Erlebnisse, Tätigkeiten und Erfahrungen 1945 bis 1949
Kapitel 4
Das Diktat der Menschenverachtung
Wiederholt wurde über Medizin und Medizinstudium geschrieben. Erregend wurde 1947/48 eine Diskussion durch mehrere Ausgaben aus Anlass einer Besprechung des Buches von Alexander MitscherlichAlexander Harbord Mitscherlich (geboren am 20. September 1908 in München; gestorben am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Arzt, Psychoanalytiker, Hochschullehrer und Schriftsteller. Sein bekanntestes Werk Die Unfähigkeit zu trauern
, das er 1967 gemeinsam mit seiner Frau Margarete Mitscherlich veröffentlichte, befasst sich mit dem Umgang der ehemaligen Anhänger Hitlers mit ihrer eigenen Verstrickung in Schuld und Untergang des Nationalsozialismus.Klick für Wikipedia.de und seinem Mitarbeiter Fred Mielke Das Diktat der Menschenverachtung
durch den obengenannten Physiologen und inzwischen auch Rektor der Universität Hermann ReinFriedrich Hermann Rein (* 8. Februar 1898 in Mitwitz, Oberfranken; † 14. Mai 1953 in Göttingen) war ein deutscher Physiologe und Hochschullehrer.Klick für Wikipedia.de. Aufgrund von Dokumenten aus dem Nürnberger ProzessDer Nürnberger Ärzteprozess fand vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 als erster der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen Verantwortliche des Deutschen Reichs zur Zeit des Nationalsozialismus im Nürnberger Justizpalast vor einem amerikanischen Militärgericht statt und umfasste 139 Verhandlungstage.Klick für Wikipedia.org gegen 23 Ärzte wegen Mord durch wissenschaftliche Experimente
Die Unterdruck-, Unterkühlungs- und Meerwasserversuche wurden im KZ Dachau durchgeführt. Bei diesen Versuchsreihen wurden etwa 200 KZ-Häftlinge Versuchsopfer, von denen zwischen 70 und 80 bei den Versuchen verstarben.Klick für Wikipedia.org berichtet Mitscherlich, dass auf einer Tagung beratender Wehrmachtsärzte im Dezember 1942 mit 95 Teilnehmern, unter ihnen namhafte Vertreter der Wissenschaft, keiner gegen die Versuche Protest erhoben habe. Hiergegen wehrt sich Rein, der auf der Tagung gewesen sei und veranlasst prominente Kollegen – SauerbruchWährend des Dritten Reiches
(1933–1945) erwies sich der bis dahin politisch nicht aktive Sauerbruch laut dem Historiker Udo Benzenhöfer als schwankender, differenzierender Bejaher
des Nationalsozialismus., HeubnerWenn Regierungsmaßnahmen mit den Überzeugungen des Pharmakologen Wolfgang Heubner nicht übereinstimmten, protestierte er nicht nur in privatem Gespräch, sondern auch schriftlich gegenüber Nazi-Potentaten und dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Er betonte, Wissenschaft könne nur aus einer freiheitlichen Gesinnung heraus gedeihen. – zu bestätigenden Äußerungen. Im Hin und Her stellte sich heraus, dass die Herren sich offenbar nur untereinander und außerhalb der offiziellen Sitzung empört hatten … Wichtig war, dass die Kontroverse zu grundsätzlicher Hinterfragung gängiger wissenschaftsethischer Postulate geführt hatte: Ist
– nach, den Worten von Rein – dem wahren Wissenschaftler Humanität ein selbstverständliches Lebenselement?
