Was uns Kindern so gesagt wurde
Im Kindesalter glaubten wir fast jede Geschichte, die uns unsere Eltern und Großeltern erzählten – egal wie absurd sie ist. Manchmal glaubten die Erwachsenen diese selbst, weil sie es nicht besser wussten. Hier sind einige der Schwindeleien, die uns erzählt wurden:
Weihnachten und Nikolaus
In Nord- und Süddeutschland gibt es unterschiedliche Traditionen. In Norddeutschland kommt am 24. Dezember der WeihnachtsmannLesen Sie auch:
De Wiehnachtsmann ‒ von Inge Hellwege – eine freundliche, meist beleibte Figur mit rotem Mantel, weißem Bart und einem Sack voller Geschenke. Er liest den Kindern erst die Leviten und wenn man dann ein Gedicht aufsagte, wie etwa:
Lieber guter Nikolausmann (Weihnachtsmann),,
schau mich nicht so Böse an,
stecke deine Rute ein,
ich will auch immer artig sein
verteilt er dann doch Geschenke. Im Süden bringt das ChristkindLesen Sie auch:
Weihnachten im Wandel der Zeit ‒ von Margot Bintig die Geschenke. Man stellt es sich als blondgelocktes Engelchen vor, doch niemand hat es je gesehen, denn es kommt zum Fenster hereingeflogen, stellt einen Weihnachtsbaum in die Stube und legt für jeden Geschenke unter den Baum. Wenn es fertig ist, klingelt es mit einem silbernen Glöckchen als Zeichen, dass die Kinder in das Wohnzimmer kommen dürfen, und fliegt schnell aus dem Fenster, bevor die Kinder in das Zimmer kommen.
Vor Weihnachten, am sechsten Dezember, ist Nikolaustag. Auch hier gibt es Unterschiede zwischen Nord und Süd. Im Norden ist der NikolausLesen Sie auch:
Das Paket vom Nikolaus ‒ von Inge Hellwege unsichtbar. Die Kinder stellen am Vorabend ihre frisch geputzten Winterstiefel vor die Tür, und in der Nacht füllt der Nikolaus sie mit Kleinigkeiten, meistens mit Snoopkraam
. Im Süden kommt der Nikolaus persönlich am Abend des fünften Dezember und ähnelt dem norddeutschen Weihnachtsmann. Meist bringt er auch noch seinen Knecht Ruprecht mit, der eine Rute und einen großen Kartoffelsack dabei hat. Wenn die Kinder artig waren, bekommen sie kleine Geschenke, wenn nicht, verkloppt er sie mit der Rute, und im schlimmsten Fall steckt er die Kinder in den Sack und nimmt sie mit. Das kommt aber äußerst selten, eigentlich gar nicht vor. Die Eltern drohten damit, wenn die eigenen Erziehungsmaßnahmen versagten. Bei mir war der Knecht Ruprecht zum Glück oft krank und konnte deshalb nicht mitkommen.
Ostern
Ostern ist ein besonderes Fest für Kinder. Jetzt kommt der Osterhase und bringt gekochte und gefärbte Hühnereier oder Schokoladenostereier, die er im Garten oder in der Wohnung versteckt. Es spielt keine Rolle, ob man artig war oder nicht, die Suche nach den versteckten Eiern macht allen Spaß. Manches Ei fand man erst lange nach Ostern.
Fantasiefiguren und Drohungen
Ob Weihnachtsmann, Christkind, Nikolaus oder Osterhase – diese Fantasiefiguren sind tief in unserer Tradition verwurzelt. Auch später, als wir längst die Wahrheit kannten, taten wir noch so, als ob sie wirklich existieren und manche glauben immer noch daran, schon allein wegen der Geschenke. Diese traditionellen Erzählungen werden auch heute noch an die Kinder weitergegeben.
Woher kommen die Kinder?
