Hurra, ein Schwesterchen ist da!
Der Anstoß
Schon immer habe ich die folgenden Erinnerungen in meinem Kopf herumgetragen und bei einigen Gelegenheiten erzählt, aber nun sind sie reif für die Druckerschwärze.
Angestoßen durch die Geschichte Brief an Max
(Fritz Schukats Brief an sein Schwesterlein), aus Erinnerungen
, Nr.3/2007, Seite 13, möchte ich zu Papier bringen, wie ich die Geburt meiner Schwester, ein für mich wahnsinnig schönes, aufregendes Ereignis, erlebt habe. Der Grund: siebeneinhalb Jahre verbrachte ich mein Leben als Einzelkind und wollte gerne Geschwister haben.
Der Geburtstag, klassische Musik und Gegacker von Edelhühnern
Am 3. August 1940 brannte die Sonne heiß vom wolkenlosen Ruhrgebietshimmel in Bochum-Langendreer, Wernburgastraße 9. Es müssen schon die Hundstage und die großen Ferien begonnen haben, denn ich wurde kurz nach dem Frühstück nicht in die Schule, sondern zum Spielen hinunter in den Hof geschickt. Gegen Mittag stand ich am Zaun der südlichen Grundstücksgrenze und sah dem interessanten Leben und Treiben der Hühnerschar auf der anderen Seite zu.
Dort wohnte Architekt Tetzner im eigenen Haus, ein offensichtlich wohlhabender Mann, der es sich leisten konnte, den größten Teil seines Hofes zum Freilaufgehege für seine amerikanische Hühnerrasse zu machen. Es waren Wyandotten, silbrig-schwarz gesprenkelte, große, schwere Tiere mit merkwürdig kleinen Kämmen, die eher an rote Raupen erinnern. Nirgendwo sonst habe ich sie gesehen. Angeblich legten sie nicht so viele Eier wie andere Rassen, aber sie sahen imposant aus, besonders der stolze Hahn. Ausgesprochene Exoten.
Herr Tetzner beeindruckte mich nicht nur durch seine Hühnerzucht, sondern auch anderweitig. Als einziger in unserer Straße besaß er ein Personenauto. Wie damals noch üblich, wurde der Motor mittels einer transportablen Handkurbel, die vorne am Kühler eingesteckt, dann mit Kraft und Schwung schnell gedreht werden musste, angeworfen, was nicht immer beim ersten und zweiten Versuch gelang. Aber Herr Tetzner schaffte es, sogar im Anzug mit Krawatte, der störrischen Maschine nahezubringen, wer hier der Chef ist, und warf anschließend als Sieger die Kurbel wieder in den Kofferraum.
Außerdem nannte er einen phlegmatischen, schwarzen Kurzhaardackel namens Mäxchen sein eigen, der meistens auf dem Bürgersteig lag und in der Sonne döste. Öfter als Herrn Tetzner selbst bekam man seine Frau und seine fast erwachsene Tochter zu Gesicht, beide immer elegant gekleidet. Wenn sie ihre Fenster geöffneten hatten so wie an jenem heißen Tag, hörte man die schönsten Opernarien und andere klassische Musik - ob aus dem Radio oder vom Grammophon, weiß ich nicht, jedenfalls damals beides ein Zeichen von Reichtum und Geschmack.
Während ich also mit Musikgenuss das Federvieh betrachtete, lief ein gleichaltriger Junge, Günter Nienaber, den Zaun an der Straßenseite entlang und ließ ein Holzstöckchen am Maschendraht entlang streifen. Das gab ein stakkatoartiges Klappergeräusch. Dabei rief er mir im Vorübergehen gleichmütig zu: Ihr habt ein kleines Kind!
Ich stand da wie vom Donner gerührt, und viele Gedanken überfielen mich gleichzeitig:
Ärger: Warum musste ich so etwas Wichtiges erst von einem Fremden erfahren? Sonst guckte Mutti hin und wieder von oben aus unserem Fenster im 3. Stock (2. OG), was ich unten so trieb. Heute hat sie es den ganzen Vormittag noch nicht getan. — Warum nur?
Wer hat das Kleine
eigentlich gebracht?
Diese Frage eines Siebenjährigen ist doch sehr berechtigt im Jahre 1940, als noch nicht die wesentlichsten Erziehungsaufgaben der Eltern auf die Schulen abgeschoben wurden (z.B. Sexualkundeunterricht). Finden Sie nicht auch, liebe Leserin, lieber Leser?
Nur eines stand für mich damals unumstößlich fest: So ein Säugling kann nicht auf eigenen Füßen hereinspaziert sein. Alles andere wäre möglich.
