Meine innere Flucht aus NS-Zwang und Narzissmus
Zu diesem Thema gab es immer wieder die gleichen Erinnerungsblitze. Die meldeten sich schließlich wie ein eifriges Kind im Schulunterricht. Gelegentlich hatte ich den Gedankenblitz im Bett vor dem Einschlafen. Manchmal wurde daraus ein Traum. In diesem schwebte ich suchend über einer Gegend, in der ein riesiges rotes Lavafeld brodelte. Meine Suche ging weit in verschiedene Richtungen. Aus dem Lavafeld ragten hier und da schmale Landinseln mit Gehölzen hervor, sodass beim Blick aus niedriger Flughöhe nur Grün zu sehen war. Wenn ich dort hinflog, dann war jedoch überall die Lava. Ein Ziel erreichte ich nie. Ich fand nur Landschaft. Beim Schweben fühlte ich Freiheit. Damit war es für mich ein positiver Traum, der Nachdenklichkeit hinterließ. Dass dieser Traum Verlangen nach Freiheit zeigte und ein selbstbestimmtes Leben verlangte, erfuhr ich erst, als ich so leben konnte. Einstweilen existierte ich als Neunjähriger unter der Kontrolle narzisstischer Altnazis.
Vater arbeitete inzwischen in einer hundertfünfzig Kilometer entfernten Stadt. Dort bekam er mehr Geld, das hatte Mutter verlangt. Damals war es nicht üblich, aus solcher Entfernung täglich nach Hause zu fahren. Das Berufspendeln mit dem Auto oder dem Zug hätte länger gedauert als die tägliche Arbeitszeit. Mutter war deshalb wieder alleinerziehend. So konnte sie die häuslichen Verhältnisse kontrollieren. Das tat sie missmutig. Die Gestaltung des Familienlebens orientierte sich an mir unbekannten Maßstäben. Immer zeigte sie schlechte Laune, wollte nicht gestört werden und begann aus mir nicht erkennbaren Gründen Streit. Egal was ich machte, es war falsch. Wenn ich ihre Anweisungen befolgte, war es falsch. Wenn ich aus eigenem Antrieb etwas tat, war es falsch. Wenn ich still in einer Ecke oder in dem sehr kleinen Kinderzimmer etwas tat, war es falsch. Alles war falsch. Darum war ich verzweifelt.
Das steigerte Mutters Übellaunigkeit noch und gipfelte in plötzlichen, grundlosen Ohrfeigen, sozusagen im Vorbeigehen. Danach rechtfertigte sie sich: „Du hast die Ohrfeigen verdient, wenn du das nicht weißt, dann bist du selber schuld!“ Diese spontane physische Gewalt nahm ab, als sie feststellte, dass mir die Ohrfeigen nicht mehr wehtaten und ich regungslos stehenblieb, bis sie mich wegschickte.
Daraufhin steigerte sie den verbalen Streit mit psychischem Druck. Dieser Druck schmerzte wie anfangs die Ohrfeigen. Meine Angst vor Schmerz nahm zu. Diese andere Form der Angst blieb, wenn ich alleine war. Auch hier handelte Mutter wie bei der physischen Misshandlung. Wenn ich das von ihr für mich vorgesehene Maß an psychischem Druck erhalten hatte, dann musste ich abtreten und mich alleine in dem kleinen Kinderzimmer aufhalten. In mein Bett durfte ich nicht, weil man am Tage nicht im Bett liegt. Weil kein Stuhl darin war, saß ich auf dem Fußboden. Dabei hatte ich in der Breite etwa sechzig Zentimeter Bewegungsraum.
Jeden Tag hatte ich stundenlang Angst. Ich glaubte in einer ausweglosen Lage zu sein, hatte Magenkrämpfe und fühlte mich immer niedergeschlagen. Nichts war mehr schön. Alles war aussichtslos. Wenn ich abends ins Bett gehen durfte, dann schlief ich sofort erschöpft ein. Dieser Schlaf war mein Schutz, weil man mich nicht immer daraus aufweckte. Allerdings, wenn ich nach dem Aufwachen aus dem Zimmer kam, ging der Terror weiter. Meine Anwesenheit löste sofort Aggression aus. Erst die Ohrfeigen, dann verbaler psychischer Druck. Zusätzlich gab es noch den Streit ohne Worte, den nonverbalen psychischen Druck, mit ignorieren und demonstrativ nicht antworten. Das zeigte bei mir schwere Wirkung. Den so in mir erzeugten psychischen Schmerz fühlte ich nun physisch.
Die Suche nach Hilfe schien aussichtslos. Unter diesem Druck versuchte ich meine Lage zu erkennen. Am Tage konnte ich die Wohnung verlassen und nach draußen flüchten. Dort im Irgendwo fand ich etwas Ruhe. In der Schule und auf der Straße gab es weniger Bedrohung. Die anderen Kinder nahmen meinen hilfsbedürftigen Zustand vermutlich wahr, fanden mich aber zu sonderlich. Einige Kinder hielten sich von mir fern und andere begannen mich zu ärgern. Diese Situationen waren nicht so bedrohlich wie die in unserer Wohnung, aber für mich störend. Zuhause konnte ich nicht sein und draußen gab es keine Zuwendung, egal wie schlecht es mir ging. So wurde mir bewusst, die Welt draußen funktionierte auch ohne meine Beteiligung weiter. Was ich fühlte, war dort bedeutungslos. In der Bedeutungslosigkeit bot sich mir allerdings der dringend benötigte Schutzraum. Darin konnte ich zeitweise zur Ruhe kommen. Hier fand sich außerdem ein für mich notwendiger Komfort, denn in der Bedeutungslosigkeit kann man nur wenig falsch machen. So bekam ich etwas Kontrolle über Aggressionsauslöser. Damals glaubte ich noch, mein Handeln sei der Grund für die Aggression. Dass der Grund meine bloße Existenz war, lag weit außerhalb meiner Überlegungen.
