Meine Verwandtschaft in Israel
Ich war dreimal in Israel. Ich habe dort viele Verwandte, die aus der ganzen Welt eingereist waren, und auch viele Freunde, die aus der UdSSR kamen. Jede meiner Reisen dauerte länger als einen Monat — um alle zu besuchen, muss man doch eine Menge Zeit haben. Aber ich habe auch sehr viel von dem Land gesehen. Ich war in Jerusalem und in den Wüsten, im Knesset und Kibbuz, am Toten und Roten Meer, an den Heiligen Stätten aller Religionen. Aber das kann jeder Tourist sehen. Deshalb erzähle ich lieber von meinen Verwandten.
Ery wurde 1933 in Münster geboren, als Baby wurde er nach Palästina gebracht. Seine Eltern waren nicht nur vor den Nazis geflüchtet, sie waren aktive Zionisten, ließen sich in einem Kibbuz nieder. Ery wuchs im Kibbuz auf und weiß aus eigener Erfahrung, was ein Krieg bedeutet. Während des Krieges für die Unabhängigkeit Israels wurde im Kibbuz für Kinder ein Bunker gebaut, dort saßen sie, wenn die Bomben fielen und die Frontlinie
war einen Kilometer weit entfernt. Ery studierte und wurde Ingenieur, aber schon längst ist er Rentner. Er ist absolut charmant, kommt sofort in Kontakt mit jedem, ob es ein Kind oder Erwachsener ist. Er gehört keiner politischen Partei an, aber organisiert den Wahlkampf in Rehovot, und besucht auch oft die Knesset. In Rehovot kennt er eine Menge Leute. Zuerst hatte ich Angst, mit ihm Auto zu fahren: er lehnt sich aus dem Fenster, lacht und gestikuliert mit beiden Händen, das Lenkrad bleibt selbstständig. Aber die letzten 15 Jahre ist er ein Freiwilliger bei der Verkehrspolizei, rast in einer tollen Polizeiuniform über die Straßen und sorgt für Ordnung. Er ist ein ausgeprägter Optimist — findet immer alles besederauf Hebräisch heißt es O.K.
Ery ist so eine Person, die jeden unter ihre Fittiche nimmt, und man fühlt sich bei ihm warm und geborgen.
Ruth, meine Nichte, kam mit 20 aus Australien nach Israel, um im Weizmann Institute of Science in Rehovot ein paar Jahre zu arbeiten. Dort wurde sie mit Ery bekannt, und er gewann sie (er ist nicht schön, nicht groß, hat Sommersprossen, aber ihm zu widerstehen, war einfach unmöglich). Ruth ist Künstlerin, sie hat sehr interessante Werke ausgestellt, so etwas wie Radierungen, teilweise mit Holz oder Sand, etwas ganz Ungewöhnliches.
Zu Hause hat man zuerst englisch gesprochen, aber die Kinder (sie haben 3) sind zur Schule gegangen und Ruth lernte von ihnen IvrithModernes Hebräisch (deutsch Iwrit, auch Ivrit, Iwrith oder Ivrith) ist die in Israel meistgesprochene Sprache, jetzt ist die Familie zweisprachig, aber Ery hat Deutsch nicht vergessen.
Ruth und Ery sind sehr tolerant gegenüber allen. Nie hatte ich von ihnen ein Reizwort über neue OlimOlim, Mehrzahl von hebräisch oleh (feminin: olah), eine Bezeichnung für jüdische Einwanderer nach Israel gehört. Orthodoxe Juden mögen sie nicht besonders. Als ihr ältester Sohn eine orthodoxe Jüdin aus Amerika heiratete, hat Ery sich lustig gemacht, dass sein Sohn am Samstag seiner Frau Toilettenpapier abreißen musste, und wenn die jungen Leute zu Besuch kamen, besorgte Ruth Einweggeschirr. Jetzt sind sie glücklich, dass ihre Schwiegertochter von der Orthodoxie zurückgetreten ist. Sie selbst sind Atheisten, aber die Kerzen für Shabbatt werden angezündet, und eine MesusaMesusa bedeutet Türpfosten und bezeichnet eine Schriftkapsel am Türpfosten, welche im Judentum Bedeutung hat und Verwendung findet. Dieses geht auf mehrere Abschnitte in der Tora zurück: Du sollst [diese Worte] auf die Türpfosten deines Hauses und deiner Stadttore schreiben.
hängt an der Tür — das ist Tradition. Zu der arabischen Frage sagen sie, dass die Araber Jahrtausende neben Juden lebten, und so muss es auch bleiben.
