Jerusalem 1960 — 1965
Kapitel 9:
Freizeit im Heiligen Land
Die heiligen und historischen Stätten der Altstadt von Jerusalem und des näheren Umfeldes waren mir sehr schnell vertraut. Hin und wieder führte ich Bekannte oder Touristen aus Deutschland herum. Für mich war es ganz selbstverständlich, die Grabeskirche direkt vor der Tür zu haben und mich in ihr auszukennen. Damals hatte die Grabeskirche noch ein massives Gerüst aus Stahl (Foto 20), das die Vorderfront abstützte, die nach dem Erdbeben von 1927 einzustürzen drohte.
Direkt gegenüber der Grabeskirche steht ein Minarett, von dem aus der Muezzin anfangs noch persönlich, später mit Lautsprecher fünfmal täglich zum Gebet rief. Wir konnten den Adhān (Gebetsruf) daher sehr schnell auswendig. Später habe ich ihn gar nicht mehr wahrgenommen, so vertraut war er mir. Und er galt ja nicht mir.
Ich konnte ohne jede Kontrolle auf den Tempelplatz gehen, auch in die Al-Aqsa-Moschee und sogar in den Felsendom. Der Weg zur Klagemauer war etwas verborgener. Nach dem Beginn des Palästinakriegs am 15. Mai 1948 wurde nämlich das Jüdische Viertel von der Jordanischen Armee besetzt. Die dort lebenden Juden wurden erst interniert und später gegen Kriegsgefangene der anderen Seite ausgetauscht. Anschließend wurden dort muslimische Flüchtlinge des Palästinakrieges angesiedelt. Der große Platz vor der Klagemauer, wie man ihn heute kennt, war damals dicht an dicht mit kleinen Flüchtlingshütten bebaut. Nur eine schmale Gasse zwischen den Hütten und der Klagemauer war frei gelassen worden. Um dort hinzukommen, waren schon gute Ortskenntnisse erforderlich.
Als Geheimtipp galt der 500 m lange Hiskija-Tunnel, der unter Touristen damals noch nicht bekannt war. Er verbindet den Teich von Siloah mit der Gihonquelle und wurde um 700 v. Chr. auf Veranlassung des Königs Hiskija gebaut, um die Wasserversorgung der Davidsstadt im Verteidigungsfall sicherzustellen. Beim Durchqueren ging einem je nach Jahreszeit das Wasser bis zu den Knien, auch mal bis zu den Achseln.
Aber wir kamen auch an Plätze, zu denen normale Touristen keinen Zugang hatten. Einmal hatte ich Gelegenheit, die Ställe Salomos
zu besichtigen, ein riesiges Gewölbe unter dem Tempelplatz. Es hieß, dass dort der Pferdestall für Salomos Kavallerie gewesen sei. An den Säulen waren noch eingemeißelte Anbindevorrichtungen zu sehen. Aber die könnten auch von den Kreuzfahrern stammen, die dort ebenfalls ihre Pferde untergebracht hatten. Heute ist in dieses Gewölbe eine Moschee hereingebaut.
Und einmal bekamen wir die Gelegenheit, in einem Haus ganz in der Nähe der Erlöserkirche in den Untergrund abzusteigen. Das war faszinierend, weil man gut sehen konnte, wie die Stadt in den letzten 2000 Jahren gewachsen
war. Wir stiegen hinab durch eine Schicht von zehn bis 15 Metern in alte Gewölbe und Zisternen.
Unser Horizont begrenzte sich aber nicht nur auf Jerusalem. Wir unternahmen oft Ausflüge innerhalb der Westbank oder nach Transjordanien. Dabei konnten wir gelegentlich die Professoren des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft begleiten, die in der Propstei damals einige Räume gemietet hatten und die von Jerusalem aus Feldforschungs-Exkursionen unternahmen. Ein einziges Mal habe ich einen Sonnenstich bekommen, und jedem, der es wissen will, versichere ich gern, dass das zum Kotzen war. Seitdem trug ich auf solchen Ausflügen immer die einheimische KefijeDie Kufiya (auch Kafiya oder Kefije; arabisch كوفية, DMG Kūfiya) oder Ghutra (غترة, DMG Ġutra) oder Hatta (حطة, DMG Ḥaṭṭa) ist ein von Männern getragenes Kopftuch in der arabischen Welt.Siehe Artikel der Wikipedia (auch ‚Hatta‘, bei uns bekannt als Palästinensertuch) als Kopfbedeckung, insbesondere, wenn wir ins Jordantal hinunterfuhren. Natürlich hatten Thomas und ich nicht die normale
Hatta. Wir hatten uns eine Hatta Askarije beschafft. Sie wurde von den Soldaten des Kleinen Königs getragen und war von viel besserer Qualität. Das Tuch war fester gewebt und die Bommel an den Rändern waren besser verarbeitet.
