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Prolog

Dies ist die Geschichte eines kleinen Mädchens, das Vertreibung, Entbehrungen, Vergewaltigungen, schlimme Krankheiten erfahren und den Tod ihrer ganzen Familie mit ansehen musste. Jahrzehntelang hat die Autorin das mit sich herumgeschleppt. Die Zeit hat diese Wunden nicht geheilt. Sie hat ein redliches Leben geführt und sich jetzt erst, im Alter vorgenommen, das aufzuschreiben, was sie damals erlebt hat. Sie hat sich damit ein Trauma von der Seele geschrieben, ohne Rachegefühle, ohne Ressentiments. Nach all den schlimmen Erlebnissen, denen sie als einzige ihrer Familie entkommen war, fasst sie ihre Botschaft so zusammen:

Möge die Einsicht derjenigen, die die Geschicke der Völker zu lenken haben, verhüten, dass kommende Generationen ein ähnliches Schicksal erdulden müssen.

~·~

Es endete in Charkow

Es waren auch Kinder unter ihnen, deutsche Kinder, unter den Kriegs- und Zivilgefangenen in Russland. Kinder unter Deutschen, Polen, Franzosen und Italienern. Es war ein Haufen grauer Wesen, in Charkow, im Lager des Todes. Ihre Seelen sind vergiftet worden, durch das Bittere, das sie erlebten. In diesem Lager, das mir als Kind so unendlich groß erschien, war ein jeder des anderen Feind.

Doch ich will von Anfang an berichten, wie es kam, dass ich als Zehnjährige dieses Grauen und Elend miterleben musste.

Die letzte Weihnacht zu Hause in Burdungen, Kreis Neidenburg.

Weihnachten 1944 war es nicht mehr so schön wie in den Jahren davor. Die Verdunkelung wurde früh herunter gezogen. Beim Füttern der Tiere wurden die Laternen in den Ställen abgedunkelt. Doch wir waren zu Hause und das war unser schönstes Geschenk. Wir Kinder hörten schon das Flüstern im Wohnzimmer. Im ganzen Haus war ein herrlicher Pfefferkuchenduft. Willi, mein neunjähriger Bruder und ich hatten schon unsere Sonntagssachen an. Es war Heiligabend und unsere Herzen schlugen in froher Erwartung. Von draußen ertönte Glockengeläute und der Weihnachtsmann im großen roten Mantel trat herein. Mama führte uns in die gute Stube. Ein herrlicher Tannenbaum strahlte uns dort entgegen. Bangen Herzens sagten wir unsere Gedichte auf. Wir bekamen schöne wollene Sachen, denn unsere Mutter spann und strickte alles selbst. Unter dem Tannenbaum erblickte ich ein Püppchen, das ich mir so sehr wünschte. Wir sangen wie immer unsere Weihnachtslieder. Irma, meine vierzehnjährige Schwester, spielte auf der Blockflöte und alles war eigentlich so traut wie immer, nur die Kanonenschüsse, die wir ab und zu hörten, passten nicht zu dieser Stimmung.

Und dann kam 1945…

Feindliche Flugzeuge über uns

Russische Flugzeuge hatten wir noch nie gesehen, doch nun flogen sie über uns wie große Raubvögel. Die Gehöfte waren bei uns sehr weiträumig gebaut, trotzdem wurden mehrere getroffen und brannten nieder. Unser Hof jedoch blieb stehen, wie von einem guten Geist geschützt, obwohl er ziemlich frei lag mit seinem großen Wohnhaus, zwei Ställen und einer Scheune. Auch die Flüchtlingstrecks auf der Straße waren bedroht. Auf alles was sich bewegte, wurde geschossen. Viele Pferde wurden getroffen und mancher Wagen blieb auf der Strecke. Die meisten Einwohner unseres Dorfes schlossen sich den Trecks an. Nachbarn kamen zu uns und baten um Pferde. Wir gaben vier Pferde ab, zwei behielten wir. Unsere Mutter hatte viele Sorgen, denn Vater war nach dem Polenfeldzug gestorben, alles lastete seitdem auf ihr. Wenn die Flieger kamen, setzen wir uns in die Ecken, zitterten vor Angst und warteten darauf, dass jeden Moment das Dach über uns zusammenstürzen würde. Doch es passierte nichts. Mutter erklärte mit fester Stimme, wir werden den Hof nicht verlassen, wir müssen bleiben, was auch komme, das Vieh muss doch versorgt werden. Aber es wurde schlimmer und schließlich unerträglich. Wir entschlossen uns nun doch, den Hof zu verlassen und zu unserer Großmutter nach Michelsdorf, einem versteckten Dörfchen, zu fahren, wo wir uns sicherer glaubten.

Die Fahrt war schlimm. Wir mussten den Wagen verlassen, weil er ständig beschossen wurde. Wir ließen den Kutscher vorfahren und gingen abseits der Wege durch den Wald. Bei Oma fanden wir uns vollzählig wieder. Aber auch dort fühlten wir uns nicht sicher und gingen mit der Großmutter weiter zu einer bekannten Familie, die mitten im Wald an einem versteckten See wohnte.

Es waren schon etliche Leute dort und das Haus war voll. Alles flüchtete vor dem drohenden Unheil hierher in den Wald. Ich weiß nicht, wie lange wir uns dort versteckt hielten, bis uns die Russen doch fanden. Das Knallen war schon sehr nah, weit konnten sie nicht mehr sein. Abends sahen wir über den See nach Passenheim, die Russen waren dort schon einmarschiert. Über den See konnte man deutlich Schüsse hören und die Leuchtkugeln erkennen.