, Mitscherlich dagegen Unmenschliche Wissenschaft
, ganz abgesehen von den im Ärzteprozess verhandelten wissenschaftlich unhaltbaren Verbrechen, als eine wachsende Gefahr unserer Zeit herausstellte. Die GUZ stellte abschließend fest:
Hinter dem Angriff Reins gegen Mitscherlichs Auffassung von der Welt der Wissenschaft steht die Sorge um die Wahrung der
reinenWissenschaft und ihrer Ehre, dieunantastbarsei, während Mitscherlich dagegen an ein Verschulden glaubt, das aus ihrem unzulänglichen Wesen stamme, und daher eine neue ethische Fundierung der medizinischen Wissenschaft für nötig hält. Es geht also um Bewahrung oder Revolutionierung der traditionellen Wissenschaftsauffassung. Nur an der Klärung dieses Problems liegt der GUZ, nicht aber an den tatsächlichen Vorgängen auf der Nürnberger Tagung von 1942.
Die Behandlung der Kontroverse zeigte im Übrigen, dass die GUZ ihre Unabhängigkeit zu wahren verstand, auch wo der Rektor ihr eigener Protektor, persönlich peinlich involviert war.
Eine grundsätzliche Diskussion ähnlicher Art über deutsche Professoren und ihre Wissenschaftsauffassung löste ein Vortrag über die Studenten Verlorene Generation?
von Karl BarthKarl Barth (* 10. Mai 1886 in Basel; † 10. Dezember 1968 ebenda) war ein Schweizer evangelisch-reformierter Theologe. Ab 1911 engagierte er sich als radikaldemokratischer Sozialist. Ab 1914 brach er mit der deutschen liberalen Theologie seiner Lehrer, die den Ersten Weltkrieg unterstützten.Klick für Wikipedia.de, dem bekannten protestantischen Baseler Theologen und Gegner des Nationalsozialismus im Mai 1947 aus. Barth sprach zunächst von Gefahren aus der wirtschaftlichen Not und aus den Zwängen der Besatzungspolitik, denen der deutsche Student ausgesetzt sei. Als letzte Gefahr nannte er die ältere Generation … in Gestalt der Mehrheit seiner Professoren
. Nach Verweis auf ehrenvolle Ausnahmen fährt er fort:
Es sind zu viel dieser Anderen, die viel zu wenig gelernt und viel zu wenig vergessen haben, als dass sie der akademischen Jugend gerade bei der für ihre Zukunft so dringend nötigen Klärung des Verhältnisses von deutscher Vergangenheit und Gegenwart und zu einer wirklichen Aufgeschlossenheit für neue Fragestellungen hilfreich sein könnten: Keine Bösewichte, keine Nazis, nur unverbesserliche Nationalisten in der Art derer, die das zum ersten Mal frei gewordene Deutschland 1918-1933 dem neuen Verderben entgegengeführt, es schließlich ans Schlachtmesser geliefert, dann sich als
anständige Leuteaufs Grollen und wohl auch aufs Komplottieren gegen Hitler verlegt haben und nun längst wieder zu mehr oder weniger vernehmlichem Grollen gegen die letztlich nicht ohne ihre ganz besondere Mitschuld entstandene Lage übergegangen sind.
Es folgte ein engagierter Briefwechsel zwischen dem angesehenen Heidelberger Zoologen Erich von HolstErich von Holst (Erich Walther von Holst; * 28. November 1908 in Riga; † 26. Mai 1962 in Herrsching am Ammersee) war ein deutscher Biologe, Verhaltensbiologe und Neuroethologe.Klick für Wikipedia.de und Karl Barth, der hier auszugsweise zitiert sei. Von Holst verwahrt sich gegen die schweren Beschuldigungen gegen die Mehrheit der Professoren und die kurze, schlagwortartige Kennzeichnung dieses Typus
. Seine Lehrer seien vielleicht
gewesen, aber er finde keinen Mann, auf den Barths Beschreibung passe. Barth erwiderte mit Aufzählungen von Erlebnissen während seiner Lehrtätigkeit von 1921 bis 1935 in Göttingen, Münster und Bonn und fasst zusammen:weltfremde
Idealisten, manche von ihnen engstirnig in ihre Arbeit verbohrt
In den Jahren 1921-1933 fand ich die Professorenschaft, wie ich sie gesellschaftlich, in Sprechzimmern, Senatssitzungen und anderswie kennen lernte, mit wenigen Ausnahmen durchaus mit dem damals üblichen Kampf gegen