Südlich von Jerusalem liegt Bethlehem. Die direkte Straße war durch die Waffenstillstandslinie mit Israel unterbrochen, sodass man Bethlehem nur auf einem östlichen Umweg von zehn Kilometern über eine schmale Landstraße erreichen konnte. Man machte sich unwillkürlich ganz schmal, wenn ein Bus entgegen kam. Gleich hinter Bethlehem lagen in einer damals völlig unbebauten Gegend die drei riesigen Salomonischen Teiche
, die Jerusalem vor zwei Jahrtausenden mit Wasser versorgten. Und zehn Minuten weiter erreichte man das Herodium, einen künstlich aufgeschütteten Berg mit Festungsanlage, von dem aus man bis nach Transjordanien sehen konnte.
Die Judäische Wüste Richtung Jordan und dem Toten Meer war noch spannender. Auf halber Strecke nach Jericho konnte man ins Wadi Qelt zum St. Georg-Kloster hinabsteigen (Fotos 21 und 22). Der Weg war ein typischer Eselspfad, also kein Spaziergang. Er schlängelte sich auf halber Höhe der Schlucht. Direkt an der Felswand verlief eine gemauerte etwa 50 cm breite Wasserrinne, die schon zur Zeit des Herodes dessen Palast bei Jericho ganzjährig mit Wasser versorgt hatte und in der britischen Mandatszeit wieder aktiviert wurde. Wir Kinder gingen barfuß durch diese Rinne, was bei entsprechenden Außentemperaturen sehr angenehm war.
Spektakulär war auch der Turm im Tell es-Sultan bei Jericho, der in den 1950er Jahren von einem Team unter der Leitung der britischen Archäologin Kathleen Kenyon ausgegraben wurde. Wir konnten damals in das Ausgrabungsgelände hinein gehen und auf den Turm steigen. Heute schwebt man mit einer Seilbahn darüber hinweg.
Auch Qumran war damals noch in aller Munde, weil dort (auch in den 1950ern) die berühmten Schriftrollen entdeckt wurden. Kaum erwähnenswert, dass man damals noch in die Höhlen steigen konnte, in denen die Tonkrüge mit den Fragmenten gefunden wurden. Das taten wir natürlich, aber es war recht halsbrecherisch und risikoreich, denn die Höhlen waren nur über einen schmalen, ungesicherten Grat erreichbar.
All diese Stätten und noch viele mehr waren uns vertraut. Außerdem gab es noch sehr interessante Stätten in Transjordanien wie Gerasa, Petra und Wadi Ram. In Aqaba konnten wir herrlich Urlaub machen und die traumhafte Unterwasserwelt erschnorcheln. Wir mussten aber aufpassen, dass wir nicht in einen Seeigel traten und uns beim Schnorcheln auf dem Rücken keinen Sonnenbrand holten.
Als ich dann in Kairo zur Schule ging und nur noch in den Ferien zuhause war, beschränkten sich die Ausflüge hauptsächlich auf die Sommerferien.
Ich war schon als Jugendlicher sehr an der Archäologie interessiert. Meine Eltern, die dieses Interesse unterstützten, hatten bereits im Vorfeld der Sommerferien 1964 bei Mrs Bennett von der British School of Archaeology in Jerusalem
angefragt, ob sie im August und September einen untrained but intelligent young man of 19
bei einer Ausgrabung gebrauchen könne. Seit 1961 leitete Kathleen Kenyon, die Direktorin der British School
, mehrere Ausgrabungsprojekte in Jerusalem. Ihr bekanntestes Projekt war die Ausgrabung in der Davidsstadt. Ich hatte Glück und konnte für einen Archäologiestudenten einspringen, der nach England zurück musste (Foto 23). Ich wurde einer Ausgrabung im Armenischen Viertel zugeteilt. Die Arbeitszeit war täglich von 5 bis 14 Uhr. Ich kann mich nicht erinnern, zu irgendeiner anderen Zeit meines Lebens mehrere Wochen lang freiwillig so früh aufgestanden zu sein.