Uns wurde früher gesagt, dass der Klapperstorch die BabysLesen Sie auch:
Hurra, ein Schwesterchen ist da! ‒ von Günter Matiba bringt. Der beißt dann der Mutter ins Bein und sie muss ins Krankenhaus - womit auch diese Frage erledigt war. Auf weitere Fragen wurde entweder gar nicht oder sehr verbrämt geantwortet. Oft wurde von dem biologischen Vorgang erzählt, wie die Bienchen die Blümchen bestäuben. Ich glaube nicht, dass irgendein Kind hier einen Bezug zur Realität herstellen konnte. Landkinder hatten es da einfacher, sie schauten zu, wenn der Hahn auf die Henne stieg. Wenn man ein Geschwisterchen wollte, sollte man ein Stück Zucker vor das Fenster legen. Doch der Storch war nicht nur gemein, weil er die Mutter gebissen hat, sondern auch dumm, denn er verwechselte oft die Häuser.
Disziplinierung durch Angst
Vieles sollte den Kindern schon seit Jahrhunderten Angst machen, um sie zu disziplinieren: Der Knecht RuprechtLesen Sie auch:
Kindheit und Jugend in Ostpreußen ‒ von Walter Kennhöfer, der schwarze Mann (gemeint war der schwarze Tod, die Pest), der ButzemannIn Ostpreußen hießen die Kindleinfresser auch Baubau
oder Gelbzahn
.
Lesen Sie auch: Das Altenteil ‒ von Hilde Heimerl. und noch andere Bösewichte sollten die Kinder holen, wenn sie nicht artig waren. Wohin sie gebracht wurden, blieb im Dunkeln. Die KornmuhmeLesen Sie auch: Die Kornmuhme von Hartmut Kennhöfer soll sogar die Kinder gefressen haben, die im Getreidefeld spielten. Auch Märchenfiguren wie der böse Wolf
sollten den Kindern Angst einjagen. Das Kinderbuch Der Struwwelpeter
Lesen Sie auch:
Ein Fall für Freud? ‒ von Günter Matiba ist ein Beispiel dafür: Die meisten dieser Geschichten sind eigentlich gutgemeint und sollten die Kinder vor Gefahren schützen, doch sie wurden so drastisch dargestellt, dass es angsteinflößend war. Manchmal wurde auch mit dem eigenen Vater gedroht: Warte nur, bis heute Abend dein Vater heimkommt!
Die Kinder versuchten sich wie durch das Pfeifen im Walde der Angst zu erwehren, indem sie lustige Lieder wie Der Bi-Ba-Butzemann
sangen oder Wer hat Angst vorm schwarzen Mann
spielten.
Naturschauspiel
Vor dem Gewitter wurde zu Recht, aber oft falsch gewarnt: Buchen sollst du suchen, Eichen sollst du weichen
. Diesem Rat sollte man besser nicht folgen. Grundsätzlich sollte man bei einem Gewitter jeden Baum meiden, weil der Blitz gern in erhöhte Punkte einschlägt. Beim Donnergrollen hieß es bei uns oft: Hörst du, der liebe Gott schimpft
.
Meine Tante trug bei jedem Gewitter mit geheimnisvoller Stimme die Ballade von Gustav SchwabAm 30. Juni 1828 schlug der Blitz in ein von zwei armen Familien bewohntes Haus der württembergischen Stadt Tuttlingen, und tötete von zehn Bewohnern desselben vier Personen weiblichen Geschlechts: Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, die erste 71, die letzte 8 Jahre alt. Siehe Schwäb. Merkur, 8. Juli 1828, Nr. 163. (Anm. Schwabs in der 1. Aufl. der Gedichte.) vor: Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube beisammen sind …
Es ging hier um ein Gewitter, bei dem das Haus vom Blitz getroffen wurde und vier Generationen gleichzeitig starben. Es war eine düstere Atmosphäre im Raum. Mich hat das alles nicht beeindruckt, denn obwohl ich mir der Gefahr des Gewitters bewusst bin, erfreue ich mich immer wieder an diesem Naturschauspiel. Leider gibt es hier im Norden nicht so viele und eindrucksvolle Gewitter wie im Süden.
Das Gewitter
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind;
Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,
Großmutter spinnet, Urahne gebückt
Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl. –
Wie wehen die Lüfte so schwül!
Das Kind spricht: »Morgen ist Feiertag,
Wie will ich spielen im grünen Hag,
Wie will ich springen durch Tal und Höhn,
Wie will ich pflücken viel Blumen schön;
Dem Anger, dem bin ich hold!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?
Die Mutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag,
Da halten wir alle fröhlich Gelag,
Ich selber, ich rüste mein Feierkleid;
Das Leben, es hat auch Lust nach Leid;
Dann scheint die Sonne wie Gold!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?
