Ausbruch und Flucht aus den Fängen der Familie
Mutter hatte mich mit Verrat zum Militärdienst gezwungen. Ich sollte Disziplin und Gehorsam lernen, ihr gehorchen, um dann als Hilfsarbeiter im betreuten Wohnen untergebracht zu werden. Das ging nach hinten los, weil sie mir durch den Hinauswurf aus der Familie familiäre Freiheit gewährte, und diese benötigte ich dringend. Ohne den täglichen destruktiven Einfluss der Mutter fand sich Raum zur Weiterentwicklung. Im Jahr 1970 entwickelten sich die familiären Verhältnisse verschroben und für die Familienherrscherin zum peinlichen Super-GAU.
Mutter stellte verschiedene Überlegungen zu meinen Fähigkeiten an. Die wurden dann zu ihrer Realität. Je nach Situation und ihrem momentanen Interesse kam sie zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Zu meiner abgeschlossenen Ausbildung zum Elektriker verkündete sie vehement die Prognose, ich könne als Elektriker nicht arbeiten. Da hatte sie fast recht, aber nicht so, wie sie annahm.
Die Elektrikerarbeit hatte ihre guten Seiten, gefiel mir aber nicht. Mir war eine andere „geistige“ Tätigkeit lieber, als die Leitungen für den elektrischen Strom zu verlegen, Leitungssysteme zu analysieren und gefundene Fehler zu beseitigen. Allerdings konnte gerade Letzteres eine echte Herausforderung sein. Man denke dabei beispielsweise an Stromnetze für Städte, Kraftwerke, Fabriken, große Bürogebäude und Schiffe mit ihren elektrisch betriebenen Einbauten. Diese Bereiche gehörten zum Berufsfeld eines damaligen Starkstromelektrikers. So einer war ich und hatte von einer Weltfirma die passende Ausbildung erhalten. Der Vater eines Kumpels hatte denselben Beruf und wurde weltweit zur Arbeit an Hochspannungsanlagen eingesetzt.
Während meine Zweifel am Beruf des Starkstromelektrikers noch zaghaft waren, gab mir Mutters Prognose die wesentliche Anregung zur Lebensplanung. So dachte ich im Wehrdienst über meine Zukunft nach.
Was hatte ich zu bieten? Relativ künstlerisch konnte ich fotografieren und auch trickreiche Papierabzüge von den Filmnegativen machen. Außerdem hatte ich seit Jahren ein Heft mit technischen Zeichnungen und eigenen Erfindungen geführt. Im Selbststudium hatte ich Kenntnisse im Maschinen-, Fahrzeug-, Flugzeug- und Schiffbau erworben. Zudem konnte ich fachgerechte Bauzeichnungen von Häusern anfertigen. Mit diesen Dingen hatte ich mich beschäftigt, seit mich Mutter bei den Hausaufgaben alleine ließ.
Ein anderer Teil meiner Fähigkeiten wurde mir in zwei halbjährigen Praktika als Maurer und Zimmermann sowie in der Lehre zum Schlosser und Elektriker vermittelt. Ein gewisses Wissensgerüst war also da.
Ganz wichtig, ich wollte mein Leben selbst in die Hand nehmen und das schäbige Leben in meiner Ursprungsfamilie hinter mich bringen. Raus aus dem familiären Gefängnis. Mutter hatte auch behauptet, man solle nicht handwerklich, sondern in einem Büro arbeiten, dann sei man automatisch was Besseres. Dieser Standesdünkel-Ansatz war insofern nicht falsch, weil ich damit vielleicht um eine schwere, uninteressante handwerkliche Arbeit herumkommen würde.
Während dieser Überlegungen traf ich den ehemaligen Schulkameraden wieder, der mir damals von seinem Trick zur Kriegsdienstverweigerung erzählt hatte. Er studierte jetzt Produktdesign und erklärte mir die Aufnahmeprozedur für das Studium an der Werkkunstschule.
Das kannst du auch, dachte ich mir und bewarb mich dort um einen Studienplatz. Die erforderliche Begabtenprüfung bestand ich während eines Kurzurlaubs vom Wehrdienst. Allerdings war das an der staatlichen Hochschule für bildende Künste, auf dem gleichen Hochschulgelände. Als Probearbeiten legte ich ein Architekturmodell, die Bauzeichnung dazu sowie etliche Fotoarbeiten mit Trickbelichtungen über Normalfotografien bis hin zu Solarisationen vor. Der Studienplatz war relativ exklusiv, weil in jenem Semester nur zwei Studenten für das Fach Architektur aufgenommen wurden. Ein Studienplatz war mir sicher. Nun konnte ich meine Zukunft planen. Vater wusste von meinen Aktivitäten, hatte davon aber nichts in der Familie erzählt.