Die folgende Nacht war schrecklich. Auf dem Hof heulten die Hunde, es klang schaurig durch den Wald, dieses Heulen. Ängstlich kroch ich hinter den Schrank. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen und lehnte auch ein verlockendes Schinkenbrot ab, das mir Mutter entgegen hielt. In der guten Stube, die von Kerzenlicht erleuchtet war, sah ich einige Leute innig beten. Plötzlich peitschten Schüsse durch die Stille. Eine Horde wilder Männer stürmte in das Haus. Mein Herz schlug, als wollte mir die Brust zerspringen. Alle standen auf und erhoben die Arme. Auch ich kroch aus meiner Ecke hervor und hob verwirrt die Hände hoch. Wir wurden zur Seite geschoben wie tote Gegenstände. Ich hörte sie schreien Uuhri?! oder Frau komm! Ich wusste damals noch nicht, was es bedeutete, dass meine Mutter und meine Schwestern, Irma und Ulla, die erst 14 bzw. 16 Jahre alt waren, in den fürchterlichen Stunden, die dann kamen, ständig aus dem Zimmer herausgeholt wurden.

Die versteckten Mädchen

Unter schrecklichen seelischen und körperlichen Qualen lebten wir hier noch einige Tage. Die Pferde wurden fortgeholt, Hunde und alles Getier, was den Russen im Wege war, wurde einfach niedergeschossen. Obwohl ich auf einem Bauernhof groß geworden bin, habe ich hier zum ersten Male Blut gesehen. War es auch nur Blut von Tieren, so floss es doch in großen Lachen auf dem Hof. Es kamen ständig neue Soldaten zu uns und die Mädchen wurden immer wieder herausgeholt. Schließlich machte jemand den Vorschlag, sie im Kartoffelkeller zu verbergen, sobald die Russen aus dem Hause seien. So kam es dann auch. Essen und Trinken wurden in den Keller gebracht und dann mussten alle Mädchen, die im Hause waren, hineinkriechen. Die Luken wurden mit Brettern vernagelt und Kartoffeln darüber geschüttet. Dieses Versteck erschien den Erwachsenen einigermaßen sicher und trotz der schlechten Luft dort unten werden die Mädchen wohl endlich aufgeatmet haben.

Man soll nicht denken, dass alle Russen gleich waren. In diesem Haus erlebte ich wohl alle Charaktere, die es im russischen Volke gab. Ich habe noch gut in Erinnerung, wie eines Tages ein Soldat kam und uns Kindern Zuckersachen und Fladenbrot schenkte. Wir starrten ihn voller Misstrauen an. Doch er setzte sich auf einen Stuhl, nahm Willi und mich auf seinen Schoß und drückte unsere Köpfe an seine Brust. Ich sah in seine feuchten Augen, als er erklärte, er habe auch zwei so liebe Kinder in Russland. Dieses Idyll wurde leider bald durch ein paar hereinstürmende, betrunkene Soldaten gestört. Wo Mädchen? wurden wir angebrüllt.

Unsere Mutter und die andere Frauen beteuerten, dass die Mädchen nicht mehr hier seien. Man glaubte ihnen nicht und einer behauptete, dass er hier noch vor kurzem Mädchen gesehen habe. Wir sollten ihnen sagen, wo sie sind, sonst würden wir alle erschossen. Plötzlich sagte einer der Russen, ein Offizier habe draußen einen Handschuh verloren, wir sollten alle hinausgehen und ihn suchen. Nach einiger Zeit wurden wir wieder hereingerufen. Der Handschuh hätte sich angefunden, sagten sie und verließen das Haus. Auf dem Herd stand mit einem Male ein Topf mit Fleisch und Kartoffeln. Wahrscheinlich hatten ihn die Russen für uns hergebracht. Wir freuten uns, denn wir hatten schon lange nichts Warmes mehr gegessen. Neugierig schauten die Frauen nach, ob das Essen schon gar sei, aber ein komischer Geruch kam aus dem Topf. Die Kartoffeln waren ganz grün, das Essen war wahrscheinlich vergiftet. Oma nahm den Topf und schüttete das Essen auf den Misthaufen.

Wir sollten nicht lange allein bleiben; bald kamen die Russen wieder zurück, die uns vor einer Stunde verlassen hatten. Wollten sie etwa schon eine Leichenbesichtigung vornehmen? Wir wurden wieder heraus getrieben. Wo Mädchen, schrieen sie uns wieder an. Mädchen nicht da, sagten die Frauen etwas kleinlaut. Im Hause wurde alles umgewühlt, ein Russe kam herausgestürzt. Was das seien schrie er uns an und hielt uns eine kleine Bernsteinnadel mit einem Hakenkreuz vor die Nase: Ihr alle Nazis seien, brüllte er, sein Kopf färbte sich dunkelrot.

Die Hände wurden uns auf dem Rücken zusammengebunden und die Taschen durchsucht. Wir wurden an die Wand gestellt. Es war ein schrecklicher Moment. Mein Bruder und ich schrieen: Mama, Mama, wir möchten doch so gerne noch leben! Meine Mutter brach in Tränen aus.

