Kap. 6 - Die GUZ, Schwerpunkt unseres Lebens
Die Universitäts-Zeitung war in jenen Jahren Schwerpunkt unseres Lebens in Göttingen, aber sie machte nicht das Ganze aus. Wir fanden viele Freunde und anregende Kollegen; wir fühlten uns persönlich in dem kleinstädtischen Ambiente und der schönen Umgebung nicht unwohl. Der schwiegerelterliche Garten erleichterte uns das tägliche Leben. Wir hatten häufig Freunde aus der GUZ bei uns am Tisch. Lehrtätigkeit in der Volkshochschule und Vorkursen zur Immatrikulation für Notabiturienten
kam der Haushaltskasse zugute. Mit eingesessenen Spießbürgern kamen wir nur punktuell in Kontakt, wir begegneten lebenstüchtigen Flüchtlingen aus dem Osten Deutschlands und machten einen Bogen um verbohrte Nationalisten. In national-konservative Universitätskreise kamen wir kaum hinein. An ehemaligen Nationalsozialisten hatten wir kein Interesse.
Ein wenig Aktivität hatte sich schon 1946 in Göttingen geregt. Es bildete sich ein lockerer Arbeitskreis für neue deutsche Politik
. Der Pädagoge Erich WenigerErich Weniger (* 11. September 1894 in Steinhorst bei Hannover; † 2. Mai 1961 in Göttingen) war ein maßgeblicher Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Geschichtsdidaktiker.Klick für Wikipedia.org war wohl meist Gastgeber. Die Gespräche mögen gelegentlich anregend gewesen sein, führten aber zu nichts; zu schwierig war es, über den eigenen Zaun zu springen. Den ganz überwiegend außerhalb der Universitätskreise sich bildenden politischen Parteien hielt man sich fern. Ich hatte versucht mitzumachen, zog mich aber enttäuscht zurück; der Kreis schlief wohl insgesamt bald ein. Ähnlich erging es anderen Diskussionszirkeln, so beispielsweise bei der aufgeschlossenen Ehrengard SchrammEhrengard Schramm (geborene von Thadden; * 5. Oktober 1900 in Greifenberg in Pommern; † 30. Juni 1985 in Göttingen) war eine deutsche Politikerin (SPD) und Mitglied des Niedersächsischen Landtages.Klick für Wikipedia.org, geborene von Thadden-Trieglaff, der Frau des Historikers Percy SchrammPercy Ernst Schramm (* 14. Oktober 1894 in Hamburg; † 12. November 1970 in Göttingen) war ein deutscher Historiker, der vor allem die Geschichte des frühen und hohen Mittelalters sowie hanseatische Kultur- und Familiengeschichte der Neuzeit erforschte.Klick für Wikipedia.org, der noch lange Zeit seine Offiziersmütze sichtbar an der häuslichen Garderobe hängen ließ. Der Ordinarius Friedrich GogartenFriedrich Gogarten (* 13. Januar 1887 in Dortmund; † 16. Oktober 1967 in Göttingen) war als lutherischer Theologe Mitbegründer der Dialektischen Theologie im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts. Klick für Wikipedia.org, ein intellektueller Wegbereiter des Führertums, hielt häufig die Sonntagspredigt in der Universitätskirche, stets lange, schwer verständliche Kollegs. Seine Schrift Wider die Ächtung der Autorität
(1930) hatte ich bereits vor 1933 in einer philosophischen Arbeitsgemeinschaft meiner Schule kritisch diskutiert.
Andere Begegnungen und Beobachtungen haften mir noch deutlicher im Gedächtnis: Zu Pfingsten 1946 hatte ich mit Angehörigen der Evangelischen Studentengemeinde an einem Treffen in Basel teilnehmen können. Es war eine abenteuerliche Bahnreise. An der Grenze zwischen der amerikanischen und britischen Besatzungszone musste man die Züge wechseln. Der Historiker Hermann HeimpelHermann Heimpel (* 19. September 1901 in München; † 23. Dezember 1988 in Göttingen) war ein deutscher Historiker, der das Spätmittelalter erforschte.Klick für Wikipedia.org erkannte mich und holte mich zu sich ins Abteil. Er erkundigte sich nach dem Geschick meines Vaters, gleichfalls Historiker, der am 6. November 1940 bei einem deutschen Luftangriff auf London ums Leben gekommen war. Heimpel konnte sich nicht genug tun mit teilnehmenden Worten. Leider erfuhr ich bald danach von einem peinlichen Vorfall. Heimpel hatte es zur NS-Zeit abgelehnt, auf Reisen weiterhin in einer Pension in München zu nächtigen, nachdem er erfahren hatte, dass die Inhaberin Mischling
wie ich sei. Später, in den fünfziger Jahren, hat er nie mehr auf diese erste Begegnung Bezug genommen. Er war prominent geworden, ich hochschulkritischer Assistent. So war ich für ihn Luft. Ich könnte die Reihe derartiger Begegnungen verlängern.