Das Ausgrabungsgelände lag gegenüber dem Armenischen Patriarchat, südlich der Davidszitadelle, direkt an der Waffenstillstandslinie zu Israel. Zwischen der Mauer des Klosters und der Grenze lag nur die Straße, die zum Jaffator führte, und ein etwa 30 Meter schmaler unbebauter Streifen. Dort waren Planquadrate abgesteckt. Der Grabungsleiter teilte mich für eines dieser Planquadrate ein, für das wohl der abgereiste Student zuständig gewesen war. Die Fläche war bereits mit Gräben durchzogen, die einen knappen Meter tief waren, sodass das Profil der Erdschichten gut zu sehen war. An manchen Stellen war bereits der gewachsene Fels freigelegt. Meine Aufgabe bestand darin, das Profil der Erdschichten in einem Heft minutiös aufzuzeichnen und zu beschreiben. Danach musste ich die Erde mit einer kleinen Archäologenkelle Schicht für Schicht abtragen. Die Position der gefundenen Einschlüsse, meist Tonscherben, musste ich wiederum genau dokumentieren. Den Abraum transportierten palästinensische Jungs mit Körben
ab, die aus Autoreifen gemacht waren, und verdienten sich so einige Piaster.
Es muss wohl im selben Jahr gewesen sein, mein Führerschein war noch nicht sehr alt, da hatte ich meinen ersten Autounfall. Unterhalb der Tempelmauer verläuft im Kidrontal auf halber Höhe eine Straße. Auf der Bergseite zum muslimischen Friedhof war eine hohe Mauer und auf der Talseite war die Straße durch eine flache Mauer begrenzt, etwa einen halben Meter hoch. Ich fuhr dort in südlicher Richtung um die Altstadt herum. Auf der Höhe des Goldenen Tores verlor ich plötzlich die Kontrolle und kam ins Schleudern. Der VW-Käfer touchierte zuerst die hohe Mauer auf der Bergseite, dann die kleine und schließlich wieder die hohe. Dann kam er zum Stehen. Ich hatte zweimal Glück gehabt: Es kam mir niemand entgegen und — zehn Meter weiter gab es keine kleine Mauer mehr. Besser nicht dran denken, was passiert wäre, wenn der Vorderreifen nur eine Sekunde später geplatzt wäre!
Im Juni 1965 brachen meine letzten Sommerferien im Vorderen Orient an. Die wollten wir nicht ungenutzt verstreichen lassen.
In den Schulen der palästinensischen Gemeinden der ELCJ gab es immer deutsche Praktikanten, die dort ein Jahr ihren Dienst machten. (Heute sagt man freiwilliges soziales Jahr
.) Einer von ihnen hatte die Idee, zum Abschluss noch einmal die Gegend zu bereisen. Drei der Praktikanten planten, nach Persien zu fahren, und schlugen meinem Bruder und mir vor mitzukommen. Die dreiwöchige Reise begann am 28.Juni mit der ersten Etappe nach Bagdad. Das adäquate Verkehrsmittel war der Fernbus. Dann ging die Reise weiter nach Teheran, Isfahan und Chiraz nach Persepolis. Über Teheran und das Elburs-Gebirge erreichten wir schließlich den Kaspi und von dort ging es weiter über Tabriz und Erzurum nach Trapezunt am Schwarzen Meer. Dann nahmen wir das Schiff nach Istanbul und von dort ging es wieder mit dem Bus über Syrien zurück. Als ich in Jerusalem ankam, legte ich mich ins Bett, denn irgendwo auf der Reise hatte ich mir eine Gelbsucht aufgesackt.
Aber das ist eine andere Geschichte.Lesen Sie auch:Mit dem Fernbus durch den Vorderen Orient