Bei meiner zweiten Reise war ich zur Hochzeit des zweiten Sohnes eingeladen. Solch eine Hochzeit hatte ich noch nie im Leben gesehen. Es waren mindesten 300 Gäste gekommen. Das Geschehen fand mitten in einem Apfelsinenhain statt, in einem riesigen Zelt das speziell für große Feste dient. In Israel kommen zu Hochzeiten immer viele Gäste — die Familien sind groß, selten hat eine Familie weniger als 3 Kinder (und bei den Orthodoxen gibt es 10 und mehr), es kommen Verwandte, oft aus anderen Ländern angereist, Freunde, Kollegen, Nachbarn. Als Hochzeitgeschenk bekommen die Neuvermählten einen Umschlag mit Geld (oder einen Scheck), dass die Kosten des Abends gedeckt sind, und etwas bleibt noch übrig für die junge Familie, um ins neue Leben zu starten. Die Familie der Braut stammte aus Tunesien, die Verwandten kamen aus Afrika, Australien, Amerika, Russland. Es waren dabei Babys, Kinder, Jugendliche, blond und dunkelhaarig, und die Hautfarbe der Gäste hatte verschiedene Schattierungen von weiß bis schwarz, manche kamen aus Äthiopien. Es war ein Rabbiner dabei und die Braut und Bräutigam gingen unter die ChuppaDie Hochzeitszeremonie findet unter der Chuppa statt, ein von vier Stangen gehaltener Hochzeitsbaldachin aus verzierter Seide, Satin oder Samt., das Essen war natürlich koscher, aber es war sehr lustig und man tanzte bis zum Umfallen. (Übrigens, habe ich das erste Mal koschere Garnelen
gegessen, eine Nachbildung aus Fisch).
Die jüngere Tochter Ma’ayan war bei meinem ersten Besuch in Israel 18 Jahre alt, sie war eine Soldatin im ersten Jahr bei der Armee. Am Wochenende kam sie nach Hause in Uniform und mit einem Gewehr. Ich habe nachher draußen und in den Bussen viele solche junge Leute gesehen. In verschwitzter, staubiger Uniform fahren sie von der Armee durch das ganze Land nach Hause. Müde schliefen sie im Bus sofort ein. Ma’ayan war kräftig gebaut, hatte Sommersprossen, Grübchen, weiße Zähne und ein bezauberndes Lächeln — für mich war sie ein Inbegriff von Miss Soldatin
. Nach zwei Wochen war in ihrer Einheit so etwas wie Tag der offenen Tür
für Eltern und Freunde. Ery und Ruth hatten für die Tochter ihr Lieblingsessen gekauft und gekocht, meine Tochter und ich durften auch mitfahren. Hinter der bewachten Einfahrt der Einheit lag ein Stadion, dort auf den Tribünen nahmen die Angehörigen Platz, und zu ihnen kamen Soldaten und Soldatinnen, ihre Kinder. Es wurde gegessen, geschwatzt, gelacht. Man ging von Gruppe zur Gruppe, es waren viele Bekannte, aus der Stadt, von der Schule. Das alles erinnerte mich an unseren Offenen Sonntag
im Pionierlager, nur es war die Armee, und diese Kinder waren immer bereit, in den Krieg zu ziehen und ihr Leben zu wagen. In Israel ist es eine große Enttäuschung, wegen Krankheit nicht einberufen zu werden, man fühlt sich minderwertig, es fehlen die gemeinsamen Erlebnisse, Anekdoten, Lieder. Die Jugend liebt die Armee, und ganz Israel auch.
Nach 4 Jahren Dienst bekommt man eine recht große Summe Geld. Viele junge Leute geben es für eine große Reise aus. Ma’ayan ging für ein Jahr nach Afrika, schrieb Briefe aus verschiedenen wilden Orten. Man hat ihr angeboten, nach dem Urlaub als Offizier in der Armee zu bleiben (in Kommandantur), es wäre eine gesicherte Zukunft , aber sie entschied sich für ein Studium der Afrikawissenschaft an der Uni. Dort hat sie einen jungen Archäologen kennengelernt und 1999 haben sie geheiratet.
Die Hochzeit sollte in einem Kibbuz im Norden des Landes gefeiert werden. Aber am Morgen des Hochzeittages begannen auf den Kibbuz aus dem Libanon abgeschossene Katjuscha-Raketen zu fallen. Eine schlug in das Festzelt ein. Zirka 400 Besucher aus dem ganzen Land waren schon unterwegs. Also musste man das gekochte Essen einpacken und in einen anderen Kibbuz bringen. Der Rabbiner sorgte für die Umleitung der Gäste und ist mit Verspätung zur Hochzeit gekommen. Man erzählte mir, die Hochzeit war ein gelungenes Fest. Und das übrig gebliebene Geld hatten die Eheleute für einen Traktor ausgegeben. Die Afrikanistin und der Archäologe hatten beschlossen, selbstständige Unternehmer zu werden, ein Grundstück zu pachten und ihr gemeinsames Leben in einer MoshavMoshav bezeichnet eine genossenschaftlich organisierte, ländliche Siedlungsform in Israel zu beginnen.