Plötzlich stutzten alle, zwei Offiziere kamen auf den Hof, gingen ins Haus und riefen die Soldaten hinein. Es wurde lange in Russisch geredet, wir verstanden das natürlich nicht. Dann wurden wir wieder gefragt, ob Mädchen im Haus seien, was die Frauen wieder verneinten. Nun nahmen sie uns die Fesseln ab und wir wurden vom Hof gescheucht. Jetzt erst merkten wir, dass wir nicht mehr wieder kommen sollten. Einige der Frauen, auch unsere Mutter liefen zurück und riefen außer sich vor Angst, dass im Keller noch unsere Mädchen seien. Die Luke wurde aufgerissen und die jungen Frauen herausgezerrt. Die Wut der Russen war unbeschreiblich. Einige schossen mit ihrer Kalaschnikow Salven zunächst nur in die Luft. Da fasste uns Mutter an den Händen und wir rannten um unser Leben. Als die Russen das sahen, schossen sie scharf auf uns. Die Mädchen wurden fast alle getroffen, auch unsere Großmutter, sie konnte ja nicht mehr so schnell laufen. Wie durch ein Wunder überlebten Gott sei dank meine Schwestern Irma und Ulla die Schießerei. Wir stolperten über Gräben und durch Schnee, an toten Menschen und verhungerten Tieren vorbei, als wir plötzlich zwei Russen sahen, die auf uns zukamen und uns ansprachen. Wir standen tausend Todesängste aus, aber sie taten uns nichts, sondern führten uns zu einem kleinen Häuschen. Dort wohnte ein alter, offenbar blinder Mann. Zu unserer Überraschung waren die Russen sehr freundlich. Sie gaben uns Tee, Zucker und Suchari.

Suchari ist in Russland die Marschverpflegung. Es sind getrocknete Brotscheiben, hart wie Stein, aber in Tee aufgeweicht, kann man sie gut essen. Einer der Russen konnte ein wenig deutsch. Mama wollte natürlich unbedingt wissen, ob unser Hof noch steht und fragte ihn, ob er glaube, dass wir bis Burdungen durchkämen. Er sagte, wir sollten uns erst ein wenig ausruhen und schimpfte, dass wir zu leicht angezogen seien. Mutter erklärte ihnen, dass wir von ihren Kameraden fortgetrieben wurden. Sie brachten uns ein paar alte Mäntel und weiße Laken, die wir uns über die Rücken hängen sollten. Sobald wir einen Panzer oder nur einen Soldaten sähen, sollten wir uns sofort in den Schnee werfen. Wir nahmen Abschied und sie wünschten, dass wir durchkämen.

Zurück nach Burdungen

Unser Weg nach Burdungen führte an vielen Toten vorbei, es war grauenvoll. Wir hatten ständig Angst. Kamen wir auf eine Straße, richteten schon mal einige der vorbeifahrenden Russen ihre Gewehre auf uns und schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel, wenn wir uns hinter den Bäumen versteckten oder in den Schnee warfen.

In Burdungen grüßte uns schon von weitem unser Haus. Wir standen wie vor einem Wunder. Langsam nahm uns Mama an die Hände und ging mit uns hinein. Schwarzhaarige Frauen (ich weiß nicht, ob es Russinnen oder Polenfrauen waren) lachten uns scheußlich aus und fragten in gebrochenem Deutsch, was wir denn hier wollten. Dies wäre ihr Haus und wir sollten uns fortscheren.

Der lange Treck beginnt

Eine Zeit lang irrten wir auf der Straße umher und überlegten uns, wohin wir nun gehen sollten. Plötzlich sahen wir eine größere Gruppe von Zivilisten die Straße entlang kommen. Es waren Deutsche, die zusammengetrieben waren. Die Posten befahlen uns einzureihen. Unsere Kolonne ging nach Gedwangen. Wir kamen in einen großen Saal, in dem schon mehrere Deutsche waren, die - wie wir - ihrem ungewissen Schicksal entgegengingen. Hier fand ich eine Tante, eine Cousine und eine bekannte Familie wieder. Es hieß, wir bekämen alle einen Schöpflöffel voll Suppe. Was tun, wir hatten doch kein Essgeschirr. Mutter fand auf dem Boden der Gastwirtschaft, in der wir waren, zwischen Taubenkot und Unrat einen großen Steintopf. Er wurde gesäubert und nun konnten wir unsere Suppe holen. Das Suppenessen war jedoch eine schwierige Sache. Einer musste den Topf halten, damit der andere daraus trinken konnte. Es kamen immer mehr Leute in den Saal. Er wurde sehr voll und es war eine schlechte Luft darin. Einmal am Tag wurden wir zum Austreten hinausgelassen. Die meisten hielten es nicht aus und mussten ihr Bedürfnis auf dem Fußboden verrichten. Ich tat das dann auch, weil uns nichts weiter übrig blieb.

Am nächsten Tage ging es weiter, nach Neidenburg hieß es. Die Kolonne wurde immer größer. Es wurden immer mehr Zivilisten, aber auch Soldaten, die in deutscher Gefangenschaft gewesen waren. Es waren Russen, Polen, Franzosen und Italiener hinzugetrieben. Sie wurden von den russischen Soldaten schlecht behandelt, man warf ihnen vor, dass sie für die Deutschen gearbeitet hätten. Auf diesem Marsch erstarrten uns vor Kälte die Glieder. Es waren wohl 10 Grad unter Null. Wieder hatte unsere Mutter Glück, sie fand an der Straße eine alte Decke, die sie mir um Kopf und Schultern hing. Langsam wälzte sich die Kolonne weiter. Meine Schuhe waren durchgelaufen. Mir war zu Mute als stürzte ich jeden Moment hin. Meine Mutter und Irma fassten mich unter die Arme. Ich konnte kaum weiter. Tragen konnte mich niemand, denn jeder war schwach und schleppte sich selbst mühsam vorwärts. Alles, was nicht Schritt halten konnte, das waren hauptsächlich alte Frauen und Männer, wurde erbarmungslos niedergeschossen und in den Straßengraben gelegt. Hinter uns ging ein Polenweib, eine kräftige Frau mit rot geädertem Gesicht. Ständig murrte sie, dass wir schneller gehen sollten, sie träte uns sonst auf die Hacken. Mühsam versuchten Mutter und Irma mich zu stützen, doch ich wurde immer schwächer und hatte plötzlich keine Kraft mehr, ich spürte einen heftigen Fußtritt und stürzte in den Schnee. Die Worte verfluchte Deutsche ließen mich erschauern. Da kam plötzlich ein Posten angelaufen, schlug auf die Polin ein und schrie: Du nicht dürfen kleine Kinder schlagen. Er hob mich auf, rieb mir die Glieder und gab mir einen Schluck Wodka. Ich weiß, dass es viele Russen gab, die uns Kinder gern mochten und trotzdem die Deutschen hassten, weil sie in ihnen nur die Faschisten sahen.