Als ich vor Ende meines Wehrdienstes, bei einem Wochenendurlaub, zuhause meine Zukunftsüberlegungen und deren Ergebnis mitteilte, trat für Mutter der Super-GAU ein. Sie hatte mich peinliches Subjekt endlich, nach fast zwei Jahrzehnten Manipulation, erfolgreich aus ihrem Haushalt entfernt, und nun kam ich zurück in ihre Wohnung. Das ging aus ihrer Sicht überhaupt nicht.
Die Gefahr musste rechtzeitig abgewendet werden. Während ich den restlichen Wehrdienst leistete, wirkte Mutter in meiner Abwesenheit und hinter meinem Rücken. Sie begann nach einer neuen Abschiebemöglichkeit für das geistig minderbemittelte Kind zu suchen. Grundgedanke: „Der kommt mir nicht wieder in den Haushalt. Er muss und soll dauernd beaufsichtigt werden!“ Sie wollte mich loswerden, und was sie dafür tun müsse, dürfe keinesfalls meine Zukunftsplanungen begünstigen.
Wie schon geschildert, bezog ich nach dem Wehrdienst mein altes Zimmer in der elterlichen Wohnung. Mutter konnte dabei nicht an sich halten und begann sofort mit der von ihr erdachten Rauswurfprozedur: „Such dir eine Arbeit, damit du Geld hast und ausziehen kannst!“ Sie hatte sich noch eine besorgte Variante für ihre Agitation ausgedacht und wandte die an, als ich meinen Seesack bei der Rückkehr vom Wehrdienst noch nicht abgestellt hatte: „Ich habe mir schon gedacht, dass du zur Arbeitssuche nicht in der Lage bist, deshalb habe ich etwas für dich gefunden. Es war nicht leicht. Du kannst ja nichts. Trotzdem wird dich jemand nehmen. Da kannst du Hilfsarbeiten machen und bekommst ein Zimmer. Man hat mir versprochen, sich dort um dich zu kümmern. Ich habe eine Telefonnummer, da musst du gleich anrufen, sonst ist die Anstellung weg!“
Die Sichtweise dieser Frau war für mich beleidigend und herabwürdigend. Schließlich hatte ich erfolgreich einen marktrelevanten handwerklichen Beruf erlernt, meine angebliche staatsbürgerliche Pflicht als Soldat erfüllt und war an einer Hochschule zum Studium angenommen worden. Daraus kann man eigentlich nicht den Schluss ziehen, dass ich völlig unfähig sei. Doch meine Leistung und meine Zukunftsplanung waren für sie irrelevant. Auf diese demonstrative Herabwürdigung ging ich nicht ein.
Nach dem Wehrdienst wollte ich erst einmal im Zivilleben ankommen. Mutters Ansinnen passte nicht zu meinen Interessen. Zudem erschien mir ihr Stellenangebot nicht besonders attraktiv. Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie ich auf so was wie einem Schrottplatz nach Weisung Schrottstücke umschichte, dort in einer karg ausgestatteten Baracke wohne und mit Fremden gemeinsam zu festen Zeiten essen musste. Ob ich nach Feierabend das Gelände verlassen dürfe, erschien mir fraglich.
Inwieweit diese Einschätzung der Realität entsprach, wurde nicht geklärt, jedenfalls war diese Tätigkeit keine Perspektive für mich. Meiner ungeduldigen Mutter verkündete ich beharrlich: „Ich werde studieren!“
Das muss für sie eine fast unerträgliche Provokation gewesen sein. Vermutlich wollte sie deshalb ausrasten. Das ging wegen ihrer Erziehung nicht. Mutter musste die lebensuntüchtige „Dumpfbacke“ führen. Sie konnte diesem Individuum die Studienabsicht nicht durchgehen lassen. Aus ihrem Blickwinkel konnte ich nicht einmal richtig lesen und schreiben. Deshalb war ich auch nicht in der Lage, richtig zu denken und eigene Entscheidungen zu treffen, schließlich war ich erbkrank und hatte einen flachen Hinterkopf. Darauf hatte sie in der Vergangenheit unermüdlich hingewiesen.