Versaillesbeschäftigt und gegenüber der armen Weimarer Republik – weit entfernt davon, dass man ihr auch nur eine faire Chance gegeben hätte – in einer Haltung, die ich auch heute nur mit dem Worte Sabotage bezeichnen kann. Sie hat dem politischen Unsinn, dem sich breite Schichten der damaligen Studentenschaft ohnehin hingaben, nicht nur keinen Widerstand geleistet, sondern ein väterliches Wohlwollen und teilweise direkte Förderung entgegengebracht …Und Sie haben dann weiter gesehen, was 1933 geschah: Wie die ganze akademische Herrlichkeit dieser Professoren mitsamt ihrem Berufsethos vor dem hereinbrechenden klaren Unfug zusammenbrach, wie ein Kartenhaus, wie sie in den verschiedensten Abstufungen, aber –immer mit einigen wenigen ehrenvollen Ausnahmen! – einmütig sich umstellten und einstellten, laut oder leise mitzutönen begannen mit dem damals guten Ton, was für Purzelbäume man da schlagen sah, was für Deutungen und Umdeutungen, Anpassungen und Gleichschaltungen. Ihre
weltfremden Idealistendamals auf einmal für nötig und möglich hielten. Ich konnte es den Leuten nicht einmal besonders übelnehmen, weil ich diese Katastrophe des Geistes immer für die klare Folge desdeutschnationalenUnwesens gehalten hatte, von dem man 1918 nicht hatte Abschied nehmen wollen, dem man sich in der Zwischenzeit vielmehr erst recht hingegeben hatte.Ich will der bewussten Mehrheit der deutschen Professoren gerne und in aller Aufrichtigkeit erklären, dass ich sie in globo für hochanständig halte, muss aber hinzufügen, dass ich sie eben darum für umso gefährlicher halte, weil sie zwar nie echt nationalsozialistisch war, endlich und zuletzt sogar zum Widerstand (oder doch zum Grolle) gegen Hitler übergegangen ist – im Grunde aber: in dem Grunde, aus dem das nationalsozialistische Übel hervorgegangen ist, nichts gelernt und nichts vergessen hat und mit höchster Anständigkeit auch die höchste Rückständigkeit zu verbinden weiß.
Von Holst stellt in seiner Erwiderung die idealistische und zugleich unpolitische Haltung der ihrer Wissenschaft hingegebenen Naturwissenschaftler dar:
Sie fragen, wo ich um 1933 meine Augen hatte? Ich kann es Ihnen genau sagen: Ich hatte sie – und meine meisten Lehrer und Freunde ebenfalls – in der wissenschaftlichen Arbeit. Das war in der Tat, so glaube ich heute, meine und unsere Schuld: Nicht
AnpassungenundPurzelbäume(obschon es solche gewiss auch gab), sondern Abkehr und mangelndes Interesse, das sich dann langsam zu passiver Resistenz versteifte …Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass ich genau wie Sie überzeugt bin, dass bei uns Verschiedenes anders werden müsste. Der Typ, den Sie meinen, der nationalegoistische Chauvinist, erscheint auch mir verdammenswert. Und schuldig sind, so glaube ich heute, auch die, welche ihm nicht angehören und von Ihnen vielleicht sogar als rühmliche Ausnahme betrachtet werden: Die Unpolitischen, die, wie ich selbst, abseits standen, aber doch nicht verhindern konnten, dass ihr wissenschaftliches Tun den Machthabern indirekt Kräfte zuführte. Ich denke hier vor allem an mein Gebiet, Naturwissenschaft und Technik …
Diesen unseren Anteil an der Gesamtschuld, der darin besteht, dass wir nur für die Wissenschaft um ihrer selbst willen Verantwortung übernehmen wollten, statt wie ein guter Handwerker auch über die Verwendung unserer Erzeugnisse zu wachen und über die Hände, die sie gebrauchen sollen, nimmt uns keiner ab. Sie wird dadurch nicht geringer, dass die deutschen Wissenschaftler sich nicht unter den kollektiv Angeklagten befinden, was ohne Zweifel der Fall sein würde, wenn wir selbst die verheerendste Waffe dieses Krieges erfunden hätten! Der Satz, dass die Wissenschaft, als Erzeugerin der Machtmittel, eine Hauptschuldige dieses Krieges sei, enthält einen wahren Kern. Für dieses Mal hat sie versagt, für die Zukunft aber gibt es, scheint mir, nur den einen Ausweg, dass die Wissenschaft in der Politik sich eine, starke Stimme verschafft.