Ernst Wolf und der Germanist Klaus ZieglerKlaus Ziegler (* 21. Oktober 1908 in Magdeburg; † 31. Oktober 1978 in Göttingen) war ein deutscher Philologe und Germanist.Klick für Wikipedia.org vermittelten, dass ich im Juli 1947 zu einem vertraulichen Treffen von 35 Personen in Detmold mitgenommen wurde, zu dem namens des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland der Religionspädagoge Oskar HammelsbeckOskar Hammelsbeck (* 22. Mai 1899 in Elberfeld (heute zu Wuppertal); † 14. Mai 1975 in Detmold) war ein deutscher Pädagoge.Klick für Wikipedia.org eingeladen hatte. Hier begegneten sich erstmals Martin NiemöllerEmil Gustav Friedrich Martin Niemöller (* 14. Januar 1892 in Lippstadt; † 6. März 1984 in Wiesbaden) war ein deutscher evangelischer Theologe und führender Vertreter der Bekennenden Kirche sowie Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und Präsident im Ökumenischen Rat der Kirchen. Klick für Wikipedia.org und Kurt SchumacherKurt (amtlich Curt) Ernst Carl Schumacher (* 13. Oktober 1895 in Culm, Westpreußen; † 20. August 1952 in Bonn) war ein deutscher Politiker, von 1946 bis 1952 Parteivorsitzender der SPD sowie von 1949 bis 1952 Oppositionsführer im Deutschen Bundestag.Klick für Wikipedia.org. Es war ein spannender Tag: Beider KZ-Erfahrung befähigte die Feuerköpfe, wenn auch zunächst skeptisch, so doch durchwegs offen, miteinander zu reden. Beide waren sie national gesonnen, doch der eine noch mit konservativem Hintergrund, der andere sozialdemokratisch und antiklerikal. Voreingenommenheiten wurden abgebaut, in der Erörterung der aktuellen politischen Sorgen verstanden sie sich mehr und mehr. Die anderen Gesprächsteilnehmer – zumeist Kirchen- und SPD-Prominenz (Heinrich AlbertzHeinrich Albertz (* 22. Januar 1915 in Breslau; † 18. Mai 1993 in Bremen) war ein evangelischer Pastor und ein deutscher Politiker (SPD). Er war von 1966 bis 1967 Regierender Bürgermeister von Berlin.Klick für Wikipedia.org, Adolf GrimmeAdolf Berthold Ludwig Grimme (* 31. Dezember 1889 in Goslar; † 27. August 1963 in Degerndorf am Inn) war ein deutscher Kulturpolitiker (SPD) in der Spätphase der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik, erster niedersächsischer Kultusminister und Generaldirektor des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR). Nach ihm ist der Grimme-Preis benannt.Klick für Wikipedia.org, Heinrich HeldHeinrich Karl Ewald Held (* 25. September 1897 in St. Johann, Saar; † 19. September 1957 in Düsseldorf) war deutscher evangelischer Theologe.Klick für Wikipedia.org, Hans Joachim IwandHans Joachim Iwand (* 11. Juli 1899 in Schreibendorf, Kreis Strehlen, Schlesien; † 2. Mai 1960 in Bonn) war ein deutscher evangelischer Theologe.Klick für Wikipedia.org, Hanns LiljeJohannes Ernst Richard "Hanns" Lilje (* 20. August 1899 in Hannover; † 6. Januar 1977 ebenda) war ein deutscher evangelisch-lutherischer Theologe, Kunsthistoriker, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche von Hannover und stellvertretender Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).Klick für Wikipedia.org, Ludwig MetzgerLudwig Metzger (* 18. März 1902 in Darmstadt; † 13. Januar 1993 in Darmstadt) war ein deutscher Politiker der SPD.Klick für Wikipedia.org u.a.) – waren Statisten oder höchstens Katalysatoren. Eine höchst erregende Begegnung, über die ich leider versäumt habe, eine Aufzeichnung zu machen.