Großmutter spricht: »Morgen ist’s Feiertag,
Großmutter hat keinen Feiertag,
Sie kochet das Mal, sie spinnet das Kleid,
Das Leben ist Sorg und viel Arbeit;
Wohl dem, der tat, was er soll!« –
Hört ihr’s, wie der Donner grollt?
Urahne spricht: »Morgen ist’s Feiertag,
Am liebsten morgen ich sterben mag;
Ich kann nicht singen und scherzen mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer;
Was tu ich noch auf der Welt?« –
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
Sie hören’s nicht, sie sehen’s nicht,
Es flammet die Stube wie lauter Licht:
Urahne, Großmutter, Mutter und Kind
Vom Strahl miteinander getroffen sind;
Vier Leben endet ein Schlag, –
Und morgen ist’s Feiertag.
Nahrungsmythen
Vieles wurde uns auch über die Nahrungsaufnahme aufgetischt
:
- Wenn du den Teller leer isst, gibt es morgen schönes WetterEs kann sich duchaus um eine Fehldeutung des plattdeutschen Wortes
wedder
(wieder) handeln, dann hätte der Ausspruch mit dem Wetter überhaupt nichts zu tun, dann hieße es nämlich: Iss deinen Teller leer, dann gibt es morgen wieder etwas Schönes. Anmerkung Redaktion (HK). - Vom frischen Brot bekommt man Bauchweh – so wurde das Ziel erreicht, zuerst das alte Brot zu essen.
- Man darf nicht so viel trinken, sonst bekommt man Flöhe in den Bauch.
- Wenn man MohnAb und an heißt es ja auch
Mohn macht doof
, unddoof
kommt vontaub
. So die Verbindung zum Mohn. Im Mohn ist nämlich ein Betäubungsmittel enthalten, aus dem Morphium hergestellt wird. Zwar wird Morphium aus Schlafmohn gewonnen, dennoch enthält der Speisemohn geringe Spuren von Opiaten, die man sogar im Urin nachweisen kann. Ein Gramm des schwarzen Samens besitzt die gleiche pharmakologische Wirkung wie 2 bis 251 Mikrogramm Morphium (1 Mikrogramm = 1 Millionstel Gramm).Anmerkung der Redaktion (HK) oder SenfDer MythosSenf macht dumm
ist nicht wahr und beruht vermutlich auf einer Verwechslung. Denn sogenannte cyanogene Senföle können sich zu giftiger Blausäure umwandeln. Diese wiederum kann in größeren Mengen das Gehirn schädigen. Dies würde allerdings nicht dumm machen, sondern stattdessen lebensgefährlich sein. Anders jedoch, als es der Name vermuten lässt, sind diese speziellen Senföle nicht in Senf zu finden, sondern unter anderem in Bittermandeln oder rohen Bambussprossen. Anmerkung der Redaktion (HK) isst, wird man dumm. - Wenn man MöhrenDer Mythos mit den Karotten entstand vermutlich während des zweiten Weltkrieges. Mit dem Vorhaben, zielgerichtete nächtliche Angriffe fliegen zu können, haben die Engländer ein Bordradar für Flugzeuge erfunden. Weil sie aber den Feinden nicht den Grund der Treffsicherheit mitteilen wollten, gaben sie als Erklärung an, dass die Piloten viele Karotten essen würden und deswegen nachts so gut sehen könnten. Seit diesem Zeitpunkt hält sich das Gerücht, der Konsum von Karotten mache gute Augen, hartnäckig (Caspers & Westland, 2007). isst, kann man besser sehen.
- Nachdem man KirschenDas ist ein Mythos, der sich hartnäckig hält. Allerdings dachte man früher wirklich, dass man nach Steinobst wie Kirschen kein Wasser trinken sollte, was zu Blähungen und Bauschmerzen führen würde. Blähungen und Bauchschmerzen kamen früher vor allem vom Trinkwasser, das nicht keimfrei war. Viele Menschen bezogen ihr Trinkwasser aus einem Brunnen, das oft mit Bakterien versetzt war. Die Keime im Trinkwasser könnten gemeinsam mit Hefen und Bakterien auf der Schale zu einer Zuckergärung im Magen geführt und dadurch Bauschmerzen verursacht haben. So entstand der Mythos, dass man nach dem Kirschenessen kein Wasser trinken sollte. (Quelle: Verbraucherzentrale) gegessen hat, darf man kein Wasser trinken.