In ihrem Wahn begann Mutter sich zu fragen, ob dieses geistig behinderte Kind denn zu solch einem schlechten Scherz fähig sein könnte? Schließlich rettete sie der Gedanke, das Ansinnen dieses Kindes musste ein Scherz sein. Sie entschloss sich, den Scherz gnädig zu übergehen. Diese kurze Phase erinnere ich gut, weil Mutter plötzlich eine Verhaltensmischung aus belustigt, weil Scherz erkannt, und jovial zeigte. „Scherz gelungen. Mach jetzt aber, was ich dir sage.“
Ihre Abschiebeaktivitäten behielt sie bei. Mehrmals täglich forderte Mutter mich auf, endlich diese Telefonnummer wegen der Arbeitsstelle anzurufen: „Die ist sonst weg und du hast doch nichts!“ Sie sagte nicht, was das für eine Hilfsarbeit wäre und auch nicht, wie der Betrieb hieß, in dem ich arbeiten würde. Das wird einem Arbeitsuchenden aber üblicher- und praktischerweise mitgeteilt. Auf meine diesbezüglichen Fragen antwortete sie stereotyp: „Das wird man dir dann schon sagen!“
Mich beschlich der alarmierende Gedanke, ich solle in einer Irrenanstalt anrufen und mich so ungewollt selbst einliefern. Stur rief ich da nicht an. Auf dem Zettel stand auch nur: „Gleich Anrufen“ und eine Telefonnummer.
Nun versuchte es Mutter mit Hilfsbereitschaft: „Wenn du dich nicht traust dort anzurufen, mache ich das auch gerne für dich!“ Diese Form der mütterlichen Hilfe kannte ich. Am Telefon haute Mutter mich dann in die Pfanne, indem sie den ganz fiesen Muttertrick anwendete: „Sie müssen verstehen, mein Sohn ist verwirrt und weiß nicht, was er sagt. Sie können aber jetzt mit ihm sprechen …“ Der provokant bereit liegende Zettel mit der Telefonnummer war schließlich verschwunden.
Als Vater gegenüber Mutter mein Studienvorhaben bestätigte, bekam sie Panik. In ihrer Welt der alternativen Fakten war der gesellschaftliche Super-GAU eingetreten. Sie war entehrt und konnte sich ihrer Meinung nach auf der Straße und in Geschäften nicht mehr sehen lassen. Mit dieser Auffassung und ihrem Panikverhalten setzte sie alle Familienangehörigen unter Druck.
So kam es zu einer seltenen Aussprache mit allen Betroffenen. Ein Familienrat. Die Sitzungsleitung übernahm Mutter und erklärte das von mir verursachte Problem, mit dem ich die ganze Familie schädige. Sogar meinen Brüdern sei das in ihren Schulen sehr peinlich. Das müsse aufhören, man wolle wieder frei leben! Als Grund für diese Analyse führte sie an: Es wäre in der Umgebung bekanntgeworden, dass ich studieren will. Weil alle wissen, dass ich geistig zurückgeblieben sei, würde man überall über die Familie lachen, weil jedem klar ist, dass Dumme mit schlechter Schulbildung nicht studieren können. Außerdem würde man hinterrücks tuscheln und sich darüber amüsieren, wieso die Familie nicht in der Lage sei, den verwirrten Jungen in den Griff zu bekommen und in das seinen Fähigkeiten angemessene Berufsleben zu bringen. Ihr ist das alles so peinlich, dass sie nicht mehr einkaufen gehen könne. Damit sei die Versorgung der Familie zusätzlich gefährdet.
Vater und ich hörten diesen Gedankengängen freundlich zu. Meine beiden Brüder sagten nichts und wirkten neutral. Vermutlich konnten sie abschätzen, ob sich die Kunde von meinen Studienabsichten in zwei Städten und einem Umkreis von dreißig Kilometern bei den dort lebenden dreihunderttausend Menschen herumgesprochen hatte. Ihre Schulen lagen entsprechend weit auseinander.
Vater entgegnete Mutters Argumentation nichts, er blieb stumm. Als Lösung schlug ich vor, die Einkäufe für sie zu erledigen, weil ich das bereits als Achtjähriger für sie getan hatte. Dann würde ihr die Peinlichkeit in den Geschäften erspart bleiben. Mir sei Studieren nicht peinlich. Dieses Hilfsangebot lehnte sie panisch ab. Damit war der Familienrat beendet. Es war der erste Familienrat, an dem ich teilnehmen durfte.