Auf das unermüdliche Bemühen von Ilse Friedeberg, einer jungen deutsch-jüdischen Emigrantin, bildete sich 1947 eine German-British Christian Fellowship, die in England an Wistow-Hall
ihren Rückhalt hatte, eine rudimentäre Art protestantischen Colleges für Ausbildung von Gemeindehelferinnen deutsch-jüdischer Herkunft und für ökumenische Treffen. Zum Ende des Sommers organisierte Frau Friedeberg in Verbindung mit christlichen Gemeinden eine sechswöchige Reise einer kleinen Gruppe durch England, zu der auch ich eingeladen war. Die Offenheit und Gastfreiheit, die wir allerorts trafen, waren umwerfend. Professor Gerhard LeibholzGerhard Leibholz (* 15. November 1901 in Berlin; † 19. Februar 1982 in Göttingen) war ein deutscher Jurist und von 1951 bis 1971 Richter am Bundesverfassungsgericht.Klick für Wikipedia.org, damals noch Emigrant in Oxford, nahm mich mit in ein relativ annehmbares Kriegsgefangenenlager für Deutsche, Wilton Park. Das Lager diente Kursen freimütiger Reeducation
. Leibholz hielt dort Vorlesungen; ich hatte den Eindruck einer, den Umständen nach, guten Atmosphäre. Deutsche Kriegsgefangene arbeiteten auch auf Bauernhöfen. Ich war bei einem Besuch beeindruckt von der Hilfe (Nahrung, Kleidung), die eine Bäuerin ihrem Gefangenen
und seiner Familie in Deutschland zukommen ließ. Auf meine Anerkennung war ihre Antwort: It is not right, that the government still keeps these people in camps. The war is over. I have to do something.
Persönlich hatte ich Gelegenheit, den bedeutenden Historiker George Peabody GoochGeorge Peabody Gooch (* 21. Oktober 1873 in London; † 31. August 1968 ebenda) war ein britischer Historiker.Klick für Wikipedia.org, der meinem Vater den Aufenthalt in England ermöglicht hatte, ferner alte deutsche Freunde meines Vaters und auch sein Grab zu besuchen. Englische Freunde hatten seinerzeit für die Bestattung gesorgt.
Göttingen zeigte sein traditionelles Gesicht erst wieder ganz, als ab 1949 in der Restauration alle Scheu fallen gelassen werden konnte und alte Sitten und Ordnungen fröhliche Urständ feierten. Damit ließ sich zugleich, um das mindeste zu sagen, jenes Unbehagen überkommen, das viele Menschen, zumal Akademiker, in den ersten Nachkriegsjahren nicht nur aus Sorgen um das tägliche Brot empfanden. Im Gegenteil, diese Sorgen hatten es ihnen gestattet, bohrende Fragen nach dem eigenen Verhalten und das Bemühen um schönfärberische Entschuldigungen möglichst zu verdrängen.
Die akademische Geschichte der unmittelbaren Nachkriegsjahre hat bisher in zahlreichen Dokumenten, einer Anzahl Aufsätzen und einigen Büchern ihren Niederschlag gefunden, wie das Quellen- und Literaturverzeichnis in dem verdienstvollen Buch von W. Krönig und K.-D. Müller Nachkriegs-Semester – Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit
[4] in Göttingen zeigt. Hervorzuheben sind auch die aufschlussreichen fächerspezifischen Studien der unmittelbar vorausgegangenen Zeit von H. Beker, H.-J. Dahms, C. Wegeier (Herausgeber): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus - Das verdrängte Kapitel ihrer 250-jährigen Geschichte
– München: Saur 1987. Was mir generell zu fehlen scheint, ist eine eingehendere Analyse der Mentalität der Menschen, die 1945 Krieg und Nationalsozialismus überlebt hatten und nun unausweichlich mit den materiellen und psychischen Nöten der damaligen Wende
fertig werden mussten. Es ist viel geschrieben worden zu Schweigen und Verdrängung seitens der Deutschen über ihre Einstellung und ihr Verhalten bis 1945, dagegen kaum etwas über ganz ähnliche Phänomene während der Jahre bis zur Gründung der Bundesrepublik. Moralisches Vogel-Strauß-Verhalten bedeutet hier auch Schuld.