Moshav ist eine Siedlungsgemeinschaft der selbstständigen Agrarproduzenten. Jeder arbeitet und verkauft sein Produkt, wie er will, aber für Straßen, Wasser, Strom, Müllabfuhr, Kindergarten, Sportanlagen, Schulbusse, Krankenstation sorgt man zusammen, das muss vom eigenen Einkommen bezahlt werden. Oft gibt es ein gemeinsames Eigentum, zum Beispiel, einen Olivenhain. Nicht jeder kann Mitglied der Moshav werden, das entscheidet die Hauptversammlung, wie auch alle anderen wichtigen Fragen.
Moshav Idan, wo die junge Familie jetzt lebte, ist eine kleine Siedlung südlich des Toten Meeres, an der Grenze zu Jordanien, so eine Oase in der felsigen Negev-Wüste. Ery und Ruth wollten mir dieses Wunder unbedingt zeigen. Es ist nur vier bis fünf Stunden Autofahrt von Rehovot, Israel ist nicht groß. Wir fuhren durch die Wüste in die Dämmerung und am Toten Meer in der Dunkelheit, dann durch die Berge durch eine unbewohnte Gegend.
Schließlich zeigen sich Lichter, Bäume, Palmen und Oliven. Hinter dem Stacheldraht der Eingang zum Moshav. Und dann war da das Haus von Ma’ayan und Isar, die schon auf uns warteten. Isar, ein netter, südlicher Typ mit schönen Augen, wuchs in einem Kibbuz auf und kennt sich mit jeder Arbeit aus. Ich hatte eine Hütte mit Klo im Hof erwartet, aber es stellte sich heraus, dass sie ein anständiges Haus bewohnten, mit heißem Wasser, mit WC und Dusche, und Ma’ayan empfing uns im Esszimmer mit einer schönen Küche. In der Ecke des Raumes stand so etwas wie eine abstrakte Metallskulptur, es war aber ein Stück der Rakete, die auf das Zelt der geplanten Hochzeit fiel.
Neben dem Haus befindet sich ein großer überdeckter Hof, dort steht der Traktor, andere Technik und riesige Kühlschränke für das Produkt
. Dort steht auch ein Wohnwagen (in Israel nennt man ihn Karawane), wo drei Tagelöhner aus Thailand wohnen. Andere Haushalte beschäftigen auch Arbeiter aus Thailand. Beim Spaziergang habe ich gesehen, wie die ausgebeuteten
Thailänder Volleyball spielten. Die Kapitalisten
haben dazu keine Zeit.
Im Sommer gehen alle um 5 Uhr morgens zur Arbeit und bleiben auf den Feldern bis 10, und dann wieder am Abend, weil die Hitze unerträglich ist. Die gepachteten Felder der Moshav liegen auf jordanischem Boden, fünf Kilometer vom Dorf entfernt. Beim Hinfahren mussten wir den Grenzposten passieren. Grenzsoldaten kennen alle Bewohner und sind mit manchen befreundet.
Die Felder liegen im Tal, der Fluss ist im Sommer ausgetrocknet, hinten sind Berge, und dort patrouillieren jordanische Grenzsoldaten.
Auf den Feldern von Ma’ayan und Isar werden Blumen, Zwiebeln, Trauben und Kirschtomaten angebaut. Alles wächst unter hoch angebrachter Folie. In der Nacht schützt sie vor Kälte, am Tag vor dem Austrocknen. An dem Tag ist Ma’ayan mit dem Traktor dort gefahren und hat Tomaten gesammelt. Unter jeder Pflanze kommt aus einem Rohr tropfenweise Bewässerung. Tief unter der Wüste befindet sich ausreichend Wasser. Ich staunte über High-Tech
— alles wird mit Computern gesteuert. Damals war es ihre erste Ernte. Jede Woche ist Isar zum Flughafen gefahren — die Blumen wurden zur Auktion nach Holland und die Tomaten nach London geschickt. Damit kann man gutes Geld verdienen.
Auf der Rückfahrt zeigte man mir eine Baustelle mit einen halben Dutzend Häuser. Dieses Haus wird unseres sein
sagte Ma’ayan (vorläufig wohnten sie zur Miete). In jedem Haus baut man ein Zimmer mit besonders dicken Wänden und ohne Fenster, das nennt man dort Bunker, für den Fall, dass … Aber im Allgemeinen ist diese Grenze die ruhige.
Das war im Jahr 2000. Seit dem sind viele Jahre vergangen. Der Betrieb florierte. Die Familie hat das Haus gekauft und vier Kinder zur Welt gebracht. Alles war beseder
.
Und dann sind sie nach Australien gefahren, zuerst zu Besuch: Ma’ayan hat doch eine doppelte Staatsangehörigkeit, und dort leben zwei ihrer Onkel mit großen Familien. Ma’ayan und Isar haben sich umgesehen und beschlossen auszuwandern. Und jetzt leben sie bei den Kängurus und produzieren Makadamia- Nüsse statt Tomaten.
Schade für Israel, aber wahrscheinlich ist es doch nicht sicher genug, mit vier Kindern auf jordanischem Boden die Zukunft zu bauen …