War es der Postbote? - Nein. Seine lederne Umhängetasche ist dafür zu klein.
Als Paket oder als Expressgut angeliefert? - Wäre grundsätzlich möglich, denn zu damaliger Zeit wurden tatsächlich lebende Kleintiere in geeigneten Käfigen wohlbehalten transportiert. Aber an jenem Tag wäre mir ein entsprechender Transportwagen aufgefallen. War aber nicht.
Der Klapperstorch? - Störche habe ich nicht fliegen sehen. Allerdings habe ich nicht dauernd in den Himmel geguckt. Wäre auch sehr unwahrscheinlich, denn bei uns in der Gegend gab es keine wilden Störche, sondern nur in den Zoos.
Vom Vater abgeholt? - Vati hat am frühen Morgen zwar einen vollen Sack mit dem Fahrrad gebracht und in den Stall getragen, aber der war nur mit frischem Gras für unsere Kaninchen gefüllt.
Meine damaligen Gedanken in dieser Richtung will ich nun nicht weiterspinnen und lieber der Reihe nach erzählen:
Frühkindliche Aufklärung und Familienplanung
Von Zweifel gequält stellte ich mir auch die Frage: Stimmt das überhaupt, was der Nachbarjunge mir zugerufen hat? Aber es könnte doch sein. Ich erinnerte mich: Vor langer Zeit hatten mich meine Eltern auf einem
Spaziergang unvermittelt gefragt, ob ich ein Brüderchen oder Schwesterchen haben möchte. Als ich erstaunt nickte und dann fragte: Aber wie geht das denn?
bekam ich zur Antwort, dass man es bestellen könne. Auf meine Frage wo und wie, antworteten sie mir, beim Klapperstorch, und man müsse Zucker auf die Fensterbank legen. Er brächte dann in einer Windel, die er im Schnabel trüge, einen Säugling aus dem Storchbrunnen. Außerdem beiße er die Mutter ins Bein.
Diese Art und Weise der menschlichen Vermehrung kam mir irgendwie komisch vor. Aber auf spätere Nachfrage bestätigten es mir zwei meiner Tanten, unsere Nachbarin und andere Erwachsene. Da ich in diesem Thema absolut (noch) nicht zu Hause war, blieb mir nichts anderes übrig, als diesem geballten Sachverstand zu vertrauen. - So streute ich etwas losen Zucker auf die Fensterbank.
Als am anderen Morgen kein Säugling eingetroffen war und ich das beanstandete, klärte mich Mutti darüber auf, dass ich keinen losen Zucker, sondern Zuckerwürfel oder Kandis hätte nehmen müssen. Außerdem hätte der Storch zurzeit sehr viel zu tun und könnte auch mal eine Bestellung übersehen oder müsste sie auf die Warteliste setzen. - Daraufhin legte ich Kandisstücke aus und bezähmte meinen Unmut.
Aber als am Morgen danach wieder kein Kleinkind zu sehen war und auch der Kandis weg war, verlor ich das Interesse an dieser Methode und beschloss wohl oder übel, ein Einzelkind zu bleiben. Außerdem traute ich fortan den Erwachsenen in diesem Punkt nicht mehr über den Weg. Denn auf der Straße sprachen wir Kinder auch über dieses Thema und kamen überein, dass ebenso die Väter irgendwie daran beteiligt seien. Zumindest müssten sie Genaueres wissen. Denn bekanntlich lägen sie nachts mit den Müttern in einem Bett, und da erzähle man sich so einiges.
Mein Opa hatte mich als ganz kleines Kind in der Erwerbslosenzeit einmal auf eine große Weide mitgenommen, wo er Kibitzeier sammelte, um sie an Apotheker zu verkaufen. Da sah ich zufällig, zum ersten Mal in meinem Leben, wie eine Kuh kalbte. Ich habe nur verschwommene Erinnerungen daran, weil mein Opa mich schnell zur Seite schickte und der Kuh und dem Kälbchen behilflich war. Er war ja ein ostpreußischer Bauernsohn. Ich behielt aber im Gedächtnis, dass es für die Kuh eine ziemlich quälende Angelegenheit mit Blut und Schleim gewesen war. Als ich dieses Geschehen anderen Kindern meines Alters erzählte, kamen sie einmütig zu dem Schluss, dass dieser animalische Vorgang nicht auf unsere Menschenmütter übertragbar sei. Die meisten von uns fanden das abstoßend. Auch was die Spatzen auf der Dachrinne trieben oder was im Hühnerstall der Hahn auf den Hennen veranstaltete, machte uns nur stutzig wegen der Geheimniskrämerei und Verlegenheit der Erwachsenen, aber sonst fassten wir es als eine lächerliche, z.T. auch gewalttätige Begleiterscheinung der tierischen Natur auf, ohne die existentielle Bedeutung dieser Handlungen für die Fortpflanzung zu kennen.
