Heute vor 80 Jahren: Der Horror von Dresden
Kapitel 3
Die Ruine der Frauenkirche
Das Gelände in die andere Richtung, um das ehemalige Residenzschloss herum, verlockte zu ebenso gefährlichen wie interessanten Abenteuern. Man erreichte es vom Altmarkt aus in wenigen Minuten, und meist sind wir ja überhaupt nur gerannt. Während das Schloss äußerlich mit seinen Brandschäden als robuste, bedrohliche Ruine aufragte, präsentierte sich der Bereich gegenüber, jenseits der Schlossstraße, ganz ähnlich wie der um die Prager Straße. Alte, trockene Reisigbesen zündeten wir vor Ort zu Beleuchtungszwecken an und kletterten Trümmer-Treppenstufen hinab in manche Tiefe und in manches Gewölbe. Natürlich durften die Eltern davon nichts wissen. Auch der Rauch war ja hochgefährlich! Ich bin mir sicher, bei einer dieser Erkundungen irgendwie ins Schloss selber hineingelangt zu sein – durch den schmalen Spalt eines nicht ganz verriegelten Eisentores? Jedenfalls stehe ich plötzlich im Grünen Gewölbe, ohne das jedoch zu ahnen. Erst viel später, als man es restaurierte, erkenne ich die Spiegelwände von damals wieder und die zierlichen Konsolen, die ursprünglich zur Aufnahme der Preziosen gedient hatten. Damals waren sie natürlich längst entnommen und fehlten.
Die Trümmer, die vom Schutt beräumten Brachflächen, ebenso die neuen Baustellen um den Altmarkt herum übten magische Anziehungskräfte auf uns Kinder aus. Wo Baugruben mit Grundwasser vollgelaufen waren, wurden Floßwettkämpfe veranstaltet. An den bauarbeiterfreien Wochenenden boten deren barackenartige Behausungen willkommene Angriffsziele. Erst wurden mit Steinwürfen die Fenster zertrümmert, dann gezielt die Bier- und Limoflaschen unter Beschuss genommen, die auf den Tischen standen. Einmal schlug ein Fluchtversuch vor der heraneilenden Bauwache fehl, die uns festnahm. Elternbesuch, Stubenarrest …
Auf dem Altmarkt wurde ich eines Tages Zeuge eines Tumults: Heftig gestikulierende, aufgebrachte Menschen umringten ein Fahrzeug der amerikanischen Militärmission. Handgreiflichkeiten fanden statt – für mich als Kind ganz und gar verstörend, dass Erwachsene dazu fähig waren. Auf die Frage, was hier abliefe, erhielt ich zur Antwort: Die haben unsere Stadt zerstört.
Unvergesslich auch der alte Mann auf dem Fußweg in der Nähe unseres Altmarkt-Hauses, der sich auf einem flachen Holzwägelchen mit den Fäusten, die in zerschlissenen Handschuhen steckten, vorwärts schob. Seine Beine hatte er vermutlich in der Horrornacht verloren.
An ein tief sitzendes Erlebnis eines Tages auf dem Weg zur Schule erinnere ich mich auch noch. Die erste und zweite Klasse hatte ich unweit von unserer Neustädter Wohnung in der Schule an der Glacisstraße absolviert, die dritte nach unserm Umzug auf den Altmarkt in einem Seitenflügel des heutigen Dresdner Stadtmuseums in der Friesengasse. 1960 war in der etwas entfernter liegenden Zirkusstraße eine neu gebaute polytechnische Oberschule bezugsfertig geworden, und in diese führte mich fortan mein Schulweg. In einem etwas ausgedehnteren Bogen passierte ich einmal das Gelände um den Georgplatz unweit vom Neuen Rathaus. Hier war man dabei, die Keller der zerbombten und abgetragenen Häuser zu öffnen. Vor mir mit einem Male Menschen, die schweigend und betreten in eine Grube blickten. Waren da Opfer des Februar-Horrors zum Vorschein gekommen? Ich weiß es nicht, bin nicht weiter herangetreten, aus Angst und Grusel.


Immer in unsern Blick trat die Ruine der Frauenkirche: der gewaltige Trümmerberg und die beiden stehen gebliebenen rauch- und rußschwarzen Gemäuerteile. In unserer Dresdner Zeit, bis zum Umzug nach Bautzen 1963, stand sie uns als gräuliches Mahnmal an den Februarhorror über all die Jahre vor Augen, und als solches sollte sie auch erhalten bleiben, bis der Ruf aus Dresden
im Februar 1990 für ihren Wiederaufbau erging. Am 5. April 1994 begann er mit aus dem Schutt geborgenen und in riesigen Regalen dafür vorbereiteten Steinen. Später, auch von Leipzig aus, nahmen meine Frau Maria und ich immer wieder Gelegenheit, die Baufortschritte vor Ort mitzuerleben, so die Glockenweihe 2003 oder ihre Wiederweihe 2005. Zahllose Fotos in unseren Alben dokumentieren auch die Neu- und Wiederherstellung der Bebauung des Neumarktes ringsum. Die Frauenkirche war uns beiden ans Herz gewachsen, und so verstand es sich von selbst, dass wir Stifter
wurden.

Dass sich ein Jahr meiner Dresdner Schulzeit unmittelbar im Blickfeld der Ruine abspielte – in der Friesengasse –, erinnerte ich bereits. Die gewaltigen Trümmerbrocken boten meinem Schulfreund Axel Neumann, der in der Wallstraße wohnte und mich morgens regelmäßig an der Altmarkt-Wohnung abholte, und mir den idealen Deponie-Ort für unsere ersten Zigaretten quasi direkt vor der Schultür. Es hatte sich wohl um die damals verbreitete und billige Sorte Turf
Turf war eine Zigaretten-Marke in der DDR während der 1950er Jahre. Turf gab es als 20er-, 10er- und 5er-Packung. Sie wurde von der traditionsreichen Jasmatzi Cigarettenfabrik, später VEB Jasmatzi Dresden, hergestellt, die 1959 in den Vereinigten Zigarettenfabriken Dresden aufging. gehandelt, derer wir irgendwie habhaft geworden waren.
Eine Packung davon nebst Streichhölzern und Pfefferminz-Lutschbonbons gegen den Mundgeruch wurde in einer Plastiktüte entdeckungssicher verwahrt. Gefallen fanden wir an unseren ersten Rauchversuchen allerdings nicht, und es liegt auf der Hand, dass das dünnwandige Behältnis, so es über die vielen Jahre bis zur Abtragung des Trümmerbergs nicht der Verrottung anheimgefallen war, eines Tages von den Baggerkrallen erfasst wurde und verschwand …