Bahnfahrt ins Ungewisse

Was weiter geschah, weiß ich nicht mehr, schleppte man mich oder ging ich selber?

Dann wurden wir mit Lastwagen durch Polen gefahren. Die Kälte war unerträglich. Auf irgendeinem Bahnhof wurde gehalten, wir mussten aussteigen. Menschen - offenbar Polen - standen umher, zeigten mit den Fingern auf uns Deutsche und johlten. Zu meiner Freude sah ich plötzlich das Polenmädel wieder, das zu Hause in Burdungen, bei unserem Nachbarn gearbeitet hatte und mit uns freundschaftlich verkehrte. Ich lief hin und streckte ihr die Hand hin, doch sie drehte sich um, sagte etwas zu einem anderen Mädel und beide brachen in helles Gelächter aus. Beschämt ging ich zur Gruppe zurück. Meine Mutter hatte uns dieses Mädchen zu Hause als Vorbild hingestellt. Das war noch gar nicht so lange her. Wie musste sie nun von ihr enttäuscht sein!

Von hier aus ging es nun mit der Bahn weiter. Wir wurden alle in Viehwaggons untergebracht, Männer und Frauen getrennt. Es war so eng, dass wir in der Hocke dicht nebeneinander gedrängt sitzen mussten. Streckte jemand die Beine aus, wurde Spektakel gemacht, so dass man sie schnellstens wieder einzog. Wir hatten großes Pech, denn wir hatten auch Polenfrauen in unserem Waggon. Obwohl die Polen in der Minderzahl waren, beanspruchten sie doch den halben Waggon für sich. Einen ganzen Tag stand der Zug auf dem polnischen Bahnhof. Es war schrecklich kalt, fingerdicker Reif war an den Wänden. Einen Ofen gab es nicht. Irgendwann kam ein Russe und hackte mit einem Beil ein Loch in den Holzboden, das war unsere Toilette. Wir saßen eng zusammengedrängt, das war für uns Kinder angenehmer. Als Reiseproviant bekamen wir eine Hand voll Trockenbrot, ein wenig Schmalz und etwas Zucker. Fast alle aßen gierig ihre Verpflegung unmittelbar nach dem Empfang auf.

Wir warteten, dass sich der Zug doch endlich in Bewegung setzen wollte. Es war zermürbend, dieses Warten. Die Waggons waren fest verschlossen, nur ganz oben waren vier kleine Fenster. Die Polenfrauen schienen zu beratschlagen, ob sie durch die Fenster fliehen könnten, doch dabei blieb es. Es war unmöglich zu fliehen, wir konnten ja noch nicht einmal hinausschauen. Endlich, in der Nacht setzte sich der Zug in Bewegung. Von nun an fuhr er oft tagelang, dann stand er wieder Stunden, manchmal auch halbe Tage auf freier Strecke, was wir durch eine Ritze in der Schiebetür feststellen konnten. Dieses Stehen war schlimm! Stand der Zug, patrouillierten Posten um den Zug und kontrollierten die Waggons. Der Hunger und die Kälte waren schrecklich. Einige kratzten den Reif, der sich durch unseren Atem an den Holzplanken bildete, mit ihren Fingernägeln ab oder leckten ihn sogar von den Wänden. Doch der Durst blieb. Ein Mal hielt der Zug in einem Dorf und es wurde Wasser geholt. Jeder bekam einen Trinkbecher voll, aber das war nach den langen Entbehrungen nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ich erinnere mich, dass ich mich ein andermal während unserer 14tägigen Fahrt satt trinken konnte. Ich wusste vor Freude nicht, was ich sagen sollte und rief laut: Mama ich bin satt, ich habe mich satt getrunken, richtig satt getrunken! Die Freude dauerte jedoch nicht lange. Nach kurzer Zeit klebte die Zunge schon wieder am Gaumen. An einem der nächsten Tage passierte dann aber doch etwas Eigenartiges. Draußen fror es Stein und Bein, trotzdem wurde einigen mit einem Male ziemlich warm und wärmer. Die mageren Gesichter wurden rot. Die Menschen redeten schreckliches Zeugs zusammen. Die vermeintliche Hitze wurde für einige unerträglich, sie fingen an, sich zu raufen und schlugen mit den Fäusten gegen die Wände. Der Posten draußen befahl uns, ruhig zu sein. Doch als er die roten Gesichter sah, lief er fort und kam bald mit einem Arzt wieder. Der Arzt stellte fest, dass fast alle Frauen in unserem Waggon Fieber hatten. Fünf Frauen starben an diesem Tag allein in unserem Waggon. Sie wurden auf freiem Felde ausgeladen und einfach liegen gelassen. Von nun an starb fast jeden Tag eine Frau. Wir bekamen eine Handvoll Trockenbrot, damit wir uns erholen sollten. Diesem herrlich harten Brot opferte ich fünf Zähne.