- Wenn man einen KirschkernIn einer 1998 publizierten australischen Studie wurde dem Mythos der verflixten Kirschkerne deshalb auf den Grund gegangen. Es wurden insgesamt 1409 Patienten mit akuter Blinddarmentzündung untersucht, wobei lediglich in einem Fall ein Kirschstein als Ursache nachgewiesen werden konnte. Weitere Fallberichte über durch Kirschkerne verursachte Blinddarmentzündungen sind in der Literatur nicht zu finden. verschluckt, muss der Blinddarm raus oder man hörte auch:
Da wächst dann ein Baum im Bauch
. - Man musste viel Spinat1981 veröffentlichte Professor Terence Hamblin im British Medical Journal, dass bei der Bestimmung des Eisengehaltes im Spinat in den 1930er Jahren versehentlich das Komma um eine Stelle nach rechts verrutscht sei und somit Spinat ein unnatürlich hoher Eisengehalt verschafft wurde. Dieser Dezimalstellenmythos ist heute noch in vielen Publikationen rund um das Thema Eisengehalt im Spinat präsent. Tatsächlich aber wurden bereits Jahre zuvor zu hohe Eisenmengen im Spinat von Wissenschaftlern festgestellt. Dem Fehler lagen Eisen-Kontaminationen, die durch das Erhitzen von Speisen entstanden, zugrunde, und ähnlichen Fehler ergaben sich bei den Erhebungen. Spinat hat einen ähnlich hohen Eisengehalt wie anderes dunkelgrünes Blattgemüse. essen, der sollte sehr viel Eisen enthalten – das basierte auf einem Druckfehler in einer wissenschaftlichen Publikation.
Zu meiner Kinderzeit wurde dick und rund gleichgesetzt mit gesund. Schlanke Kinder mussten unbedingt zunehmenLesen Sie auch:
Verschickung nach Heiligenhafen ‒ von Hartmut Kennhöfer.
Drohungen und Weisheiten
Es gab auch andere Drohungen, die jedoch selten ein Kind beeindruckten:
- Wer lügt, bekommt eine lange Nase – wie bei Pinocchio.
- Zuviel lesen schadet den Augen
Leg das Buch weg oder mach das Licht an, sonst verdirbst du dir die Augen!
Tatsächlich sind diese Befürchtungen aber weitestgehend unbegründet.Dass Lesen bei schlechten Lichtverhältnissen den Augen schadet, ist in erster Linie ein Mythos
, sagt Georg Eckert vom Berufsverband der Augenärzte Deutschlands,wissenschaftliche Belege gibt es dafür jedenfalls nicht.
und man muss dann eine Brille tragen. - Wenn man versucht hat zu schielenEntwarnung: An Mamas Weisheit ist glücklicherweise nichts dran. Beim absichtlichen Schielen drehen die Muskeln, die auch für die normalen Augenbewegungen zuständig sind, den Augapfel zur Seite. Auch wenn man währenddessen einen Schreck bekommt, ist es anatomisch nicht möglich, dass diese Muskeln sich verkrampfen. Bewusstes Schielen hat also keine Konsequenzen., hieß es:
Wenn du das machst, bleiben plötzlich die Augen stehen.
In manchen Gegenden passiert es auch nur,wenn die Turmuhr zwölfmal schlägt
. - Auch hörten wir häufig:
Du fragst mir noch ein LochEs ergibt zwar keinen rechten Sinn, ist aber eine beliebte Reaktion von Eltern auf Fragen ihrer Kinder, die sie nicht beantworten können.Anmerkung der Redaktion (HK) in den Bauch
.
Diese Behauptungen sind alle widerlegt oder waren sowieso Unsinn. Heute werden Kinder in den meisten Fällen ohne angsteinflößende Geschichten erzogen. Doch es gibt auch gute Fabelwesen, an die wir die Kinder noch gerne glauben lassen. Zum Beispiel die Zahnfee, die den ausgefallenen Wackelzahn mitnimmt und ein kleines Geschenk hinterlässt.
Auch meine Tochter und meine Enkel zweifelten nicht an der Existenz der Zahnfee – oder sie ließen mich zumindest in dem Glauben.