Erlebnisse, Tätigkeiten und Erfahrungen 1945 bis 1949
Kapitel 2
Neuanfang in Göttingen
Es blieb nur, den Start in Göttingen zu suchen. Die Stadt war weitgehend unversehrt
Göttingen hatte den Zweiten Weltkrieg - verglichen mit Nachbarstädten wie Kassel oder Hildesheim - glimpflich überstanden. Die nicht sehr zahlreichen Luftangriffe richteten nur begrenzte Schäden an, und auch das Kriegsende verlief ohne Verluste, da die deutschen Truppen die Stadt den Amerikanern kampflos überließen., wenn auch mit englischer Besatzung und einer wachsenden Zahl von Ostflüchtlingen. Ich fand Zugang zur Universität dank Professoren verwandter Gesinnung, streitbaren Theologen der Bekennenden Kirche wie Hans IwandHans Joachim Iwand (* 11. Juli 1899 in Schreibendorf, Kreis Strehlen, Schlesien; † 2. Mai 1960 in Bonn) war ein deutscher evangelischer Theologe.Klick für Wikipedia, Ernst WolfErnst Wolf (* 2. August 1902 in Prag; † 11. September 1971 in Garmisch-Partenkirchen) war ein deutscher protestantischer Theologe (Professor u. a. für Kirchengeschichte und systematische Theologie). Klick für Wikipedia und anderen. Hilfreich war Rudolf SmendCarl Friedrich Rudolf Smend (* 15. Januar 1882 in Basel; † 5. Juli 1975 in Göttingen) war ein deutscher Staats- und Kirchenrechtler.Klick für Wikipedia, hoch angesehener Staatsrechtler, 1935 aus Berlin nach Göttingen strafversetzt und jetzt erster Nachkriegsrektor. Dank seines Hinweises kam ich zu Richard Passow, einem Professor alter Schule für Wirtschaftslehre der Unternehmungen
. Wegen unbotmäßiger Liberalität war er vom NS-Regime vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden. Jetzt war er reaktiviert und brauchte einen Assistenten. Als zwei bis vor kurzem Diskriminierte wurden wir uns spontan einig. Meine Qualifikation als Diplomingenieur mit Betriebswissenschaft wurde für die Verwaltung einer Assistentenstelle akzeptiert. Ich beabsichtigte, bei ihm zu promovieren. Doch es ging nicht gut. Privatbriefe nach Diktat zu tippen und nach Wiederöffnung der Universität im September 1945 ihn mit seiner Aktentasche ins Kolleg zu begleiten, war nicht mein Fall; ich war ihm auch zu selbstständig in der Übernahme einer Übung.
Gegen Ende des Jahres besuchte mich Ernst Wolf. Da sei doch eine Universitäts-Zeitung im Entstehen, gefördert von dem Physiologen Hermann Rein, herausgegeben von einem spontan gebildeten offenen Redaktionskreis, dessen Sprecher der Oberassistent des Rein‘schen Instituts sei, der noch Anfang des Jahres ein Führer der NS-Dozentenschaft oder ähnliches gewesen sei. Empört bemerkte Wolf, ich müsse zur nächsten Sitzung dieses Kreises gehen und nötigenfalls Remedur schaffen. Ich kam in einen Kreis von etwa 30 Studenten und Studentinnen samt einigen jüngeren Assistenten und Dozenten. Ich bat den Sprecher vor die Tür und fragte ihn auf den Kopf zu, ob meine Information über seine Vergangenheit zuträfe. Ja, so sei es, er habe dieses Amt seinerzeit übernommen, um Schlimmeres für Wissenschaftler und Wissenschaft zu verhüten. Doch von der Redaktionstätigkeit trete er jetzt sofort zurück und überließe sie mir. Von Stund an wurde ich der Redaktionssekretär und blieb es, bis ich dank eines Fellowship des British Council im September 1949 auf längere Zeit an die Universität Birmingham in England entschwand, um eine andere Welt kennenzulernen und konzentriert für meine überfällige Dissertation über ein englisches Thema arbeiten zu können.