Die etwas älteren Kinder prahlten mit dem Wissen, dass gar nicht ein Storch das Kind bringe, sondern dass es nachts aus dem Bauch der Mutter herauskomme, nachdem er geplatzt sei. Dazu sangen sie ein Gossenlied, das ich hier nicht wiedergeben möchte. Damit stellte sich die nächste Frage: Wie kam es vorher in den Bauch?
Die Erwachsenen mochten wir nicht fragen, weil es sich damals für Kinder nicht gehörte, so genannte vorwitzige Fragen zu stellen. Zu oft schon hatten wir in diesem Punkt schlechte Erfahrungen gemacht, indem wir ausgeschimpft oder überheblich abgewiesen wurden. Da uns Siebenjährigen noch die anatomischen und biologischen Kenntnisse fehlten, mussten wir vorerst diese Frage ungelöst zurückstellen. Das sollte sich aber in den nächsten Jahren durch Aufklärung auf der Straße durch ältere Kinder ändern.
Freundliche Hebamme zum Anfassen
Zurück zu jenem 3. August. So schnell wie möglich wollte ich den Zuruf des Nachbarjungen überprüfen und rannte die Treppen hoch. Wie in den meisten mehrstöckigen Mietshäusern in unserer Straße ging es vom offenen Etagenflur in zwei separate Wohnungen. Jede Etage hatte nur einen Wasserhahn mit einem emaillierten Waschbecken auf dem Flur. Schwitzend und ein wenig aus der Puste kam ich oben an. Es war ungefähr ein Uhr mittags und brütend heiß.
Überraschend für mich stand in unserem Flur Frau Strohsick, die Hebamme, und empfing mich auf das freundlichste. Sie war schätzungsweise Mitte dreißig und besaß eine sympathische, mütterliche Ausstrahlung. Ich hatte sie ein paar Mal auf der Straße und in Häuser gehen sehen. Was sie dort tat, entzog sich meiner Kenntnis. Ich hörte nur, dass sie eine Hebamme sei. Nach meinem kindlichen Wissen hatte ihre Tätigkeit irgend etwas mit ganz kleinen Kindern zu tun. - Aber an diesem Tag stand sie nicht in Straßenkleidung vor mir, sondern sie trug über einem schneeweißen Kittel eine Vollschürze aus lachsrotem Gummi. Derlei Gummischürzen verband ich geistig immer mit Blut und Körperflüssigkeiten und Schmerzen, so wie ich es in Krankenhäusern und Arztpraxen bei Operationen gesehen und selbst erfahren hatte, z. B. als mir der Hals-, Nasen- und Ohrenarzt Dr. Görtz in Bochum die Nasenpolypen entfernt hatte. Mir schwante Schreckliches. Doch an diesem Tag war meine Angst unbegründet.
Frau Strohsick nahm mich freundlich bei der schwitzigen Hand und sagte beruhigend: Günter, du hast ein kleines Schwesterchen bekommen, willst du es sehen?
Ich konnte vor Erstaunen nur nicken. Dann komm, ich will dir vorher die Hände waschen.
sagte sie zu mir und leitete mich zum Waschbecken. Diese freundliche Behandlung nahm mich nun ganz für diese Frau ein, denn meine Hände wusch ich mir seit einigen Jahren schon ganz alleine und war stolz auf meine Selbständigkeit. Doch ihre Fürsorge tat mir gut.
Nach dem Händewaschen schob sie mich behutsam an der Schulter in unsere Wohnung und durch die Wohnküche ins Schlafzimmer. Ich traute meinen Augen nicht. Dort im Ehebett lag meine Mutti im feinen Nachthemd, obwohl sie morgens, als ich zum Spielen nach draußen ging, vollständig angekleidet war. Sie hatte sich wohl so merkwürdig mit den Händen den Rücken gestützt und etwas gestöhnt, und Vati war nicht zur Arbeit gegangen, aber eine richtige Krankheit hatte ich nicht erkennen können.