Betroffen und unzufrieden erkannte Mutter, dass sie für die selbst empfundene Redlichkeit ihrer Bemühungen, mich abzuschieben und mein Studium zu verhindern, in der Familie keine Hilfe bekommen würde.
Weil sie die Verhinderung meines Studiums als ihre Pflicht einstufte, suchte sie nach einem anderen Weg. Schließlich wusste sie als Mutter am besten, was für mich richtig sei. Dafür ersann sie einen Plan B. Für dessen Verwirklichung wurde sie wieder im Hintergrund tätig. Dafür nutzte sie heimlich das familiäre Telefon.
Als Erstes rief sie die Mutter meines Schulfreundes an, der studierte. Dieser erklärte sie, ich sei viel zu dumm zum Studieren, dürfe nicht an die Hochschule gehen und fragte, wie man das verhindern könne. Das müsse sie als Mutter eines Studenten wissen und Handlungsmöglichkeiten kennen. Den eigenen Sohn müsse sie vor solch einer peinlichen Dummheit bewahren.
Die angesprochene Mutter sah bei meiner Mutter keine Fürsorge und lehnte entgeistert eine Mithilfe ab. Schließlich war sie selbst stolz, dass ihr Sohn studierte. Die befragte Mutter kannte mich seit der Grundschulzeit. Sie stufte mich nicht als auffällig geistig behinderten Jungen ein, sondern im Gegenteil als intelligent und studierfähig. Deshalb lehnte sie es ab, meiner Mutter bei ihrem destruktiven Tun zu helfen. Der Schulfreund und zukünftige Kommilitone erzählte mir von dieser Begebenheit viereinhalb Jahrzehnte später. Bis dahin blieb mir diese mütterliche Aktion unbekannt.
Mutters Plan B
hatte einen zweiten Teil. Sie begann in der Hochschulverwaltung und bei Professoren anzurufen, um mich schlecht zu machen. Sie verlangte dort, dass man mir nicht gestatten dürfe, das Studium aufzunehmen.
Von all dem ahnte ich nichts und trat hoffnungsvoll mein Studium an. Mein Leben änderte sich radikal an der universitätsgleichen, ranghöchsten Ausbildungsstätte der Mittelgebirgsstadt. Das erste Semester war, wegen der künstlerischen Grundausbildung, für mich die notwendige Erholung. Kreativität und Wissen, eine tolle Kombination. Endlich hatte ich die heimische Welt der geistlosen Monologe hinter mir gelassen und war in die Welt der relativ geistreichen Dialoge gekommen. Dort begann ich an das Leben zu glauben.
Irgendwann kam der zweite Teil des Plans B
meiner Mutter heraus. In einem späteren Semester fragte mich der Dekan des Fachbereichs: „Sind sie nicht der Student, dessen Mutter anruft und dessen Exmatrikulation verlangt, weil er zum Studium …“ Er unterbrach die Frage, weil er sah, dass ich von diesen Dingen nichts wusste und fügte an: „Sie hat das Gegenteil erreicht.“ Damit war die Sache erledigt.
Dieses kurze Gespräch samt meiner Erkenntnis über Mutters Bosheit verdrängte ich zunächst und machte freudig mit dem Studium weiter. Erinnern konnte ich das erst wieder, als mir der Schulfreund Jahrzehnte später von den damaligen Aktivitäten meiner Mutter erzählte.
Mein Familienleben war dagegen prekär. Im ersten Semester musste ich nachts in die elterliche Wohnung zurück, weil dort mein Bett stand. Das brachte den täglichen Schock im Vergleich mit meinem studentischen Tagesablauf. Es begann an der Haustür. Einen Wohnungsschlüssel hatte ich als Volljähriger immer noch nicht und musste mit der Klingel um Einlass bitten. Dass mein Einlass familiendramatisch an einem seidenen Faden hing, entzog sich meinem Blickfeld. Schließlich hatte ich nie einen Wohnungsschlüssel erhalten. Auch in meinem fünften Schuljahr war mir der Schlüssel verweigert worden, während mein in die erste Klasse gehender Bruder einen Schlüssel bekam. Mutter hatte das mit dem Hinweis begründet: „Der Kleine ist ein Schlüsselkind, du nicht.“ Eine für sie typische Dialektik.
