Teil 10 - Barskamp, 1889-1900
Kapitel 3
Die Stiepelser und Neu-Garger Bauern
Die Eindrücke, die ich bei meinen Besuchen empfing, waren im Ganzen günstig, günstiger als ich gedacht. Barskamp war im viel umfassenderen und ausschließlicheren Sinn Bauerngemeinde als Moisburg, und gerade die größten Landwirte machten mir meist einen guten Eindruck. Sie zeigten im ganzen kirchlichen Sinn und waren dabei im Ganzen schon kultivierter als die Moisburger Bauern. Kamen diese auch im kältesten Winter in selbstgesponnenen Röcken zur Kirche, höchstens den Kopf dick mit einem wollenen Tuch umwickelt, so trugen die Barskamper ganz patent aussehende Überzieher und die Frauen Kleider und Hüte nach der Mode. Die kleinen Leute
machten dagegen vielfach einen stumpferen Eindruck als die Moisburger. Übrigens hatte jedes Dorf seinen besonderen Charakter. Am niedrigsten stand die Ortschaft Catemin. Die dortigen Bauernhöfe waren fast durchweg heruntergekommen, vielfach auch parzelliert oder in andere Hände übergegangen. Die Bevölkerung bestand größtenteils aus Schiffern oder Hamburger Hafenarbeitern. die, d. h. der männliche Teil, den Sommer über von der Gemeinde fern waren. Es war hier am meisten Gesindel
. Und als sollte sich das Wort bewahrheiten: Les extrèmes se touchent
Die Extreme berühren sich
. Die Extreme sind das Gesindel und die wohlhabenden Bauern. [3], war neben Catemin am unkirchlichsten das wohlhabendste oder doch protzenhafteste Bauerndorf Stiepelse. Die Stiepelser waren größtenteils stattliche Leute, es wurde behauptet, sie seien friesischen Ursprungs. Von dem Luxus, den sie früher getrieben hätten, wurde manches erzählt. Damals waren viele von ihnen verschuldet oder hielten's wenigstens für vorteilhafter, die Schwierigkeit ihrer Lage hervorzukehren. Ich muss ja sagen, dass die Marschdörfer wenigstens in der Zeit, wo ich in Barskamp war, sich nicht glänzend standen. Ihre Höfe waren sehr durch Grundsteuer belastet. Dabei haben sie in den zwölf Sommern meiner Wirksamkeit in Barskamp keine einzige wirklich gute Ernte gehabt, während die Geestdörfer - die Geest war durchweg gute Geest
- deren doch mehrere hatten. Schädlich für die Stiepelser Kirchlichkeit war der Umstand, dass Stiepelse eine eigene Kapelle hatte. Ganz ähnlich stand es übrigens mit andern Kapellengemeinden in der Gegend. In der Stiepelser Kapelle mussten jeden Sommer acht Gottesdienste an einem Freitag gehalten werden. Und damit war dem gottesdienstlichen Bedürfnis der meisten genügt. Man kann auch nicht einmal sagen, dass diese Gottesdienste stets besonders gut besucht gewesen wären. Nur die mit Abendmahlsfeier verbundenen im Frühjahr und Herbst zeigten guten Besuch. Und ich legte die meisten dieser Gottesdienste in Frühjahr und Herbst, hielt mich auch nicht pedantisch an den Buchstaben, nachdem sie alle zwischen Ostern und Michaelis stattfinden sollten, sondern wartete mit dem letzten manchmal bis in den November. Aber ganz ließ sich der Hochsommer, wenigstens die Zeit zwischen Heu- und Roggen- und wieder die zwischen Roggen- und Weizenernte nicht vermeiden. Und dann kamen manchmal nur wenige. Zur Entschuldigung der mangelhaften Kirchlichkeit der Stiepelser kann immerhin gesagt werden, dass sie nur eine Handfähre hatten, also nicht mit Gespann über die Elbe kommen konnten und dann einen recht weiten und sandigen Weg hatten. Zu den Kapellengottesdiensten wurde