In unserem Waggon waren zwei besonders bedauernswerte Frauen. Die eine war schwanger, die andere hatte erfrorene Beine. Ging jemand an der einen vorbei und stieß aus Versehen an ihre Beine, so schrie sie auf. Über die andere Frau habe ich mich schon auf der Fahrt sehr gewundert. Ich konnte es als Zehnjährige nicht fassen, dass jemand trotz der schlechten Verpflegung so dick sein konnte. Irgendwann habe ich dann erfahren, was das zu bedeuten hatte. Diese Frau lag später, als wir schon eine Zeitlang im Lager waren, den ganzen Tag auf der Pritsche und stöhnte. Einige Frauen standen mit alten Lappen um sie herum. Dann begann ein qualvolles Stöhnen, die herumstehenden Frauen halfen irgendwie und bald legten sie ein blutiges, zappelndes Etwas in eine Gasmaskenhülle, denn ein anderes Gefäß gab es nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich, selbst noch ein Kind, zugesehen, wie ein Kind geboren wurde. Später, während der Zeit, die ich im Lager verbrachte, sah ich das allerdings noch oft.

Wenn der Zug auf freier Strecke stand, schlugen wir mit den Fäusten gegen die Wände, bis einer der Posten kam und die Tür aufschob. Dann baten wir um Schnee, um unseren Durst zu stillen. Je nach der Laune des Postens gab es dann entweder Hände voll Schnee oder die Tür wieder zugeknallt.

Der Zug stand wieder einmal. Die Türen wurden aufgemacht. Alle baden kommen! hörten wir von Waggon zu Waggon rufen. Wir träumten schon von einem warmen Bad und manche fielen sich vor Freude um den Hals. Mühsam kletterten wir die hohen Stufen des Viehwaggons herunter. Der Schnee blendete, ich bekam davon sogar Kopfschmerzen. Und dann platzte der Traum wie eine Seifenblase: Alle waren entsetzt, als der Posten mit der Hand auf den Schnee deutete und befahl: Nu waschen, schnell! schnell! Bei 30 bis 40 Grad Frost mussten wir Gesicht und Hände in dem verharschten Schnee waschen. Diese Schmerzen! Mir taten die Hände so weh, dass ich laut aufschrie. Ein Posten kam und tröstete mich. Er rieb mir die Hände, doch der Schmerz wurde davon noch größer. Kurz darauf mussten wir wieder in den Waggon und saßen endlich auf unseren Plätzen. Die Zeit verging unendlich langsam, ich vergaß, die Tage und Nächte zu zählen. Der Reif an den Wänden war das einzige, was wir zu uns nahmen. Einige beteten, ihr Gemurmel klang einförmig, wie eine Maschine, die immer die gleichen Töne von sich gibt. Ab und zu ertönte das Pfeifen der Lokomotive oder die Polenfrauen schrien und zankten sich wieder einmal. Das wiederholte sich fast täglich. Seit unserem Badetag saß ich etwas bequemer, wir fanden nämlich, als wir uns draußen waschen mussten, einen alten Kochtopf mit einem großen Loch im Boden. Auf dem saß ich nun und fühlte mich wie auf einem Thron. Ich wurde von allen wegen meiner guten Sitzgelegenheit beneidet. So bescheiden kann der Mensch werden. Aber auch diese Fahrt ging einmal zu Ende.

Alles aussteigen, Charkow

Eines Tages hieß es: Alles aussteigen, Charkow. Wir rafften uns auf und stiegen die hohen Stufen herunter. Wir mussten uns aufstellen. Nach vielem Zählen war es endlich so weit. Langsam ging es dem Lager zu. Von der Stadt Charkow, von der ich zu Hause schon mal gehört hatte, sah ich nichts. Inmitten der Erwachsenen kam ich mir vor wie ein kleiner Hund, der immer hinterherläuft. Im Lager angekommen, grüßte uns von den Mauern und Wänden Stalin oder eine Fahne mit Hammer und Sichel. Es wurden uns Stuben zugewiesen. Wir hatten endlich so viel Platz, dass wir uns ausstrecken konnten.

Die Pritschen waren aus rohem Holz, es gab weder Strohsäcke noch Decken. Doch wir rückten dicht zusammen und wärmten uns gegenseitig. Gleich am ersten Tag bekamen wir Kohlsuppe. Sie war zwar dünn, aber wir waren froh, etwas Warmes zu bekommen. Zwei oder drei Tage aßen alle diese Suppe. Bald bekamen alle Durchfall und rührten sie nicht mehr an. Die Männer, die wohl etwas widerstandsfähiger waren, kamen zu uns in die Baracken und tauschten unser Essen für ein wenig Garn oder ein paar alte Socken ein. Wir bekamen pro Person 400 Gramm Brot, wir fünf bekamen also ein Brot plus 400 Gramm. Das war aber klitschig, also nicht ausgebacken und daher schwer verdaulich. Wir konnten das Brot kaum noch genießen, fühlten uns schon wieder nicht wohl. Irgendwann kam ein Mann und bot Zwiebeln für ein bisschen Brot. Er sagte, dass Brot mit Zwiebeln gut schmecken würde. Wir tauschten und tatsächlich schmeckte es mit den Zwiebeln ganz gut. Mama hatte nun ihre Mühe und Not mit uns, denn von da an wollten wir nur noch Brot mit Zwiebeln essen. Doch woher sollte sie die vielen Zwiebeln nehmen? Da bot ihr eine Russenfrau für ein Brot vier Zwiebeln an. So wurde im Lager ständig getauscht.

Ich fühlte mich schon längere Zeit nicht wohl und eines Tages war ich so schwach, dass ich mich nicht von meiner Pritsche rührte. Da kam ein Posten zu uns und sagte, ich sollte mit ihm ein wenig auf den Lagerhof gehen, die Sonne schiene und die frische Luft würde mir gut tun. Er nahm mich an die Hand und wir spazierten langsam auf den Hof. Doch mir wurde ganz übel, die Sonne blendete die Augen, mein Kopf tat weh, ich konnte nicht mehr weitergehen. Wir setzten uns auf eine Treppe, knackten eine Weile Sonnenblumenkerne und gingen wieder hinein. Der freundliche Russe sagte Mama, dass er mich sehr gern habe, schenkte uns etwas Weißbrot und verabschiedete sich.

