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Wiederbegegnung mit Ostpreußen nach 42 Jahren
oder: Studienfahrt in die (k)alte Heimat 1987
Kapitel 6: Freie Stadt Danzig

Von der Mottlaubrücke, die zur Altstadt hinüberführt, sehen wir das Krantor und die wieder aufgebauten historischen Speicher. Dahinter auf der Mottlau liegt die neue weiße Flotte im Hafen. Durch die Mottlaustraße gehen wir zum Krantor, dann durch einen Torbogen in die Frauengasse. Sie ist in historischem Stil wieder hergerichtet. Hier haben wir den ersten Blick auf die wieder aufgebaute Marienkirche. Man könnte glauben, sie sei nie beschädigt gewesen. Obwohl schon später Nachmittag ist, wage ich zu fotografieren. – In den Kellern der Frauengasse sind viele Schmuckgeschäfte. Das Danziger Handwerk stellt hier aus. Bernsteinprodukte werden angeboten. Es sind sehr schöne Stücke dabei.

Wir besuchen die Marienkirche. Sie hat heute innen ein ganz anderes Aussehen als ursprünglich. Bis 1945 war sie evangelische Kirche, heute gehört sie den Katholiken. Nur eine evangelische Kirche ist noch in Zoppot für die wenigen Menschen evangelischen Glaubens. Die Langgasse mit dem Rathaus ist noch nicht in historischer Art fertig, soll aber wieder so hergerichtet werden, wie sie war. Die Vorbauten fehlen hier noch. Wir gehen zum hohen Tor und zum Stockturm, die beide wohlbehalten sind. Viele Kirchen sind noch im Wiederaufbau, um das Gesamtbild der Stadt zu vervollständigen. Eine katholische Kirche, die wir besuchen, scheint den Krieg überstanden zu haben. Ansonsten sind auch hier die erwähnten polnischen Verhältnisse. Unten im Großen Zeughaus ist ein Supermarkt eingerichtet. Ob man wirklich dort alles kaufen kann, haben wir nicht nachgeprüft. Dann beenden wir unseren Stadtbummel, weil das Abendessen auf uns wartet. Draußen ist es schon ziemlich kühl geworden.

Am 28. Mai 1987 regnet es in Danzig und ist auch ausgesprochen kalt geworden. Wir brauchen einen Pullover und einen Regenschirm, als wir um 10.00 Uhr zum Bus gehen. Mit einer deutschsprechenden Stadtführerin beginnt unsere Stadtbesichtigung bei strömendem Regen. Nicht weit von der Altstadt auf dem Parkplatz verlassen wir den Bus. Hier wollen wir uns um 12.00 Uhr zur Weiterfahrt treffen. Wir besichtigen die Marienkirche, die Gassen, das Krantor, den Artushof, das Große Zeughaus, das Hohe Tor mit Stockturm und den Neptunbrunnen. Das Rathaus ist leider geschlossen. Nachmittags hoffen wir jedoch auf eine Besichtigung. Heute zählt Danzig 450.000 Einwohner, die meist in neugeschaffenen Stadtvierteln in großen Wohnblocks wohnen. Trotz vieler Neubauten soll der Wohnraummangel noch unerträglich sein. So muss ein junges Ehepaar oft 15 Jahre warten, bis es in die eigenen vier Wände ziehen kann. Die Wohnungsmiete beträgt 2000-3000 Złoty für eine kleine 2-3-Zimmer-Wohnung mit Heizung. Der Verdienst liegt bei 15.000 bis 50.000 Złoty im Monat. Das kleine Handwerk in Danzig versucht sich selbständig zu machen, sonst ist alles verstaatlicht. Wenige Waren werden frei verkauft. Großes Interesse an der Arbeit scheint hier niemand zu haben, zumal man für Złoty auch nur sehr wenige Waren kaufen kann. Außerdem sind einige Lebensmittel immer noch rationiert und deshalb nur in begrenzter Anzahl zu erhalten. Überall in einschlägigen Geschäften sieht man Menschen, die anstehen. Will sich jemand ein Auto kaufen, muss er gewöhnlich 12 Jahre warten. Allerdings kann er es gegen Devisen, also Dollar oder DMark, sofort haben. Deshalb ist der Drang vieler Polen nach Deutscher Mark oder Dollar durchaus verständlich. Straßenhändler bieten unter vorgehaltener Hand den Geldtausch an. Eins zu Sechs, das heißt, für eine DMark 600 Złoty. Die Polen vertrauen den Reden Gorbatschows und hoffen, dass seine Pläne von mehr Bewegungsfreiheit und Konsum auch in Polen bald verwirklicht werden. Sie möchten auch wie andere westeuropäische Menschen leben, und sie bekennen, dass das System Schuld an der gesamten polnischen Wirtschaftssituation ist.

