Erlebnisse, Tätigkeiten und Erfahrungen 1945 bis 1949
Kapitel 5
Die Verantwortung der Universitäten
Am 7. Mai 1948 schrieb ich über das Vorlesungsverzeichnis 1948
und fasste darin die aus der speziellen Situation der Universität, aber auch die aus der allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Lage sich ergebenden Nöte und Desiderate zusammen:
Universitas?war der Leitartikel der GUZ vom 15. November 1946 betitelt. Er behandelte die Unzulänglichkeit des Göttinger Vorlesungsprogramms für das damalige Wintersemester 1946/47, indem er folgende Mängel feststellte:
- Für die Förderung der Allgemeinbildung sind die öffentlichen Vorlesungen unzureichend.
- Für die fachliche Ausbildung, vor allem der Geisteswissenschaftler, fallen einzelne Gebiete wegen Verwaisung der Lehrstühle weitgehend aus.
- Die Aneignung allgemeiner, fachlicher und politischer Bildung leidet unter dem Mangel an Auslandskunde und unter der Scheu vor Behandlung politischer oder geistig aktueller Probleme seitens vieler akademischer Lehrer.
Dieser Aufsatz könnte mit noch größerem Recht Wort für Wort auch in Anknüpfung an das Vorlesungsverzeichnis für das soeben begonnene Semester geschrieben sein. Außer der vorgesehenen politisch-historischen Vorlesungsreihe, für die allerdings noch keine Redner und Termine bekannt sind, sind die öffentlichen Vorlesungen offensichtlich nicht nach einem pädagogisch durchdachten und kollegial besprochenen Plan, sondern nach der Zufälligkeit der individuellen Ankündigungen der Professoren zusammengestellt. Daher werden dort nur ganz wenige wirklich allgemein interessierende Themen, darunter zwei von politischem Interesse,
Das Revolutionsjahr 1848 in EuropaundGeographie weltpolitisch wichtiger Gebiete, aufgeführt. Ergänzend muss erwähnt werden, dass inzwischen noch ein Gast aus USA mit Vorlesungen über Marx und über die Krise der modernen Gesellschaft hinzugekommen ist.In den Fachvorlesungen ist Professor N.N. nach wie vor der meistbeschäftigte Lehrer, bedrückend ist besonders, dass er großenteils noch die gleichen Fächer vertritt wie im Wintersemester 1946/47. Von insgesamt 94 ordentlichen Lehrstühlen sind, soweit sich die Berufungsverhandlungen übersehen lassen, 20 gar nicht oder nur vertretungsweise besetzt. Besonders schlimm ist die Lage in der Wirtschaftswissenschaft, wo von vier vorhandenen Ordinariaten drei nicht besetzt sind. In der forstlichen Fakultät bestehen vier Lücken bei acht Stellen. Die Germanisten suchen noch immer nach zwei Ordinarien, die Altphilologen und Völkerkundler nach je einem. Und so fort …
Wo Zeitnähe der Themen bei den Fachvorlesungen erwartet werden kann, sieht man sich ebenso enttäuscht wie bei den öffentlichen Vorlesungen. Nur ganz wenige Ankündigungen, wie etwa zwei für die neueste Geschichte und des neuen englischen Lektors deuten ausdrücklich auf die Gegenwart hin. Das neunzehnte Jahrhundert wird dagegen von den Philologen ungleich stärker behandelt. USA und UdSSR fallen völlig aus. Und so fort …
Die planfreie und von den Zeitereignissen kaum berührte akademische Lehrfreiheit, die aus dem Göttinger Vorlesungsverzeichnis spricht, wird, wie ein flüchtiger Blick in andere Vorlesungsverzeichnisse lehrt, in diesem Ausmaß nur teilweise von anderen deutschen Universitäten erreicht.
Insbesondere kann man den ostdeutschen Universitäten diesen Vorwurf nicht machen, mag man auch sonst manches gegen ihren Lehrplan einzuwenden haben. Trotzdem sind die Göttinger Vorlesungsverzeichnisse der, letzten Semester ein besonders deutliches Zeichen, dass unsere Universitäten im Allgemeinen nicht nur einfach an Personalmangel, Organisationsfehlern, Abgeschnittenheit vom Ausland und an materieller Not leiden. Nein, es fehlt das Eingeständnis der Erschütterung durch den inneren und äußeren Zusammenbruch, der alles, was seit etwa 150 Jahren als Ziel menschlichen Lebens galt, in Frage stellt. Es fehlt die Besinnung, welches Bildungsideal überhaupt gültig sein soll. Es fehlt den Universitäten der Sinn für ihre Ganzheit, sie sind innerlich und zum Teil auch organisatorisch in Fakultäten und Lehrstühle zerfallen. Es fehlt damit den Universitäten die Empfindung für die Funktionen, die sie in der Öffentlichkeit durch Auswahl des Lehrstoffes zu erfüllen haben. Es fehlt ihnen in vieler Beziehung das Verantwortungsbewusstsein für die überfachliche Ausbildung der künftigen Pfarrer, Richter, Ärzte, Lehrer und so weiter. Es fehlen schließlich im Allgemeinen Gremien von Professoren und Dozenten, die nicht so sehr die organisatorische, als die innere Erneuerung ihrer Hochschulen gemeinsam in die Hand nehmen.
Glücklicherweise lässt sich berichten, dass im Sommersemester 1949 der Philosoph und Soziologe Helmuth PlessnerHelmuth Plessner * 4. September 1892 in Wiesbaden; † 12. Juni 1985 in Göttingen) war ein deutscher Philosoph und Soziologe sowie ein Hauptvertreter der philosophischen Anthropologie. 1933 wurde Plessner auf Grund des sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und der jüdischen Herkunft seines getauften Vaters aus dem Amt entlassen.Klick für Wikipedia.org, Emigrant in den Niederlanden, erregende Gastvorlesungen in der Art eines Studium generale
hielt. Sie gipfelten in zwei Stunden; die eine über den Kalten Krieg, die andere über die Friedenschance (GUZ, IV, Nr. 17 und 18). Die Aktualität der Themen und die souveräne Beherrschung des Stoffes faszinierten seine Hörer. In seiner urbanen Weitläufigkeit war Plessner eine ungewöhnliche Gestalt. Später, 1951, folgte er einem Ruf nach Göttingen. Aus England zurückgekehrt, wurde ich bei ihm Assistent.