Vater kam nur am Wochenende nach Hause. Wenn er da war, hielt sich die Aggression von Mutter in Grenzen. Die erhoffte Entlastung blieb allerdings trügerisch, weil Mutter wegen mir mit Vater immer wieder Streit anfing.
Während der Abwesenheit von Vater wurde ich, wie üblich, familiär ins Abseits gedrängt. Dort grübelte ich erneut über meine Lage. Der kaum erträgliche Schmerz sollte aufhören. Das war mein Hauptwunsch. Wie könnte ich das erreichen?
Dann fiel mir auf, dass ich Schmerz empfand, obwohl ich nicht geschlagen wurde. Die Bedrohung durch die Worte und die Körperhaltung von Mutter erzeugten den Schmerz. So erkannte ich, dieser Schmerz musste in mir entstanden sein.
Daraus schloss ich, wenn so ein Schmerz nur in mir entsteht, dann kann ich ihn auch bekämpfen und abschalten, das ist erlaubt, und es gelang mir. Dabei hatte ich zunächst das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.
Mein Gedankenmodell setzte sich durch und die Drohungen von Mutter konnten bei mir nichts mehr ausrichten. Ihre verbalen Attacken nahm ich teilnahmslos hin und tat ansonsten, was sie sagte, auch wenn genau das zu neuen Attacken führte. Mit ihren nonverbalen Drohungen ging ich ähnlich um. Heute könnte man sagen, was die Frau tat, ließ ich nicht mehr an mich herankommen. Es erreichte mich nur noch zwecks Einordnung in den Alltag. Das war in dieser Situation ein perfekter Selbstschutz.
Vielleicht funktionierte ich deshalb emotionslos, robotermäßig und wirkte auf meine Umgebung wie ein Autist. Mutter stufte mein neues Verhalten als Zeichen für meinen tumben, minderwertigen Charakter ein. Ihrer Meinung nach waren minderwertige Menschen lernunfähig, gefühllos, hatten weder Hunger noch Durst, konnten Bedrohungen nicht erkennen und fühlten fast keinen Schmerz. Sie war sich sicher, ein intelligenter Mensch hätte auf ihre Erziehungsmaßnahmen reagiert und immer getan, was sie verlangt. Genauso handelte ich widerspruchslos und das warf sie mir nun als Anzeichen von Schwachsinn vor. Damit bestätigte sie meinen kindlichen Sieg über ihre Aggression.
Trotz dieser Selbsthilfe blieb ich im Alter von etwa neun Jahren innerlich leer und einsam in selbstgewählter Bedeutungslosigkeit zurück. Jede Form der Geborgenheit fehlte.
Dagegen lehnte sich mein Vater auf. Er konnte mir etwas Geborgenheit geben, indem er auf mich einging und mit mir redete. Das geschah aber nur, wenn er da war und wenn er die Hetze seiner Frau gegen mich ertragen und auf seine Weise friedlich ausgleichen konnte. Damit war klar, der tägliche Umgang mit Mutter gab mir keinen Ansporn, freiwillig etwas für sie zu tun oder gar meine Fähigkeiten zu zeigen. Sie hatte für mich keine Anerkennung und Förderung, sondern nur Erniedrigung und Unterdrückung. Was normale familiäre Sozialkontakte sind, konnte ich nur vermuten.
Wie lebte ich nun weiter? Mein Umgang beschränkte sich auf die Straßenkinder und auf den autoritären Frontalunterricht in der Schule. Weil Letzterer dem Verhalten meiner Mutter ähnlich war, war ich auch dort eingeschüchtert und konnte, wenn ich von Lehrern angesprochen wurde, nur stammeln. Das bestätigte sechs Jahrzehnte später ein damaliger Schulfreund. Er war inzwischen psychologisch ausgebildet und hatte langjährige Berufserfahrung. Im Nachhinein analysierte er: Meine Mutter habe mich bis zur Selbstaufgabe unterdrückt.
Innerhalb der Familie nutze ich die Bedeutungslosigkeit zum Selbstschutz. Dazu verfeinerte ich meine Fähigkeiten. So verhielt ich mich zuhause immer unauffälliger, redete nicht, stellte keine Fragen, verlangte kein Essen und Trinken. Nach einiger Übung konnte ich fast geräuschlose Schritte machen. Außerdem zog ich alleine die immer gleiche Kleidung an, versteckte mich in dem kleinen Zimmer der Wohnung oder ging auf die Straße. Damit erhielt ich meinen Freiraum aufrecht und entging der exzentrischen Quälerei.
Als Ausgleich zu meinem Sozialstatus in der Familie und der Schule begann ich heimlich technische Zeitschriften zu lesen und in einem Notizheft Erfindungen zu skizzieren. Vater fand das interessant. Mutter interessierten die Skizzen nicht. So blieb mir eine Extra-Nische mit Kreativität und Hoffnung.
Die kindlich gefundene differenzierte Umgangsform mit physischer und psychischer Gewalt half mir später in etlichen Lebenslagen. Wer nun behauptet, Kinder seien zu solcher Gedankenleistung nicht in der Lage, dem widerspreche ich aus Erfahrung. Eines sei hier noch einmal betont: Mein kindliches Tun und die damalige Lebenslage hatte meine Psyche jahrzehntelang verdrängt.