Mit der Stadtbesichtigung sind wir früher als vorgesehen zu Ende, zumal uns das Rathaus verschlossen blieb. Wir gehen zum Bus, um früher nach Oliva zu fahren. Leider fehlt eine Dame der Gruppe, sodass wir die vereinbarte Zeit von 12.00 Uhr abwarten müssen. Obwohl die Dame weiterhin fehlt, fahren wir um 12.15 Uhr über Langfuhr nach Oliva. Die schöne Allee, wo früher in der Straßenmitte die Straßenbahn fuhr, ist heute ohne Straßenbahn zur Autostraße ausgebaut. Die Allee mit ihren schönen Bäumen besteht aber nach wie vor. In dem Stadtteil Langfuhr scheint der Krieg nicht alles zerstört zu haben. Vieles erkenne ich wieder, zumal ich in den Kriegsjahren 1940-1942 oftmals in Danzig war. Die frühere Schichau-Werft, heute Lenin-Werft, beschäftigt 20.000-25.000 Arbeiter. Beim Vorüberfahren werden wir auf das Denkmal mit den Kreuzen aufmerksam gemacht. Es entstand zum Gedenken an den Arbeiteraufstand. Auf der Fahrt nach Oliva erklärt die Stadtführerin die Geschichte Danzigs: Von 1308 bis 1454 war Danzig Deutschordensstadt. Seit 1361 war sie Mitglied der Hanse und blühende Handelsstadt im Mittelalter. Von 1454 bis 1793 stand sie unter der Schutzherrschaft des polnischen Königs, seit 1793 war sie preußisch, mit Unterbrechung von 1807 bis 1814 unter Herrschaft Napoleons Freie Stadt. 1920 bis 1939 hieß es Freistaat Danzig unter dem Schutz des Völkerbundes und war dann bis zum Jahre 1945 mit dem Deutschen Reich vereint. Seit 1945 ist Danzig, polnisch Gdańsk, nach der Aussiedlung oder der Flucht seiner deutschen Bewohner unter polnischer Verwaltung.

Die Stadt wurde nach heftigen Kämpfen mit entsprechenden Zerstörungen der Altstadt am 30. März 1945 von Truppen der Sowjetunion erobert und besetzt. Der Bahnhof ist nicht zerstört und hat heute noch sein altes Aussehen. Der Park von Oliva hat sein altes Gesicht bewahrt. Es regnet immer noch. Die Kirche von Oliva mit ihren beiden Türmen ist unbeschädigt geblieben. Wir gehen zum Orgelkonzert hinein und besetzen die linke Hälfte der Bänke. Die rechten Bänke sind von Einheimischen besetzt worden. Nach dem Vaterunser, in polnischer Sprache gesprochen, (wir haben uns von unseren Plätzen erhoben) beginnt das Orgelkonzert. Es ist ein Demonstrationsvortrag, wie wir ihn schon in der Frauenkirche erleben durften. Die gewaltigen Klänge dieser berühmten Orgel ziehen uns in ihren Bann. Bei ständigem Nieselregen geht es mit dem Bus weiter bis Zoppot, dem einst so berühmten Badeort an der mittleren Ostsee. Wegen des Spielkasinos auch Monte Carlo des Ostens genannt. Die alten Villen stehen noch wie früher. Hotels sind als Hochhäuser hinzugebaut. Der ganze Ort liegt wie früher im Grünen. Wir fahren zum Grand Hotel am Zoppoter Seesteg. Hier gibt es Mittagessen. Joachim entschied sich für gebratene Ente, ich für gebratenen Lachs. Für alle vier gab es klare Brühe mit Fleischklößchen im Schlafrock und hinterher Kaffee und für jeden einen Berliner. Der uns bedienende freundliche Kellner ist auch mit Bezahlung in DMark einverstanden. Er rechnet 12,- DMark für alles und bekommt natürlich ein gutes Trinkgeld von uns.