Der erste Kontakt, irgendwie magisch
Jetzt konnte ich ihr eine gewisse Erschöpfung ansehen, aber sie lächelte völlig entspannt mit einem Gesichtsausdruck, wie auf Heiligenbildern die Jungfrau Maria zu sehen ist. (Zufällig trägt meine Mutter die Vornamen Martha Marie. Marie ist bekanntlich die evangelische Version von Maria.) Ich gebe zu, aus heutiger Sicht ist das ein ziemlich gewagter und kindischer Vergleich, aber mir kam es damals so vor.
Und neben ihr lag die totale Überraschung: Ein ganz kleines Kind, mein Schwesterchen - im schneeweißen, sauberen Hemdchen und Jäckchen, adrett wie eine Wohnzimmerpuppe. Es guckte mich mit großen, blauen Augen an und - tatsächlich, es lächelte. Durch diesen Blickkontakt sprang ein magischer Funke über - so empfand ich es jedenfalls. Dann ließ es seelenruhig seine Augen schweifen und betrachtete seine Umgebung sehr genau. Da auch unser Vater hinzugekommen war, hatte ich das Gefühl, wir vier gehören nun zusammen. Innerhalb einer Sekunde wuchs ich zum großen Bruder und war nicht mehr das kleine Günterchen. Dieses Gefühl empfand ich als sehr angenehm.
Ich beschreibe diesen Augenblick deshalb so genau, weil ich vordem schon mehrere Neugeborene gesehen hatte. Sie lagen entweder mit geschlossenen Augen, schlafend, die kleinen Hände geballt, oder schreiend mit zusammengekniffenen Augen. Oder, wenn sie die Augen offen hatten, schielten sie wie blöd in die Gegend und versuchten, ihre Händchen in das zahnlose Mündchen zu schieben. Aber hier dieses kleine Bündel Mensch sprang angenehm aus dem Rahmen.
Kurz darauf erschien unser Hausarzt mit seinem breiten Arztkoffer und wollte nach Mutti schauen. Er genoss einen guten Ruf, weil viele den Eindruck hatten, dass er schon durch sein bloßes Erscheinen die Hälfte der Krankheit vertrieb und die andere Hälfte stark verunsicherte. Ich wurde aus dem Zimmer geschickt. Nach nur wenigen Minuten kam der Arzt aus dem Schlafzimmer heraus, sagte etwas Beruhigendes zu Vati und verschwand. Also konnte Mutti nicht schwer krank sein. Andernfalls hätte Vati als letzte Rettung Herrn Schünemann, einen Homöopathen aus Essen, benachrichtigt. Der wäre dann wie immer mit dem Zug und der Straßenbahn angereist, hätte mit Lupe und Taschenlampe die Augendiagnose durchgeführt und eine garantiert heilsame Medizin verschrieben. So hatte er bisher alle lebensgefährlich Kranken in unserer Verwandtschaft, auch mich mindestens einmal, geheilt. Ein phänomenaler Mann, den immer ein dezenter Hauch von Cognac umwehte.
Säugling für gute Butter, und alle Fragen offen
Ich durfte wieder ins Schlafzimmer zu Mutti und — Doris. Auf diesen Namen Doris Elfriede für die Kleine hatten sich meine Eltern inzwischen geeinigt. Ich wollte Mutti fragen, ob Dr. Schieferecke ihren geplatzten Bauch behandelt hätte, wagte aber nicht, diese Frage zu stellen. Stattdessen bat ich sie um etwas Unverfänglicheres, nämlich mir ihr Bein zu zeigen, wo der Storch sie gebissen hat. Milde lächelnd antwortete sie, dass sie nicht gebissen worden sei, sondern dass Frau Strohsick das Schwesterchen gebracht habe.
Nun war meine Verwirrung komplett. Ich hatte mit dieser Antwort nun die dritte Version für die Herkunft der kleinen Kinder aufgetischt bekommen. Erst der Storch, evtl. der Vater. Dann der geplatzte Bauch, jetzt die Hebamme. Letztere Version schien mir am wenigsten glaubhaft, denn ich hatte die Tasche der Hebamme gesehen, da passte kein Säugling neben den anderen Dingen hinein. Doch gestärkt wurde Muttis Aussage wiederum dadurch, dass sie mich ungefähr zwei Wochen später mit einem Halbpfund Butterpaket zu Frau Strohsick als Dank für das Bringen
schickte. Damals in der Kriegszeit, als das Ernährungsamt alles streng rationierte, war es wohl so etwas wie ein fürstliches Trinkgeld
für Hebammen. Nun musste ich vorerst auch mit dieser Geburtsversion leben.