der Pastor zu Wagen geholt, d. h. er nahm sich jedes Mal auf Kosten des Bauern, der gerade an der Reihe war, die Unkosten des Gottesdienstes zu bestreiten, in Barskamp einen Wagen. Derselbe hatte dem Pastor außerdem einen Taler Kassenmünze zu zahlen und eine Mahlzeit auszurichten. Und mir wurde noch erzählt, wie opulent es dabei stets hergegangen sei. Ebenso war jeder Bauer verpflichtet, der Pfarre jährlich ein vierspänniges Fuder Heu zu liefern. An diese Lieferung hatte sich aber zur Zeit meines Vorgängers ein unerquicklicher Prozess geknüpft. Die Lieferung sollte abgelöst werden, und der Kirchenvorstand legte den Betrag eines vierspännigen, d. h. eines Fuders von 20 bis 25 Zentner zugrunde. Die Pflichtigen aber erklärten diesen Betrag zu hoch. Wenn von einem vierspännigen Fuder die Rede sei, so erklärte sich das aus der ihren eigenen Gewohnheit, wegen ihres schweren Bodens mit vier Pferden zu pflügen, in Wirklichkeit seien sie nur zu einem zweispännigen Fuder verpflichtet. Da Pastor Beer wiederholt dagegen protestiert hatte, wenn ein Fuder mit nur zwei Pferden angefahren wurde, hatten sie den Schein dadurch gewahrt, dass zwei Bauern je zugleich lieferten und zwei Fuder miteinander von vier Pferden heranfahren ließen. Vor dem Dorf hatten sie dann das eine Fuder abgehakt und das andere mit vier Pferden herangefahren, dann die Pferde zurückgeführt, vor das stehengebliebene gespannt und es ebenfalls mit allen vieren herangefahren. Da man sich nicht einigen konnte, kam es zum Prozess. Derselbe wurde nun in der Weise geführt, dass alle Anwohner, bei denen die Fuder vorbeigefahren worden waren, darüber vernommen wurden, wie groß die Fuder gewesen seien. Einstimmig sagten dieselben aus, dass die Fuder stets sehr klein gewesen seien. Infolgedessen wurde der Kirchenvorstand mit seiner Klage abgewiesen und entschieden, er hätte sich mit der von den Beklagten angebotenen Ablösungssumme abzufinden. Ein langjähriges Unrecht war also hier zur Grundlage des Rechts gemacht worden. Der Kirchenvorstand hatte deshalb auf die Ablösung verzichtet und nach wie vor wurde das Heu in natura geliefert. Der Liefernde hatte übrigens das Recht, dass ihm vom Pastor ein Frühstück gegeben wurde. Manche zogen es übrigens vor, stattdessen Geld zu geben. Ich verlangte stets für das Fuder 18 Mark.
Ob der für sie günstige Ausgang des Prozesses den Stiepelser Bauern Mut gemacht hatte, weiter zu prozessieren, oder was es sonst war, kurz, in der Vakanz hatte einer von ihnen herauszufinden gemeint, sie wären bei den Kapellen-Gottesdiensten nicht zur Leistung eines Talers Kassenmünze und zur Lieferung einer Mahlzeit, sondern nur zu einem von beiden verpflichtet. Sie hatten infolgedessen eine Eingabe ans Konsistorium gerichtet, von einer dieser beiden Lieferungen befreit zu werden, waren indessen dahin beschieden worden, dass sie nur im Wege eines Prozesses das erreichen könnten. Sie zogen es vor, einen einfacheren Weg zu gehen, indem sie mir die Mahlzeit einfach weigerten. Zufällig war bei dem ersten Kapellengottesdienst im Jahre 1889 ein Bauer an der Reihe, der zugleich Gastwirtschaft hatte und bei dem wir abstiegen. Derselbe, ohnehin etwas nobler veranlagt als die meisten andern - er war kein geborener Stiepelser, sondern hatte eingeheiratet - gab die Mahlzeit wie gewöhnlich, und Hogrefe hoffte schon, dass damit der Bann gebrochen sei und alles beim