Zoppot, polnisch Sopot, hat heute 60.000 Einwohner. Niemand hatte beobachtet, dass unsere bescheidene Stadtführerin nicht mit uns ins Hotel zum Essen gekommen war, sondern draußen vor der Tür in strömendem Regen auf uns wartete. Für das so versäumte Mittagessen erhält sie nachträglich ihr Geld. Wir gehen jetzt zum Seesteg, der Hauptattraktion von Zoppot. Er geht 600 Meter weit ins Meer hinein und ist gut gewartet. Heute dient er der weißen Flotte als Anlegesteg in die Richtungen Neufahrwasser, Hela und Gdingen. Es regnet immer noch und ist sehr diesig, sodass wir den Leuchtturm von Hela nicht sehen können. Dem Seesteg gegenüber ist das Gebäude, das früher einmal die Spielbank war. - Das klare Wasser der Ostsee täuscht. Es ist seit vielen Jahren verseucht. Dieses geschah hauptsächlich durch die unkontrollierte Einleitung ungeklärter Abwässer mit Fäkalien in die Danziger Bucht. Es ist verständlich, dass bei einer derartigen Bevölkerungsexplosion, wie sie im Gebiet um Danzig, Gdingen und Zoppot stattgefunden hat, bei Einleitung der ungeklärten Abwässer zu einer Meeresverseuchung führen musste. Die Halbinsel Hela, deren Nehrung weit im Halbkreis die Danziger Bucht abschirmt, wirkt wie ein Wellenbrecher. So erreichen die hohen Wellen, die das Meer mit Sauerstoff anreichern, nicht die Danziger Bucht. Der biologische Abbau aller Schadstoffe durch die Sauerstoffaufnahme unterbleibt oder wird verlangsamt, zumal auch eine Verschwemmung der Abwässer nicht stattfinden kann. Angeblich ist heute aber schon wieder im Zoppoter Gebiet das Baden erlaubt und nicht gesundheitsschädigend. Doch wer garantiert hierfür? Der große Touristenstrom, der noch bis vor wenigen Jahren die polnische Ostküste überschwemmte, ist versiegt. Die Hotels stehen leer oder sind nicht mit devisenbringenden Touristen aus dem Westen gefüllt, wie es eigentlich die polnische Verwaltung gern sehen würde. Wer kommt schon an die See, wenn er nicht baden darf?

Auf der Rückfahrt durch Danzig kommen wir durch den neu entstandenen Vorort Psze Morske (Psche Mosche), wo auch der polnische Arbeiterführer Lech Wałęsa mit seiner Frau und acht Kindern in einer 4-Zimmer-Wohnung lebt. Wohnungsgenossenschaften haben hier sechsstöckige Wohnblöcke in sogenannter Wellenbauweise errichtet. Das längste so erbaute Haus ist einen Kilometer lang. Die wellenförmige Bauweise dient der größeren Stabilität der Häuser. Ein gigantisches Wohnzentrum mit ca. 60.000 Wohnungen ist hier so entstanden. Von dieser Bauweise ist man in Danzig aber wieder abgewichen. Gebaut wird aber immer noch sehr viel. Alle Wohnungen in den Wellenhäusern sind von außen zu erreichen und haben auf der anderen Seite einen großen Balkon. Der dient auch zum Wäschetrocknen, wie man überall sehen kann. Eine Kirche in diesem Gebiet ist in moderner, eigenwilliger Bauweise errichtet und fällt deshalb besonders ins Auge. Um 16.25 Uhr sind wir endlich wieder in der Altstadt von Danzig und können das Rathaus von innen besichtigen. Das Rathaus gefällt uns gut. Im Hotel heißt es nun wieder die Koffer packen. Zum letzten Mal nehmen wir in Danzig das Abendessen ein.


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