon dunkel, aber kein Onkel in Sicht. Die Mutter meiner Freundin meinte, lange kann es nicht mehr dauern. Plötzlich hörten wir die bekannten Stöcke von meinem Onkel im Flur. So, nun könnt ihr mit nach Haus kommen, wir haben einen großen Jungen bekommen
. Wieso, einen großen Jungen, ich habe schon einen Bruder. Der reichte mir!
Ich verkroch mich in der Schlafstube unter ein Bett und wollte nicht nach Hause. Mein Onkel stocherte mit den Krücken unter dem Bett und forderte mich auf, du kommst sofort heraus
. So blieb mir nichts anderes übrig. Später, im Schlafzimmer meiner Eltern, lag ein kleines gewickeltes Baby im Kinderbett. Das ist der große Junge?
war meine erstaunte Frage, der ist ja süß
. Ja, damit konnte ich leben. Auf meine Frage: Wo kommt er denn her?
, sagte meine Mutter: Dein Brüderchen ist vom Himmel gekommen und hat euch eine Apfelsine mitgebracht
.
Wie ist das möglich, habe ich gedacht, wie soll ein Baby mit den kleinen Händen eine Apfelsine tragen? Eine Apfelsine hatten mein Bruder und ich noch nie gesehen, oder geschmeckt. Vorsichtig wurde die Schale abgemacht, die Apfelsine wurde zerteilt, wir durften nur kleine Stücke abbeißen, damit wir länger davon genießen konnten. Den Geschmack spüre ich noch heute.
Mein Bruder bekam den Namen Engelbert
. Mein Vater war am 7. November 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurück gekehrt. Das Datum wurde als Namenstag genommen, es sollte an seine Heimkehr erinnern. Bei uns wurden keine Geburtstage gefeiert, sondern Namenstage. Am 7. November steht der Name Engelbert im Namenstagkalender. So erhielt mein Bruder seinen Namen.
Aufklärung fand auch später nicht statt. Selbst als noch zwei Schwestern 1951 und1954 geboren wurden, Hildegard und Nesthäkchen Bernadette, wurde ich nicht aufgeklärt. Meine Freundin hatte drei ältere Geschwister und durch sie kam ich doch allmählich dahinter. War es so wie beim Bullen, der eine Kuh bestieg und neun Monate später war ein Kälbchen da?
Mit 14 Jahren im Religionsunterricht hat unser Pastor uns eindringlich vorm Küssen gewarnt. Zungenküsse sind eine Todsünde. Keine Jungs anschauen, nicht berühren lassen. Das sah alles nicht so gut aus für uns Mädchen.
Mit 18 Jahren durfte ich auf den Tanzboden. Es war Dorfkirmes und wir Mädchen hatten ein neues Tanzkleid. Wir waren alle sehr aufgeregt. Mein Vater spielte in der Tanzkapelle die Trompete und hatte wohl auch ein Auge auf mich. Ich wurde zum Tanzen von einem jungen Mann aufgefordert. Mittlerweile hatte ich keine Angst mehr vor großen Jungs. Es machte Spaß, ich hätte tagelang tanzen können. Später versuchte er mich zu küssen, ich habe die Lippen ganz fest zusammen gepresst, bloß keine Todsünde begehen und ewig in der Hölle schmoren. An dem Abend blieb es bei dem einen Versuch. Wenn früher Mädchen schwanger wurden, mussten sie heiraten. So sind viele Ehen entstanden, die bestimmt sonst nie zustande gekommen wären. Die Zeiten haben sich geändert, das ist auch gut so.