Aber da war doch ehrliches Fragen?! Und da war eine unabhängige Halbmonatsschrift von beträchtlichem Umfang mit einem großen Kreis teils prominenter Autoren und für damalige Verhältnisse hoher, jeweils ausverkaufter Auflage und ziemlich weiter Verbreitung. Dass unter den neuen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen ab 1949 die Auflage rasch sank, ist zu verstehen. Ungeachtet des Bemühens, den überregionalen Charakter der Zeitung auch nach außen durch Änderung des Namens in Deutsche Universitäts-Zeitung
im Herbst 1949 zu verdeutlichen, kostete es große Mühe sie weiterzuführen. Doch dass die frühen Jahrgänge ganz in Vergessenheit geraten sind, hängt wahrscheinlich nicht nur mit der Kurzlebigkeit unserer Zeit, sondern auch mit dem allgemeinen Vergessen und Verdrängen belastender Erinnerungen aus der frühen Nachkriegszeit zusammen. Nur so vermag ich zu erklären, dass mir seit Anfang der fünfziger Jahre keine ernstzunehmende Würdigung der GUZ bekannt geworden ist.
Ich bin befriedigt, dass mir dieser Bericht Gelegenheit zu einem ganz persönlichen Nachruf auf die frühen Jahrgänge gibt! Die Zeitung konnte und sollte mir nicht zum Dauerberuf werden. Ich zielte inzwischen auf eine Universitätstätigkeit. Dazu galt es, zu promovieren, die Zeitung hatte mir dafür nicht die nötige Muße gelassen. Dank des erwähnten Fellowship für mich und dank einer Anstellung meiner Frau als domestic help
konnten wir im September 1949 mitsamt unserem kleinen Erstgeborenen zu neuen Ufern in England aufbrechen. Wir tauchten dort in eine andere Lebenswelt ein und gewannen kritische Distanz zu Deutschland. Sie ist uns lebenslang geblieben.
[4] In dem Band von Krönig und Müller wird die GUZ/DUZ unzählige Male genutzt. Doch zugleich war zudem zu bedenken, dass auch die zeitgenössischen Quellen nicht frei von Schieflagen und Einseitigkeiten sind. Wurde eine so munter sprudelnde Quelle wie die Göttinger Universitätszeitung nicht von einer kleinen wechseln den Zahl von Personen - oder darf man sagen Clique? – geschrieben und herausgegeben, die zweifellos sich aus der winzigen Minderheit der politisch Interessierten rekrutierte und die somit durchaus nicht repräsentativ für die damalige Gesamtstudentenschaft war? Und dürfen wir vergessen, dass bis Ende 1947 alles zu Druckende einer zwar, im ganzen wohlwollenden, aber durchaus auch Richtungen bestimmenden Zensur unterlag?
(S. 19) In ihrer knappen Würdigung
sind die Verfasser auf eine kurze, nachweislich im wesentlichen falsche Darstellung von einem Historiker mit brauner Vergangenheit hereingefallen, der Ende 1949 Mitglied des Redaktionsausschusses war und unter peinlichen Umständen aus dem Redaktionskreis bald wieder hatte ausscheiden müssen. Von der Bedeutung, die die Zeitung seinerzeit unbestritten hatte, wird nichts geschrieben.
Die Rein-Mitscherlich-Kontroverse geriet vollends in Vergessenheit. Die Neuausgabe des Buches von Mitscherlich unter dem Titel Medizin ohne Menschlichkeit
(Fischer-Taschenbuch 1978 wieder holt neu aufgelegt) enthält keinen Hinweis auf die Kontroverse in der GUZ. Dessen unbeschadet finde ich mich im Vorwort zur Neuausgabe von Mitscherlich in der Beurteilung der Verdrängung der Zeit 1945 bis 1949 bestätigt. Seine Kontroverse mit Rein soll kürzlich irgendwo entdeckt worden sein.