Alle Leute, die gesund waren, mussten arbeiten. Uns sagte man, wenn wir etwas von dem Transport ausgeruht seien, müssten wir auch arbeiten. Eines Tages mussten alle Erwachsenen zur Untersuchung. Mama und Ulla waren jedoch zu schwach, nur Irma sollte arbeiten. Irma war doch erst 14 Jahre alt und wir wussten, dass auch sie krank war. Irma aß sehr wenig, sie hat viel aushalten müssen. Manchmal weinte sie still vor sich hin und sagte nur, dass ihr alles wehtäte. Irma tat mir besonders leid. Sie war immer so gut zu mir. Zu Hause war sie gesund und kräftig gewesen. Man sah ihr nicht an, wie sie litt. Ulla hatte einen guten Appetit, trotzdem war sie mager. Darum brauchte sie auch nicht zu arbeiten. Sie war zwei Jahre älter als Irma, aber schwächer als ihre jüngere Schwester. Als Irma einige Tage gearbeitet hatte, kam sie abends ins Lager, warf sich auf die Pritsche und sagte: Mama, ich kann nicht mehr arbeiten, wenn man will, soll man mich heraustragen, ich kann nicht mehr! Wir meldeten dem Sanitäter, dass Irma krank sei und nicht zur Arbeit gehen könne. Er kam, verordnete Irma ein paar Tage Bettruhe und ging wieder.

Es war ein furchtbarer Gestank in der Stube. Die Frauen, die nicht zur Toilette gehen konnten (und es waren viele, da alle den Durchfall hatten) setzten sich auf den Stahlhelm oder die Gasmaskenhülle, die für solche Zwecke in der Stube stand. Die Fenster bestanden aus Glasscherbenstücken, die kunstvoll zusammengesetzt waren. Niemand traute sich daran zu rühren, also wurde auch nie gelüftet. Doch das alles war für mich noch zu ertragen. Aber Irma ging es in den folgenden Tagen immer schlechter. Sie hatte die Mundfäule. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Sie konnte nur noch ganz wenig essen und etwas lauwarmen Tee trinken. Ihr Mund war ganz wund und es roch übel, so dass ich mich abwenden musste, wenn ich mit ihr sprach. Mein Bruder Willi aß überhaupt nichts mehr. Er saß zusammengekauert auf der Pritsche und war nur noch ein kleines Häufchen Unglück. Tiefe, dunkle Ränder umschatteten seine Augen. Er verlangte ständig nach Wasser. Mutter meldete es dem Sanitäter. Am folgenden Tag wurde Willi abgeholt. Mutter flehte den Sanitäter an, dass wir doch alle zusammen bleiben müssten, aber es half nicht. An diesem Tage sah ich meinen Bruder das letzten Mal.

Einige Tage später erfuhren wir dann, dass er tot sei. Tiefe Trauer erfasste uns. Nachdem der Bruder von uns gegangen war, wurde auch Mutter krank. Sie wurde am nächsten Tag ins Lazarett gebracht. Was sollten wir nun ohne unsere Mutter noch machen? Ich lag in meinen Lumpen und starrte die Wanzen an, die in den Holzritzen herumkrabbelten. Jeden Tag starben Frauen in unserer Stube und jeden Tag kamen wieder neue hinzu.

Der Tod sollte nachts lieber nicht kommen

Ich erinnere mich an eine schreckliche Nacht. Ich musste schnell auf den Stahlhelm. Die Frau auf der oberen Pritsche hatte wohl das gleiche Bedürfnis. Schon baumelten ihre Beine herum, um die kleinen Leiterstufen zu finden. Plötzlich fiel sie von oben herunter. Ein Aufschrei, dann war alles ruhig. Das Blut lief ihr aus Mund und Nase. Zwei Frauen krochen langsam von ihren Pritschen und knöpften ihr den Kragen auf. Nur noch ein tiefer Atemzug und sie bewegte sich nicht mehr. Sie wurde gerade gelegt und blieb die ganze Nacht liegen, denn nachts wurden keine Toten aus den Stuben in die Totenkammer getragen.

Ich habe später noch einige Male die ganze Nacht neben Toten gelegen und merkte es doch erst morgens, wenn ich sie ansprach und keine Antwort erhielt. Zuerst erschrak ich darüber, dass ich die ganze Nacht neben einer Toten gelegen hatte, aber ich gewöhnte mich bald daran und - so schlimm das klingt - später ließ es mich irgendwie kalt. Doch diese Nacht ohne Mutter, zu meinen Füßen die Tote - die erste Nacht, in der ich wusste, dass eine Tote in der Stube war - diese Nacht ist für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt. Das Gesicht der Toten tanzte vor meinen Augen und ständig hörte ich den schrecklichen Schrei. Am Morgen war ich schweißgebadet und wurde sofort ins Lazarett gebracht. Hier war das Essen besser und jede Kranke hatte einen Strohsack. Das Essen war knapp, aber ich aß alles auf. Morgens und abends bekamen wir eine dicke Scheibe Weißbrot und Tee. Mittags gab es warmes Essen, Kascha (Brei) mit oder ohne Trockenobst, Erbsensuppe oder Reis mit Kartoffeln. Kartoffeln gab es sehr wenig im Lager, sie waren immer ein Festessen. Das Weißbrot schmeckte mir wie der schönste Kuchen. Ich biss immer nur ein wenig ab, damit Ich den ganzen Tag über den Genuss hatte. Bald durfte ich für ein paar Minuten aufstehen.

