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Vertreibung aus Ostpreußen
Kapitel 9
Umzug nach Norstedt bei Husum

Papa bemühte sich um schnelle Lösung, wir mussten irgendwo allein wohnen. So kamen wir schließlich und endlich nach Norstedt bei Husum. Bei Familie Hansen bekamen wir ein Zimmer.

Grundriss Zimmer bei Fam. Hansen

Zeichnung: Grundriss des Zimmers bei Fam. H.

Sehr erfreut waren die Einheimischen nicht, dass sie Flüchtlinge aufnehmen mussten. Familie H., Oma H. (Vater tot) Johannes, Thomas, Karl und Marga. Marga war damals zehn Jahre alt, ich war acht Jahre und Gerd sechs Jahre. Johannes versorgte den Hof. Er hatte Kühe, Pferde, Schweine und Hühner. Hinten auf dem Hof in Stallgebäude betrieb er eine Mühle. Aus der Umgebung brachten die Leute das Korn, das er zu Mehl mahlte. Thomas lernte Bäcker und Karl lernte Maler. Marga half im Haus. In späteren Jahren ging sie in Stellung, unter anderem in Tarp.

Mutti hat uns in Norstedt zur Schule angemeldet. Es gab zwei Klassenräume. Die ersten vier Klassen und die Klassen fünf bis acht lernten zusammen. Aufgrund meines Alters kam ich in die zweite Klasse. Meine Lehrerin hieß Fräulein Voss. Ich tat mich mit dem Lernen zunächst schwer, ich war ja vorher noch nicht zur Schule gegangen. Das Zeugnis fiel dementsprechend schlecht aus. Fräulein Voss schrieb ins Zeugnis den folgenden Satz: Elfi muss noch viel lernen! Ich wurde in die dritte Klasse versetzt. Das nächste Zeugnis war sehr gut. Ich hatte alles aufgeholt.

Gerd wurde auch eingeschult. Sein Lehrer war Herr P. Da wir sehr arm waren, bekamen wir Kleidung geschenkt. Ich bekam ein grau-weiß kariertes Kleid und Gerd bekam eine Jacke. Gerd hat auch in dieser Zeit seiner Einschulung seine Milchzähne verloren. Er mochte deshalb gar nicht richtig lachen. Er verzog den Mund nur zu einem Smiley! Smily

Einmal bekamen wir ein Carepaket aus Amerika. Die Pakete wurden beim Bürgermeister abgeliefert. Er sollte sie an die Flüchtlinge verteilen. In den Paketen waren leckere Sachen unter anderem auch Bohnenkaffee. Die Bürgermeisterfrau wollte Mutti unbedingt den Kaffee abbetteln. Mutti dachte gar nicht daran, den Kaffee herzugeben.

Mutti bekam ein kleines Stück Land in ihrem Garten. Wir konnten Gemüse anbauen. Gerd war viel bei Johannes und den Tieren. Marga wurde meine Freundin. Wir alle verstanden uns immer besser. An der weißen Hauswand spielten wir Ball – Chip – chap – bete –Kopf von 1 bis 10.

Im Winter war der kleine Löschwasserteich in der Wasserzeile zugefroren, da waren wir dann auf dem Eis zum Glitschen. Mit Hannes sind wir mit dem Fuhrwerk mitgefahren in einen benachbarten Ort zum Torfstechen.

Etwas außerhalb des Dorfes gab es einen Badeteich. Dahin begab sich die Dorfjugend zum Baden. Im Teich gab es allerdings Schlingpflanzen und Blutegel. Im Wasser musste man sich ständig bewegen, sonst saugten sich die Blutegel an den Beinen fest. Ich konnte zu der Zeit noch nicht schwimmen. Einer von den größeren Jungen aus Norstedt hat mich unter Wasser gedrückt, ich bekam keine Luft mehr. Irgendwann ließ er von mir ab. Mit Mühe und Not kam ich ans Ufer, lag halb erstickt am Boden und musste fürchterlich husten. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre ertrunken.

Manchen Flüchtlingen ging es schlechter als uns. Eine Flüchtlingsfamilie musste durchs Fenster klettern, um in ihr Zimmer zu kommen.

Von unseren Lehrern wurden wir gut und gerecht behandelt. Im Dorf gab es einen Dorfkrämer, wo man alles Nötige kaufen konnte, und zwar bei Höker‘s Anna. Dann gab es noch einen kleinen Milchladen, wo man die Milch lose in der Blechkanne kaufen konnte, und zwar bei Frau Petersen. Viele Bauern hatten die gleichen Namen: Hansen, Petersen, Paulsen, Kern; dann hieß es eben Osterkern, Norderkern, Süderkern, um sie zu unterscheiden.

Gegenüber von Hansen‘s befand sich eine Schmiede. Hier wurden eben häufig die Pferde beschlagen. In der Woche waren wir mit Mutti alleine. Wir brauchten in der Woche etwa nur 15 D-Mark zum Leben. Papa arbeitete in Hamburg bei der Bundesbahn. Jeden Samstag fuhr ich mit dem Fahrrad nach Viöl, um Papa vom Zug abzuholen. Auf dem Rückweg nach Norstedt saß ich auf dem Gepäckträger. Am Sonntagnachmittag musste Papa dann wieder nach Hamburg zurück. Der Weg von Norstedt nach Viöl war fünf Kilometer lang und führte durch Spinkebüll.

Ab und zu fuhren wir auch mit dem Zug nach Husum, von Viöl durch Immenstedt und Schwesing. Als größeres Ereignis war das jährliche Ringreiten im Frühjahr.

Mitte der 50er Jahre versuchte Papa für uns eine Wohnung in Hamburg zu finden. Er konnte ja nicht auf Dauer jede Woche von Hamburg nach Norstedt fahren und den nächsten Tag wieder zurück. Nach längerem Suchen fand er die kleine Gartenlaube in der Kolonie Morgenröte in Lurup. Im Herbst 1950 kam ein Umzugsauto einer Firma nach Norstedt. Wir haben unsere Habseligkeiten an einfachen Möbeln, Geschirr und Kleidung in den Transporter geladen. Zusätzlich nahmen wir noch ziemlich viel Torf mit; es gab in der Gartenlaube nur einen Kohleofen.

Der Abschied von Norstedt fiel uns allen schwer. Alle weinten, auch Frau Hansen und Marga.


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