Während des gesamten ersten Semesters verlangte Mutter von mir die mit dem erwähnten Zettel zusammenhängende Hilfsarbeiterstelle anzunehmen: „Sieh doch ein, dass du für ein Studium zu dumm bist. Du verstehst doch überhaupt nicht, was da gemacht wird. Ruf endlich die Telefonnummer an!“ Sie gab sich dabei vertraut besorgt, so als ob ich nur aus dümmlichem Trotz studiere und das genau wisse.
Inzwischen fragte ich mich, wieso dieser Arbeitsplatz immer noch frei sein konnte. Sie hatte mir doch vor Monaten erklärt, ich müsse dort sofort anrufen, sonst sei der Arbeitsplatz vergeben. Außerdem war der Zettel mit der Telefonnummer längst weg. Vielleicht hatte sie ihren Kontakt zu dieser Arbeitsstelle nie abreißen lassen.
Das Semester ging vorbei und Mutter kam in ihrer Verzweiflung zu dem Schluss, ich würde da nicht hingehen und nur so tun, als ob ich studiere. In Wirklichkeit würde ich erneut betrügen, um ihr faul auf der Tasche zu liegen. Sie fragte allen Ernstes: „Was machst du wirklich am Tag? Sag endlich die Wahrheit. Ein richtiger Student muss viel lernen, das sehe ich bei dir nicht!“ Diese feindliche Unterstellung erreichte mich emotional nicht. Stur erklärte ich ihr, dass ich wirklich studiere.
In dem Zusammenhang muss man wissen, heute sind die Studienverhältnisse anders als im Sommersemester 1970, sie waren vergleichsweise privilegiert. Jeder Student hatte einen Arbeitsplatz mit Tisch und Schrank. Man konnte dort in der Bibliothek und in Kunstwerkstätten arbeiten. Es gab kein Gedränge. Die Hochschule hatte täglich vierundzwanzig Stunden geöffnet. Auf heimisches Lernen war ich nicht angewiesen. Deshalb konnte Mutter mich beim Studieren nicht behindern.
Wegen meiner unbeirrten Behauptung, dass ich studiere, kam Mutter getreu ihres Gedankenansatzes zu dem Schluss: „Das kann kein richtiges Studium sein, sonst hätte man dich dort längst rausgeworfen!“ Möglicherweise hatte sie diese Erkenntnis meinen beiden kleinen Brüdern nachhaltig vermittelt, um diese Kinder auf ihrer Seite zu haben. Wie nachhaltig ihr das gelang, wird sich später zeigen.
Mutters Weltbild focht mich in keiner Weise an. Darin entdeckte sie den Beweis, dass diese geistig minderbemittelte Person nicht beurteilen kann, was sie tut. Andererseits vermutete sie, ich könne mit diesem Geisteszustand niemals an einer hohen Bildungsinstitution betrügen. Wenn ich wegen Dummheit nicht studieren konnte, dann musste es einen anderen Grund für mein Studium geben. Hier fand sie die Lösung und entwickelte eine Theorie zur Einstufung von Bildungsinstitutionen, in denen geistig Zurückgebliebene nicht auffallen. Demnach war die „Staatliche Hochschule für bildende Künste“, wie schon die „Industrie- und Handelskammer“, völlig wertlos, weil ich etwas damit zu tun hatte. Endlich hatte sie eine plausible Erklärung gefunden. Ganz ausgerottet ist ihr Verdacht, an Kunsthochschulen studieren verrückte Künstler, bis heute nicht.
Mit dieser Erklärung konnte Mutter ihr Weltbild wieder aufrichten. Trotzdem sah sie ihr Ansehen von dem Sohn ihres Mannes, der unkontrollierbaren Schande ihrer Familie, weiterhin beschmutzt. Die Ehre der ganzen Familie stand immer noch auf dem Spiel, wenn noch mehr Leuten bekannt wurde, dass der geistig zurückgebliebene Sohn überall in ihrer Umgebung erzählte, er würde studieren.
„Das glaubt doch keiner. Die halten dich für irre. Das schadet uns allen!“ Damit appellierte sie an meine Verantwortung gegenüber dieser Familie. Dass sie mir mehrfach verkündete, ich gehöre nicht zu ihrer Familie, hatte sie anscheinend vergessen.