Abschließend nennt von Holst Tatsachen
, die eher Postulaten gleichkommen:
Freilich sei zugegeben; dass die Wissenschaftler die von ihr zu übernehmende Verantwortung nicht eines Tages missbrauchen, dafür gibt es keine sichere Garantie. Doch sprechen drei Tatsachen dafür, dass ihre Auslese eine günstige Prognose erlaubt:
- Der echte Naturforscher hat, wo überhaupt, so nur ganz sublimierte Machtgelüste, er will nicht Menschen, sondern höchstens Naturgesetze geistig beherrschen. Darum widerstrebt ihm auch im Grunde jedes politische Tun.
- Er ist kein Dogmatiker, sondern ein Mann kritisch-besonnenen Abwägens …
- Er hat sein Leben nicht auf reichen materiellen Gewinn und nicht auf öffentliches Ansehen eingestellt. …
Diese drei positiven Momente sind im Allgemeinen gegeben, wenn man den Durchschnitt der Wissenschaftler betrachtet. Das vierte und wichtigste:
Das Durchdrungensein von dem Eigenwert jeder menschlichen Person und jedes völkischen (nationalen) Charakters, gehört nicht notwendig zum Naturforschertypus.Es ist eine menschliche Grundeinstellung, logisch nicht ableitbar, die man apriori hat oder auch nicht hat. Sie muss dazu kommen, und unsere ganze Zukunft hängt davon ab, ob die Verantwortlichen, denen die Macht gegeben ist, sie besitzen oder nicht.
Doch Barth bleibt gegenüber von Holsts Idealismus unerschüttert. In seinem abschließenden Brief erläutert er seine Position nochmals:
Meine Antwort bestand darin, dass ich auf Einiges hingewiesen habe, was ich für Tatsachen halte. Ihre Entgegnung stellt diese Tatsachen nicht in Abrede; sie versucht aber, sie zu deuten. Ich fürchte, dass wir damit nicht weiterkommen, denn gerade auf die
jeweiligen Motivekommt in der zwischen uns verhandelten Frage nicht das Geringste an, sondern alles schlicht darauf, wie der Lehrkörper der deutschen Universität in seiner repräsentativen Mehrheit tatsächlich gestanden hat, steht und stehen wird. Und in dieser für meinen Verstand entscheidenden Hinsicht haben Sie mir keine beruhigende Erklärung gegeben. Denn eben das war es doch schon 1933, dass man den Nationalsozialismus an den deutschen Universitäten so kunstvoll, tiefsinnig und idealistisch zu deuten wusste und dann gerade mit Hilfe all der vortrefflichen Deutungen tatsächlich gefördert hat … Sagen Sie mir auf den Kopf zu, … dass Ähnliches … in Zukunft nicht zu erwarten sei. Das ist es, was ich wissen möchte, bevor ich meine angefochtenen Sätze zurückziehen könnte.
Im Dezember 1947 brachte die GUZ einen langen Auszug aus der deutschen Übersetzung des Berichts einer Delegation der British Association of University Teachers
nach einem Besuch der Universitäten in der britischen Zone im Januar 1947. Dies war der kritischste Bericht über deutsche Universitäten bis in die sechziger Jahre. Walter Hallstein, Jurist und zeitweilig Rektor in Frankfurt, diskutierte ihn bald darauf ausführlich teils zustimmend, teils voller Einwände in der GUZ. Im Übrigen verfiel der Bericht nach meiner Beobachtung der Ablehnung und blieb wenig beachtet.