Passow schüttelte den Kopf über diese befremdliche Nebentätigkeit. Er stellte mich vor die Wahl: Assistenz oder Zeitung? Nach Beratung mit meiner Frau antwortete ich anderntags: Zeitung.
Irgendwie kränkte ihn dies, doch er sicherte zu, dass ich gegebenenfalls auch weiterhin bei ihm promovieren könne. Mein Entschluss, künftig nicht als Ingenieur mein Brot zu verdienen, stand inzwischen fest. Menschen waren mir wichtiger geworden als Technik.
Die Göttinger-Universitäts-ZeitungVor dem Hintergrund der Forderung, dass sich Angehörige des Wissenschafts- und Hochschulbetriebs wieder mehr in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs einmischen sollen, wurde 1945 die Göttinger Universitätszeitung
erschien ab 5. Dezember 1945 vierzehntägig das Jahr hindurch mit anfangs zwölf, bald 20 Seiten Umfang, das Stück zu 0,50 Reichs Mark. Von der Gründung an genoss sie die wohlwollende Förderung des für sie verantwortlichen britischen Presseoffiziers, deutscher Herkunft, der von seinem Recht der Zensur praktisch keinen Gebrauch machte. Erst 1947 mit der Benennung des Arztes Otto Mertens, des Philosophiestudenten Josef StallmachJosef Felix Stallmach (* 21. Februar 1917 in Zabrze; † 29. Juli 1995 in Mainz) war ein deutscher Philosoph.Klick für Wikipedia und mir als GUZ
von Studierenden und Hochschullehrenden gegründet. Im Herbst 1949 wurde aus der GUZ
die Deutsche Universitätszeitung duz
. Klick für Wikipedia (GUZ), herausgegeben von Dozenten und Studenten der Universität Göttingen mit Genehmigung der MilitärregierungLizenzträger
, ab 1949 Herausgeber, gewann die GUZ auch rechtlich ihre Selbstständigkeit. Die alte kleine Göttinger Druckerei und Verlagsgesellschaft
übernahm Druck und Verlag, sie nahm auch die Redaktion in zwei Räumen auf. Die Zeitung fand rasch über Göttingen mit knapp 5.000 Studierenden hinaus Verbreitung. Die Auflage durfte wegen Papierknappheit nicht über reichlich 10.000 steigen. Der Erlös reichte aus, um einen gewieften Nachrichtenjournalisten aus Magdeburg als professionellen Redakteur anzustellen und auch mir ein monatliches Salär von 400 Reichs Mark zu sichern.
In ihrer konzeptuellen Gestaltung wurde die Zeitung zunächst von dem genannten Personenkreis getragen, einem runden Tisch
, würde man heutzutage sagen. In ihm waren alle Fakultäten vertreten, die Studenten meist Kriegsteilnehmer, im Alter nur wenig unterschieden von den beteiligten Assistenten und Dozenten. Aus diesem Kreis wurde ein Redaktionsausschuss
von meist sechs Personen beiderlei Geschlechts unter meiner Gesprächsleitung gebildet. Ihm oblagen die Sichtung und Überarbeitung der besonders in den ersten Jahren zahlreich eingesandten Manuskripte, der Rekord lag bei 70 in einem Monat, vor allem aber auch Planung und Einwerbung von Manuskripten zu Themen, die wir behandelt sehen wollten. Mit der Zeit verlagerte sich die Initiative zunehmend von dem bald unregelmäßig tagenden und in der Zusammensetzung wechselnden Redaktionskreis in den in seiner personellen Zusammensetzung relativ stabilen Ausschuss. Er pflegte ehrenamtlich eisern jeden Mittwochnachmittag bis tief in die Nacht zu tagen und wurde dabei lange Zeit durch CARE-Pakete bei Kräften gehalten, die uns ein emigrierter Politologe aus Chicago schickte und die meine Frau und eine Freundin in nahrhaften Kuchen und ähnliches umwandelten. Spontaneität, informeller Umgang auch mit Universitätsautoritäten und straffe Disziplin