Meine Schwester Irma

Eines Tages sah ich meine Schwester Irma am Stacheldraht. Sie sah sehr schlecht aus und ich teilte von nun an mein Lazarettessen mit ihr, denn sie konnte das klitschige Brot überhaupt nicht mehr essen. Wegen Ansteckungsgefahr waren die einzelnen Lazarettbaracken von einander getrennt und abgezäunt. Irma hörte jeden Tag von einem Sanitäter, wie es unserer Mutter ging. Sprachen wir von ihr, so schaute sie mich mit großen Augen voller Mitleid an und versuchte, mich zu trösten. Wenige Tage darauf stand sie da, die Hände an den Stacheldraht geklammert und wartete schon auf mich. Als ich sie sah, erfasste mich eine schlimme Ahnung. Ihre großen, feuchten Augen starrten mich an und ich erriet alles. Auf meinen Aufschrei hin kamen die Posten und Sanitäter gelaufen und fragten, was geschehen sei. Ich stieß sie von mir. Mir war zumute, als sei ich zum Schreien verdammt.

Erst am nächsten Tag hatte ich mich beruhigt. Ich kroch auf mein Lager und weinte still vor mich hin. Mir war zu Mute, als könnte ich ohne meine Mutter nun nicht mehr lange leben. Eine Zeitlang plagten mich schreckliche Traumbilder. Mutter und Bruder hatte ich nun schon verloren, doch es wurde noch schlimmer.

Wir sollten in unserem Raum eine Schwerkranke aufnehmen. Eine Pritsche, die abseits stand, wurde für die Kranke geräumt. Es wurde uns gesagt, sie bleibe nur so lange, bis jemand in der Abteilung für Typhuskranke gestorben sei. So etwas dauerte niemals lange. Man brachte die Kranke zu uns herein. Ich erkannte sofort Irma. Irma, Irma, rief ich das ist ja meine Schwester! Ihre Augen starrten ins Leere, sie erkannte mich nicht mehr. Einen Tag lang lag sie in unserer Stube. Ihr Stöhnen konnte ich kaum mit anhören. Sie tat mir unendlich leid! Ich wollte ihr irgendwie helfen, aber ich wusste nicht wie. Am nächsten Tag wurde sie herausgeholt. Zwei Tage später erfuhr ich, dass auch sie gestorben sei.

Leichenkobia

Ich war ganz hohl, mein Inneres schien nicht mehr zu sein. Ich spürte kein Herz, kein Blut, kein Fleisch. Ich war nur noch eine wesenlose Hülle. Ich schaute in das zusammengesetzte Fenster. War ich das, die mir da entgegensah? Wer bist Du? Bist Du ich? Du siehst sehr komisch aus! Du hast ja eine Glatze! Ach, Dir haben sie die Zöpfe abgeschnitten! Dein Kleid ist auch ganz zerrissen und es kriechen Läuse darauf! Du bist erst zehn Jahre alt und Deine Mutter, Deine Schwester und Dein Bruder sind tot, warum lebst Du denn noch?

Langsam ging ich in die Baracke und legte mich auf mein Lager. Nachts konnte ich nicht schlafen. Ich ging hinaus und sah den Himmel, den Sternenhimmel meiner jetzigen Heimat. Die alte Kobia - so wurde unser Lagerpferd genannt - zog den voll gepackten Leichenwagen über den Hof. Nur die Köpfe und Beine der Toten schauten vorne und hinten unter der Plane heraus. Die Toten wurden um Mitternacht in die Massengräber gefahren. Längst hatte ich mich an die Leichenkobia gewöhnt und die, die auf ihrem Wagen lagen, bat ich, einen Gruß an die meinigen mitzunehmen.

Ich wurde aus dem Lazarett entlassen und bekam nun wieder das nasse Brot, das ich kaum runter bekam. Es war immer noch Winter. Der gleiche weiße Schnee wie zu Hause lag auch hier in Charkow. Ich tauschte mein Brot nicht mehr gegen Zwiebeln ein. Da waren ja die Vögel, die kleinen, armen, die großen Hunger hatten. Sie erkannten mich schon, wenn ich mit der Krümelbüchse kam und scharten sie sich um mich. Ich fütterte sie am Zaun, wo es ein wenig ruhiger war. Doch sie flogen auf, wenn ein Mann kam, um sein verlaustes Hemd auf den Stacheldraht zu hängen, damit die Läuse erstarrten. Dann musste ich ein Weilchen warten, bis sich meine kleinen Lieblinge wieder um mich scharten.

Der Winter verging, es verging der Frühling und fast der ganze Sommer 1945. Die Menschen starben weiter. Wo meine Schwester Ulla abgeblieben ist, habe ich nicht erfahren. Ende August 1945 saß ich im Zug, der nach Deutschland fuhr. Meine schwache Arbeitskraft konnte man offenbar noch nicht ausnutzen und so zog man es vor, mich nach Deutschland abzuschieben.

 

Epilog

Der Abschied von diesem Lager, dem Lager des Todes ist mir trotz aller Bitternis und allen Leides, das ich dort erfahren musste, sehr sehr schwer gefallen. Musste ich doch meine ganze Familie in den dortigen Massengräbern zurücklassen. So werden denn auch, so lange ich lebe, meine Gedanken nicht aufhören, immer wieder den Weg nach Charkow zurückzugehen.

(1) Charkow - die Stadt:

Charkiw (ukrain. Харків; russisch:  Харькoв/Charkow) ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Sie befindet sich im Nordosten des Landes und ist ein wichtiges Industriezentrum (Elektro-, Nahrungsmittel-, Schienen-, chemische Industrie, Maschinenbau), kultureller Mittelpunkt des Gebietes mit Universität, Hochschulen, Theater, Museen und Verkehrsknotenpunkt (Flughafen, Eisenbahn, U-Bahn).