Einige Stunden nach der Geburt fing die Kleine an zu schreien - und wie! Ich bat Mutti, sie doch bitte zu stillen. Aber sie tat es nicht und sagte mir, dass Neugeborene den ersten Tag nichts essen und trinken dürfen. Doris schrie und schrie weiter, und ich bekam entsetzliche Angst, dass sie verhungern würde. Ich litt fürchterlich.
Luftkrieg frisst Nerven
In dieser Nacht gab es Fliegeralarm. Das bedeutete normalerweise: Sich in fliegender Hast in die Kleidung werfen, den Koffer mit den wichtigsten Sachen schnappen und die Treppen hinunter in den Luftschutzkeller stürzen, wo sich alle Hausbewohner versammelten. Aber in dieser Nacht war Mutti so kurz nach der Entbindung dazu nicht fähig. So blieben wir vier zusammen in der Wohnung und erlebten in voller Lautstärke das fürchterliche Donnern der Flakgeschütze, das Ping, Ping
der Granatsplitter, wenn sie auf Dachpfannen oder Straßenpflaster aufschlugen, und sahen die wandernden Scheinwerferfinger
am Himmel, die nach Flugzeugen suchten. Zu dieser Zeit des Krieges war die deutsche Flugabwehr noch voll intakt. Feindliche Bomberverbände, zu jener Zeit waren es nur englische, griffen uns noch nicht so zahlreich an wie ein, zwei Jahre später, als die USA in den Krieg gegen Deutschland eingetreten waren, und Geschwader auf Geschwader ihrer Fliegenden Festungen
(B-17, schwere Bomber) auch tagsüber Bombenteppiche auf uns abwarfen. Oh, wie wir sie fürchteten und hassten.
In jener Nacht fielen keine Bomben in unserer Nähe, aber der immense Krach des Flakfeuers, das Dröhnen der Flugzeugmotoren und die eigene Angst zermürbten unsere Nerven. Mutti klagte: Oh Gott, das arme Kind. Muss schon an seinem ersten Tag so etwas erleben. Hoffentlich wird die Kleine nicht nervös für ihr ganzes Leben.
Mehrere Wochen später zogen wir innerhalb des Ortes um in die Everstalstraße Nr. 30. Dort übernahmen meine Eltern die Funktion des Hausmeisters und Küsters in dem evangelischen Gemeindehaus, das sehr schön inmitten eines Parks lag. Zu unserer Dienstwohnung, ebenfalls in diesem Gebäude gelegen, gehörte ein großer Garten. Für Kinder ein idealer Ort. Leider waren unsre Eltern durch ihre Tätigkeit zeitlich sehr stark gebunden. Heutzutage existiert dies alles nicht mehr. Das Grundstück sowie der gesamte Ortsteil wurden nach dem Krieg anders angelegt und bebaut.
Eine erstaunliche Entwicklung
Meine kleine Schwester wuchs zu einem früh entwickelten und äußerst lebhaften Kleinkind heran. Mutti nannte sie manchmal wibbelig. Zum Beispiel trank sie ihr Fläschchen in Rekordzeit aus. Als sie nach einigen Monaten Brei zu sich nehmen konnte, ging ihr das Füttern nicht schnell genug, und sie schrie zwischen den einzelnen Löffelportionen, und ihre Ärmchen wirbelten wie ein Propeller. Also fütterten wir sie fortan immer zu zweit. Mit 6 Monaten war sie sauber
und saß wie eine Eins auf dem Töpfchen, nachdem sie sich mit A, a
gemeldet hatte. Wenn sie Atta
äußerte, meinte sie mich. Mit zehn Monaten konnte sie stehen und mit genau einem Jahr ohne Hilfe laufen. Alle staunten über diese frühe Entwicklung, und meine Eltern und ich waren sehr stolz auf sie, Vatis Liebling. Leider hat sie so gut wie keine Erinnerung an unseren lieben Vater, weil er zum Kriegsdienst eingezogen wurde und an der Ostfront fiel, als sie erst 3 Jahre alt war. Als Kleinkind wuchs sie in der schlimmen Kriegszeit auf, als es nur das Allernotwendigste zu essen gab. Zum Beispiel war an Südfrüchte überhaupt nicht zu denken. Als nach Kriegsende zum ersten Mal eine Apfelsine auf Ihrem Weihnachtsteller lag, wusste sie nichts damit anzufangen und fragte, was das sei. Mutti erklärte es ihr und weinte, weil das arme Kind bisher soviel entbehren musste.
Was ich sonst noch mit ihr erlebte, besonders die rasenden Talfahrten im Kinderwagen, finden sie, liebe Leserin, lieber Leser, in meiner Geschichte Vorsicht! Baby an Bord
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