in verantwortlicher Redaktionsarbeit verbanden sich in einzigartiger Weise. Hier wurde alles darangesetzt, in eine neue Zeit aufzubrechen. Wir waren akademische Bürger verschiedener Fakultäten, keine Politiker oder gar Revolutionäre, Männer und Frauen unterschiedlichen Herkommens und Kriegserlebens, nach Jahren meist in den Zwanzigern oder Dreißigern. Wir hatten keine gemeinsame Theorie einer neuen Gesellschaft und nur vage Vorstellungen von einer neuen Universität. Wohl aber hatten wir gewisse Prinzipien, die in der Zeitung als Informations- und Diskussionsforum zur Geltung zu kommen hatten: Humanität, Liberalität, Demokratie nach westlicher Vorstellung. Konkreter: Vor allem Information und Reflexion in academicis, aufrichtige Bearbeitung von Themen aus der NS-Geschichte samt Vorgeschichte, kulturelle und politische Orientierung über Göttingen hinaus – national und, so bald und so weit möglich, international.
Die materielle Not und die allgemeine intellektuelle Ratlosigkeit nach dem Zusammenbruch
1945 werden Deutschland und Österreich durch die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht vom Nationalsozialismus befreit. Das ist das Endes Hilters nationalsozialistischer Diktatur. In der Bundesrepublik Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit wurdenüberwiegend die Begriffe Zusammenbruch
oder Stunde Null
verwendet, welche die materielle Not, Zerstörungen, Demontagen, Flucht und Vertreibung betonen. In der DDR wurde die Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus in Erinnerung an den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung
gefeiert. Von 1950 bis 1966 und 1985 war dieser Tag ein gesetzlicher Feiertag. begünstigten unser Vorhaben. Es gab, wie wir nach der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik erfahren mussten, für wenige Jahre einer kleinen Minorität Gelegenheit zu Impulsen, von denen im Rückblick kaum zu sagen ist, wie weit sie über die Jahre 1948/49 hinaus zu wirken vermochten. In ihren ersten Jahren fand die GUZ hingegen in ihrer Mischung von Informationen, Hochschul- und Studentenpolitik, historischen, kulturellen und politischen Debatten sowie, nicht zu vergessen, durch stetige literarische Auflockerungen umso mehr Beachtung, als der Markt akademisch-politischer Periodika einstweilen sehr beschränkt war. Hier konnten nicht nur junge Akademiker, sondern auch Professoren Gelegenheit suchen, gedruckt zu werden. Die Zeitung war in ihrer unbefangenen, geschichtsbewussten, doch zukunftsorientierten Offenheit vorübergehend geradezu eine lokale Macht, deren sie mit dem Fortschreiten der restaurativen Hochschulreform nach 1948/49 rasch verlustig ging. Persönlich waren meine Stärke und Schwäche zugleich, dass mir, einem Fremden, Göttingen bis zum 30. April 1945 unbekannt war, erst recht in welchem Maße die Wissenschaftler in Lehre, Forschung und Hochschulpolitik brauner Macht und Ideologie gefolgt waren. Ich konnte jedermann unbefangen begegnen und wusste zunächst nichts von dessen Verhalten zur NS-Zeit. Nunmehr suchte die professorale Mehrheit, Mitläufer
zumal, nicht nur die Jahre 1933 bis 1945 vergessen zu lassen, sondern auch ihre eigene Demütigung in den unmittelbar folgenden Jahren. Wer sie schwach gesehen hatte, war unbequem geworden. Ich bekam dies auch persönlich zu spüren, als ich 1951 als Assistent wieder auf der untersten Stufe der akademischen Hierarchie anfangen musste.