Jerusalem 1960 — 1965
Kapitel 5:
Die Angestellten
Wenn man 1960 in einem durchschnittlich privilegierten deutschen Haushalt lebte, konnte man sich vielleicht einmal die Woche eine Putzfrau leisten. In Jerusalem und allgemein im Vorderen Orient ist es aber ganz normal, Angestellte zu haben. Auch die Einheimischen erwarten es von den Ausländern, denn die können es sich leisten und haben damit eine moralische Verpflichtung, Arbeitsplätze zu schaffen.
Als wir in Jerusalem ankamen, war Mariam (Foto 10) schon da. Sie war nämlich bereits die Perle des Vorgänger-Propstes. Eigentlich wollte sie mit dem Weggang von Propst Weigelt aufhören. Aber irgendwie gelang es meinen Eltern, sie zum Bleiben zu überreden. Sie war für die Einkäufe, die Küche und das Kochen und für die Sauberkeit unserer Wohnung zuständig. Sie war täglich da und am Christlichen Wochenende hatte sie frei, denn sie war palästinensische Christin. Sie sprach nur Arabisch, was für uns den Vorteil hatte, dass wir uns um unseren Arabisch-Wortschatz bemühen mussten. Ihr deutsches Vokabular bestand fast nur aus einem einzigen Satz: Kommt essen, Kinder!
, denn Familie Weigelt hatte kleine Kinder.
Mariam kaufte im Suq und in den überdachten Markthallen gleich hinter dem Kaiser-Wilhelm-Tor ein. Dort saßen die palästinensischen Frauen mit ihren schwarzsamtenen bundbestickten Kleidern (Foto 11) auf dem Boden. Vor ihnen stand ein großer geflochtener Korb, etwa 80 cm im Durchmesser und 15 cm hoch, in dem sie ihre Ware anboten. Diese Körbe transportierten sie auf dem Kopf, es war ein stattlicher Anblick.
Zweierlei hat mich zum Freund der arabischen Küche werden lassen. Zum einen kochte Mariam sehr gut, andererseits war ich nie krüschKrüsch
ist Hamburgisch und bedeutet wählerisch
oder etepetete
oder zimperlich
. und immer offen für etwas Neues. Und Neues gab es für uns, die wir nur den deutschen Markt der 1950er Jahre kannten, reichlich. Die Vielfalt der uns unbekannten Obstsorten war enorm. Weintrauben gab es zwar in Deutschland auch, aber die waren meist sauer und man hatte den Mund voller Kerne. In Jerusalem lernte ich erstmals die süßen kernlosen Weintrauben kennen. Dann gab es Feigen, Granatäpfel, Maulbeeren, Passionsfrüchte, Opuntienfrüchte, Johannisbrote, Mispeln, die in Arabisch die Leckersten der Welt
heißen, alle Arten von Melonen und Zitrusfrüchten, außerdem uns bis dahin unbekannte Gemüsesorten wie Auberginen und Zucchini und natürlich Gewürze aller Art, für die der Vordere Orient berühmt ist.
Das Obst und das Gemüse kamen nach dem Einkauf immer zuerst in ein Kaliumpermanganat-Bad, um ungewohnte Keime abzutöten. Das blieb auch so, als wir längst unsere Darmflora an die palästinensischen Bakterien angepasst hatten. Ich vermute, dass diese Sitte beibehalten wurde, weil oft deutsche Gäste bei uns im Hause waren.
Mariam war von meinen Eltern angestellt. Alle anderen (Foto 12) waren Angestellte der Propstei. Da gab es das Propsteibüro, mit einer deutschen Sekretärin und Gemeindehelferin für die deutschsprachigen Aufgaben, außerdem den palästinensischen Clerk Ibrahim, der die arabischen Aufgaben übernahm. Er ging später nach Deutschland, um Kfz-Mechaniker zu lernen. Dann verlor sich seine Spur. Vor wenigen Jahren bekam ich Grüße von Ibrahim. Eine Freundin von uns führte eine Reisegruppe durch Jordanien. Dort stellt das Touristenministerium jeder Gruppe einen einheimischen Reiseführer an die Seite. Man sprach über dies und das und schließlich stellte sich heraus, dass ihr Reiseführer Ibrahim war.
Einmal in der Woche kam Hanna (männlicher Vorname) ins Büro, der die Finanzbuchhaltung machte. Diesen Job machte er auch für andere Institutionen, denn mit der Buchhaltung der Propstei war er nicht ausgelastet.
Ein privates Telefon besaßen wir nicht, aber im Propsteibüro gab es eins. Es war ein Holzkasten mit einigen Kipphebeln an der Vorderseite und einer Kurbel an der Seite. An der gegenüberliegenden Seite war eine Gabel, in die der Telefonhörer gehängt wurde. Die Telefonnummer war dreistellig: 618. Es sagt sicherlich etwas über die Anzahl der Telefonanschlüsse aus, die es damals in der Jerusalemer Altstadt gab. Heute ist die Telefonnummer der Propstei siebenstellig. Die Postfachnummer ist besser weggekommen: damals 4076, heute 14076.
Tufiq, Mariams Bruder, war der Cleaner. Er musste die ganze Propstei sauber halten, alle Gebäude und den Kreuzgang. Er war Meister darin, sich vor der Arbeit zu drücken. Wenn man unerwartet um eine Ecke kam, stand er da und rauchte.
Der Chauffeur hieß Ishaq. Er war Armenier und wohnte im Armenischen Viertel. Besonders stolz war er auf seine dunkelblaue Phantasie-Uniform, die er The Beautiful
nannte. Wie viele Jerusalemer Armenier waren seine Vorfahren auf der Flucht vor dem Genozid von 1915 im Osmanischen Reich nach Palästina verschlagen worden.
Und schließlich war da der Hadsch (Foto 13). Er war der Bawwab (Türhüter). Vermutlich stammte er aus dem Sudan, denn er war kohlrabenschwarz, was noch durch seinen weißen Turban unterstrichen wurde. Er war wohl auf einer Pilgerreise in Jerusalem hängen geblieben, daher sein Name. Seinen richtigen Namen kannte ich nicht, denn jeder nannte ihn Hadsch (Pilger). Sein Platz war draußen auf der Straße vor dem Eingang der Propstei oder der Erlöserkirche, wo er auf seinem Stuhl saß und aufpasste, dass kein Unbefugter hineinkam.