alten bleiben werde. Aber beim zweiten Kapellengottesdienst wurde mir der Beschluss mitgeteilt, es solle hinfort keine Mahlzeit mehr gegeben werden. Einer der Bauern ließ an dem Tage gerade taufen und lud mich stattdessen zum Taufessen ein. Ich lehnte aber ab mit der Begründung, dass ich von Leuten, die mir mein Recht weigerten, auch nichts geschenkt annähme, und er zog ziemlich kleinlaut ab. Er tat mir übrigens ordentlich leid, denn er war jedenfalls keiner von den bockbeinigsten, sondern tat nur mit den andern. Ich erstattete natürlich sofort Anzeige beim Konsistorium. Das Konsistorium antwortete, entgegengesetzt jenem Bescheide auf jene Stiepelser Eingabe, der die Stiepelser auf den Weg des Prozesses verwies, dass wir das Recht auf Lieferung einer Mahlzeit nur im Wege des Prozesses erstreiten könnten, und dass es die Genehmigung zur Führung eines Prozesses niemals erteilen werde. Das Landes-Konsistorium würde, wie mir ein Mitglied desselben bei einer späteren Gelegenheit erklärte, anders entschieden haben. Aber es war doch wohl besser so. Eine Mahlzeit, die durch Prozess erstritten oder sonst erzwungen worden wäre, hätte mir doch nicht geschmeckt. Der Gastwirt übrigens, bei dem ich abstieg, blieb sich getreu und lieferte mir jedes Mal eine Mahlzeit, wenn an ihm die Reihe war.
Sehr verschieden von den Stiepelsern waren ihre nächsten Nachbarn, die Neu-Garger. Standen die Stiepelser, was Kirchlichkeit betrifft, so ziemlich untenan in der Gemeinde, so standen die Neu-Garger in dieser Beziehung an erster Stelle und würden vielleicht noch fleißiger sich zur Kirche gehalten haben, wenn nicht so oft durch die Elbe Hinderung eingetreten wäre. Suchten die Stiepelser möglichst Gelegenheit, von ihren Verpflichtungen loszukommen, so hatte man bei den Neu-Gargern die Empfindung, dass sie ihrem Pastor in allem zu Gefallen waren und ihm Gutes taten, wo sie nur konnten. Obenan stand in dieser Beziehung die Familie Pägel, übrigens die begütertste im Dorf, denn sie besaß einen Vollhof und zwei Halbhöfe. Der damalige Besitzer, ein Mann in mittleren Jahren, hatte wirkliche Herzensbildung, und sein Gesicht zu sehen, wenn er beim Empfang des Heiligen Abendmahls zum Altar herzutrat, war wirklich erbaulich. Die Frau, öfters leidend, war voll Herzensgüte. Dabei herrschte ein besonders gutes Verhältnis zwischen den jungen Leuten und den alten Eltern, die von ihnen in Ehren gehalten wurden, wie es das vierte Gebot verlangt. Wir haben die Familie wiederholt einen Nachmittag besucht. Pägel holte uns dann mit dem Wagen von der Fährstelle ab und brachte uns auch zu Wagen wieder dahin. So lange wir aber bei ihnen waren, wussten sie gar nicht, was sie uns alles antun sollten. Die Mutter des Lehrers Hübotter, der übrigens auch ein innerlich feiner Mensch war, sagte wohl von den Neu-Gargern, wenn zu ihnen auch einmal ein Schlechter käme, dort würde er doch gut. Eine ähnliche Stellung wie Pägel in Neu-Garge hatte Köhn in Viehle, auch einer der wohlhabendsten Bauern in der Gemeinde, der neben einem Halbhof in Viehle einen Vollhof in Gülstorf besaß und dessen Anwesen wohl den Eindruck eines Gutshofes machte. Auch ihn haben wir ähnlich wie Pägel besucht. Von Köhns altem Vater, den ich in den ersten Jahren beerdigte, sagten die Leute, er sei gefährlich gottesfürchtig
.
Die Extreme berühren sich. Die Extreme sind das Gesindel und die wohlhabenden Bauern.