Auf der Zielgeraden
1968 war die aufregende Zeit der Studentenbewegung und das Jahr, in dem ich mit dem Studium in Lübeck begann. Ich hatte mich für Hochbau an der Ingenieurschule für Bauwesen eingeschrieben.
Gleich im ersten Semester wurde gestreikt, es ging um die Anerkennung des graduierten Ingenieurs im europäischen Raum. Etwa vier Wochen dauerte der Streik und eigentlich war ich gar nicht mit vollem Herzen dabei, nahm aber am Protestmarsch in Lübeck und beim Sitzstreik vor dem Landeshaus in Kiel teil. Sogar mit einem Banner auf der Motorhaube meines VWs unterstützte ich den Streik. Damit uns das Semester nicht aberkannt wurde, nahmen wir alle rechtzeitig vor Semesterende das Studium wieder auf.
Letztendlich waren die bundesweiten Streiks erfolgreich. Kurz vor unserem Examen wurde die Ingenieurschule zur Fachhochschule und Jahre später gab es nur noch Diplom-Ingenieure, die in Europa anerkannt waren. Wir graduierten Ingenieure wurden nachdiplomiert, und mit neuen Urkunden führten wir dann die Bezeichnung Diplom-Ingenieur (FH)
.
1968 herrschte im Bauwesen Rezession, vermutlich der Grund, warum nur 14 Studenten eingetragen waren und ich darunter als einziges Mädchen. Gleich am ersten Tag in Lübeck die große Überraschung, mein ehemaliger Mitschüler Kurt war in meinem Semester. Wir hatten uns nach der Mittelschule schon auf der Baustelle während meines Praktikums getroffen, uns dann aber aus den Augen verloren.
Für die 45 Kilometer lange Fahrt nach Lübeck hat mein Vater mir einen VW-Standard finanziert, ein Studentenzimmer war ihm zu teuer. Ab Bad Segeberg schlossen Kurt und ich uns zu einer Fahrgemeinschaft zusammen und wechselten wochenweise. Gegen einen kleinen Obolus nahmen wir Jens, der Tiefbau studierte, mit nach Lübeck.
Die Ingenieurschule lag in Lübecks Altstadt und war eine Schule mit festen Lehrplänen und Zeugnissen nach jedem Semester. Jetzt begann für mich die spannende Zeit der Vorlesungen in einer Vielzahl von Fächern. Am interessantesten war das Fach Entwurf, hier konnte ich selbst gestalten und meiner Fantasie freien Lauf lassen.
Die Stadt Lübeck war ideal. In Baugeschichte hatten wir die Backsteingotik vor der Tür, zum Freihandzeichnen die besten Motive in der Altstadt und gleichzeitig konnten wir uns mit dem Thema Denkmalschutz auseinandersetzen. Als Bauzeichnerin war ich den Maurern, Zimmerern und Betonbauern im Zeichnen etwas voraus, aber die punkteten dafür mit mehr praktischer Erfahrung.
Es gab Dozenten, die wollten mich einfach nicht sehen, es hieß bei der Anrede immer nur meine Herren
. Als der Dozent in Statik die Klausur zurückgab, war seine Bemerkung:
Aber meine Herren, lassen Sie sich doch nicht von einem Mädchen etwas vormachen!
Irgendwie hatte mich das nicht weiter gestört. Auch nicht die Anmerkung eines Kommilitonen, Ihr Frauen nehmt uns doch später nur die Arbeitsplätze weg.
Ich hatte ein Ziel und das war wichtig.
Wir auswärtigen Studenten durften unsere Autos auf dem Schulhof parken. Der Weg dorthin war etwas umständlich und irgendwie schaffte ich es nur mit mehrmaligem Zurücksetzen. Als Kurt eines Tages sagte: Sieh mal zu, dass du mit einem Mal um die Kurven kommst, wir wollen uns nicht jeden Morgen mit dir blamieren
zeigte ich den Jungs, dass ich sehr wohl ohne Zurücksetzen den Weg fahren konnte und dabei blieb es auch.
Der Abschluss jedes Halbjahrs endete natürlich mit einem Semesterabend, der in einem der netten Lokale in Lübeck und mehrmals auch in der historischen Schiffergesellschaft stattfand. Einige Kommilitonen waren der festen Meinung, dass es sich positiv auf die Zensuren auswirkt, wenn sie den Dozenten ein Bier ausgeben. Funktioniert hat das nicht. In jedem Semester änderte sich die Teilnehmerzahl, neue kamen hinzu, andere sahen wir nicht wieder.
Nach sechs Semestern bestand ich das Examen und erhielt die Graduierungsurkunde. Kaum zu glauben – 1971 waren die Urkunden nur für Männer gedruckt, Herr
wurde bei mir mit der Schreibmaschine ausgeixt und Fräulein
darüber geschrieben.
Inzwischen waren wir zur Fachhochschule für Technik und Seefahrt
aufgestiegen und belegten das letzte Semester in der alten Schule. Alle nachfolgenden Jahrgänge besuchten dann die neuen Räume der Fachhochschule weit außerhalb der Altstadt.
Schon während des Studiums entwarf ich mehrere Einfamilienhäuser für meinen Heimatort Bockhorn, in dem damals gerade ein Neubaugebiet erschlossen wurde. Die Bauherren waren ausnahmslos Handwerker, die ihre Häuser in Eigenregie bauten. Damals konnte jeder, der mit Bauen zu tun hatte, einen Bauantrag einreichen, auch ich als Studentin. So gibt es noch heute reichlich Spuren von mir in meinem Heimatdorf.
Im Bauwesen herrschte 1971 wieder Hochkonjunktur und wir Absolventen hätten alle mindestens drei Stellen haben können.
Auch die Post suchte dringend Ingenieure und holte uns aus Lübeck mit einem Bus zu einer Werbeveranstaltung nach Hamburg ab. Trotz der interessanten Vorträge und Angebote sowie der guten Bewirtung hat keiner von uns das Angebot angenommen.
Schon Anfang des letzten Semesters meldete sich ein Architekt aus Norderstedt in der Ingenieurschule und suchte einen Absolventen, der gut im Entwurf ist. Auf Vorschlag meines Dozenten lud mich das Architekturbüro ein und nach dem Gespräch war ich sofort eingestellt. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, mich so früh festzulegen, wollte erst mal schauen, was sich so anbietet. Die beiden Inhaber des Büros waren auf alle meine Forderungen eingegangen, obwohl ich sie für reichlich überzogen hielt. So ein Angebot konnte ich dann nicht abschlagen und fing am 1. März 1971 als Bauingenieurin bei den Architekten, die das Herold-Center geplant hatten, an. So bin ich in Norderstedt gelandet und bis heute geblieben.
Als Bauingenieurin ist man nicht automatisch Architektin. Um in die Architektenliste eingetragen zu werden, muss man Zeugnisse einreichen und Nachweise über selbstständige Projekte einschließlich Bauleitung vorlegen. Nach etwa drei Jahren Berufstätigkeit stellte ich in der Architektenkammer Schleswig-Holstein den Antrag und erhielt die ersehnte Urkunde. Auch hier war man 1974 noch nicht auf Frauen eingestellt, denn im Formular waren Herr
und Architekt
gedruckt.
Jetzt hatte ich mein Ziel erreicht, ich war Architektin.