Geschichte

Charkiw wurde im Jahre 1656 von ukrainischen Kosaken gegründet. Der Name der Stadt geht auf den legendären Gründer Kosak Charko. Sie war ursprünglich eine Festung zur Verteidigung der Südgrenzen des Russischen Reiches. Ihre Einwohner waren hauptsächlich Soldaten, die die Stadt vor den Überfällen der Tataren schützten und sich in friedlichen Zeiten mit Handwerk und Ackerbau befaßten. Am Ende des 18. Jahrhunderts verlor die Stadt ihre Bedeutung als Festung und wurde 1765 Verwaltungszentrum eines Gouvernements.

Im Zusammenhang mit dem Bau von Eisenbahnen und dem Beginn der Gewinnung von Kohle und Eisenerz in der Ukraine wurde Charkiw Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiges Industrie- und Handelszentrum. Während des Bürgerkriegs 1917 bis 1920 kam es in der Stadt zu schweren Kämpfen zwischen Oppositionskräften.

Im Januar 1918 tagte in Charkiw der erste ukrainische Sowjetkongress, der die Ukraine zur Sowjetrepublik ausrief und Charkiw zu ihrer ersten Hauptstadt erklärte. 1934 wurde die Hauptstadt nach Kiew verlegt. Im Zweiten Weltkrieg wurden große Teile der Stadt durch die deutsche Wehrmacht zerstört (Schlacht bei Charkow).

Sehenswürdigkeiten

Zu den ältesten Baudenkmälern von Charkiw gehört die steinerne Kathedrale des Maria-Schutz-Klosters aus dem Jahre 1689. Hier verquicken sich die Gepflogenheiten des russischen Sakralbaus mit einer Komposition, die für die ukrainischen dreikuppeligen Holzkirchen typisch ist. Es gibt weitere Bauwerke vom Ende des 18. Jahrhunderts, so die 1771 erbaute Maria-Entschlafens-Kirche und den einstigen Katherinenpalast, der heute als Hochschule fungiert.

Charakteristisch für das Stadtzentrum von Charkiw ist der mit über elf Hektar Fläche zwischen 1920 und 1930 entstandene größte Platz Europas und einer der größten der Welt. Markante Gebäude an diesem Platz sind das Dershprom (Haus der Staatlichen Industrie) und die Universität.

Die vielen Theater und zahlreichen Museen in der Stadt vermitteln einen Einblick in die ukrainische darstellende und bildende Kunst. Hervorzuheben sind das Historische Museum und das Museum für bildende Künste.

Die Bevölkerung der Stadt spricht mehrheitlich Russisch als Muttersprache.

Verkehr

Die Stadt ist Ausgangspunkt zahlreicher nationaler und internationaler Bahnverbindungen und besitzt zwei Rangierbahnhöfe (Charkiv-Sort. und Osnova). Den innerörtlichen Verkehr übernehmen die Metro (siehe Metro Charkiw), Obuslinien und die Straßenbahn. Zudem existiert noch eine rund 1,4 Kilometer lange Standseilbahn (siehe Standseilbahn Charkiw) zwischen dem Zentrum und dem Wohnviertel Pawlowe Pole.

(2) Schlacht bei Charkow 12. bis 28. Mai 1942:

In der Winterschlacht 1941/42 war die Rote Armee an das westliche Donezufer bei Isjum vorgerückt. Der 100 Kilometer lange Brückenkopf südöstlich von Charkow stellte eine ebenso günstige Ausgangsbasis für weitere Operationen gegen die deutsche Heeresgruppe Süd dar wie die starke sowjetische Stellung bei Woltschansk nördlich von Charkow. Die sowjetische Großoffensive mit rund 640.000 Soldaten und 1.200 Panzern unter Marschall Semjon Timoschenko (1895-1970) begann am 12. Mai 1942 nach Ende der alljährlichen Schlammperiode. Ziel des massierten Panzereinsatzes war die Einschließung der im Raum Charkow operierenden 6. Armee unter Friedrich Paulus und der Armeegruppe von Generaloberst Ewald von Kleist. Ein anschließender Vorstoß zum Dnepr sollte die deutsche Ostfront im Südabschnitt zum Einsturz bringen.

Die aus dem Isjumer Frontbogen sowie Woltschansk angreifenden Truppen Timoschenkos konnten nach Einbrüchen in die deutschen Verteidigungsstellungen zwar rasch an Raum gewinnen. Eine Einschließung der deutschen Einheiten gelang hingegen nicht. Die nachlassende sowjetische Stoßkraft nutzten Panzerverbände der Armeegruppe von Kleist zu einer Gegenoffensive. Am 17. Mai stießen sie zusammen mit verbündeten rumänischen Truppen von Slawjansk, Barwenkowo und Losowaja nach Norden vor. Aus dem Raum Charkow griff die 6. Armee ebenfalls in einer Zangenbewegung mit Stoßrichtung Süden an. Für die südlich der Stadt massierten vier sowjetischen Armeen erfolgte die Einkesselung vollkommen überraschend. Vergeblich versuchten sie, der am 23. Mai vollendeten Einschließung durch Ausbruchsversuche nach Südosten über den Donez zu entkommen. Nach fünf Tagen waren die sowjetischen Verbände vollständig aufgerieben. Rund 240.000 Rotarmisten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Mit der letzten für die Wehrmacht siegreichen Kesselschlacht im Zweiten Weltkrieg erkämpften sich die Deutschen die strategischen Voraussetzungen für ihre Sommeroffensive 1942.
(as)


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