Mutters Auffassung nach war mein Studentenstatus so peinlich, dass sie die Wohnung nicht mehr verlassen konnte. Dieser Schmach musste ein Ende gesetzt werden. Sie wollte frei sein.
Ihre unerträgliche Scham konnte sie mit verändertem Einkaufsverhalten etwas lindern. Dafür wurde nur noch am Wochenende in großen Einkaufszentren der Nachbarstädte eingekauft. Wenn ich an solchen Tagen nicht an der Hochschule, sondern in der Wohnung war, dann durfte ich während der Einkaufszeit nicht allein dort bleiben. Mutter fürchtete um die Wohnungseinrichtung und ihren Ruf. So musste ich mit in das Einkaufszentrum reisen, dort aber fern der Familie eigene Wege gehen. Wir fuhren mit Vaters Auto. An Samstagen waren die Einkaufszentren brechend voll. Für mich waren diese Ausflüge eine positive Abwechslung.
Diese Frau konnte auch jetzt nicht aufgeben. Ihr unerträgliches Leben musste ein Ende haben. Das geistig minderbemittelte Kind sollte endlich wirksam kontrolliert werden. Sie wollte ihre Kontrollpflicht an eine Institution abgeben. So konnte der von ihr für mich zum Schutz der Allgemeinheit vorgesehene Lebensweg durchgesetzt werden. Gemäß den Regeln ihres Herkunftslandes war das die Pflicht aller.
Ihr nun anlaufender Plan C
setzte bei Vater an. Mutter begann ihn mehr als sonst zu drangsalieren. Das tat sie zunächst verbal. Sie warf ihm vor, er verhielte sich falsch, weil er mein Studium befürwortete. Darüber hinaus verlangte sie von ihm, dass er meinem Studium ein Ende bereite und mich anweise, die Hilfsarbeiterstelle anzunehmen, die sie für mich extra organisiert hatte. Man müsse endlich ihre mütterlich besorgte und zum Wohle des zurückgebliebenen Kindes erbrachte brillante, aufwändige Organisationsleistung anerkennen. So missachten wie bisher dürfe er seine Frau nicht, schließlich sorge sie für alle und das verdiene gerechte Anerkennung. Das Kind müsse endlich Gehorsam zeigen.
Der zweite Teil des Plans C
bestand aus einem zusätzlichen Rachefeldzug. Sie quälte Vater mit überzogenen Geldforderungen. Wenn er für mein Studium das Geld hinauswerfe, dann müssten sie und meine Brüder zum Ausgleich viel mehr Geld bekommen. Das Szenario unterstrich sie mit gelegentlich künstlicher Lebensmittelknappheit. Sie begann auch, für ihre beiden anderen Söhne angeblich dringend notwendige Dinge zu kaufen und so Haushaltsgeld zu vernichten.
Der von ihr sonst noch ausgeübte Psychoterror blieb mir verborgen, weil ich mein eigenes Leben führte und möglichst nur zum Schlafen in die elterliche Wohnung kam. In der Wohnung benutzte ich nur Wasser, Seife, Shampoo, meine Zahnbürste mit Zahnpasta und Toilettenpapier. Selbst meine Wäsche wusch ich im Waschsalon.
Geld von Vater brauchte ich nicht und bekam es auch nicht, weil der Erlös vom Verkauf meines Autos für das erste Semester zum Lebensunterhalt und für Studienmaterial reichte.
Mit dem inzwischen geschaffenen gefühlsmäßigen Abstand zur Horrorfamilie konnte ich die irren familieninternen Ereignisse aushalten. Dazu plante ich, meine Finanzen durch Arbeit in den Semesterferien zu sichern. Dann würde ich ein Zimmer in der Nähe der Hochschule suchen, um auch räumlich von diesen Leuten getrennt zu sein. Mit Vater hatte ich das abgestimmt.
Mit dem Beginn dieses neuen Lebens verdrängte ich die hier beschriebenen familiären Ereignisse. Sie fielen in die Schublade der dissoziativen Amnesie.
Eines bleibt jedoch, diese Mutter versuchte, dem minderwertigen Kind, mir, das nach den NS-Regeln korrekte
Leben zu gewähren. (Siehe Deutsches Gold, Gesundes Leben, Frohes Schaffen) Sie fühlte sich dabei im Recht. Dr. Johanna Haarer griff privat auch steuernd in das Leben ihrer nicht minderwertigen erwachsenen Kinder ein, berichtete ihre jüngste Tochter.


