Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 1
Der erste Tag in Hannover
Als ich mit meinen Habseligkeiten in der Droschke saß, die mich vom Hauptbahnhof nach meinem Bestimmungsort brachte, hatte ich das Gefühl: Wenn doch diese Fahrt nie aufhörte. Und nicht ohne Bangen sah ich, als die Droschke von der Calenberger in die Bäckerstraße einlenkte, die Gebäude des alten Friederikenstifts vor mir, wie ich sie aus dem Freytagschen Kalender kannte. Vollends verlassen kam ich mir vor, als die Droschke vor dem Hoftor hielt und ich meinen Koffer ablud. Aber ich war trotz der hohen Mauer, die das Grundstück von der Straße trennte, bemerkt worden. Der Hausverwalter Standvoß kam eilig heraus und trug den Koffer in das rechter Hand liegende Pfarrhaus, wohin ich ihm folgte. Auf dem Vorplatz empfing mich Fräulein Anna Lichtenberg, eine kleine, rundliche, freundlich blickende Dame von einigen 40 Jahren, und hieß mich willkommen. Ich sagte ihr auf ihre Begrüßungsworte, ich hoffte darauf, dass, wem Gott das Amt gäbe, er dem auch den Verstand geben würde. Darauf führte sie in das freundlich möblierte, behaglich durchwärmte Zimmer, wo von der Wand Petris und Ehrenfeuchters Bildnis mich anblickte, auf dem runden Sofatisch aber eine Flasche Rotwein stand und ein Brot nebst Butter und Mettwurst lag. Auf meine Frage, ob die Möbel zur Wohnung gehörten und von mir benutzt werden dürften, antwortete Fräulein Lichtenberg, es seien die Pastorenmöbel des Stifts, die von den Pastoren benutzt worden wären, bis sie sich verheiratet hätten. Wenn ich eigene hätte, würden diese natürlich diesen Platz machen. Ich verneinte, dass ich eigene hätte und dankte im Stillen Gott, dass es mir so ermöglicht wäre, ohne Schulden anzufangen. Einen kleinen Schreck verursachte mir's allerdings, als Fräulein Lichtenberg mir erklärte, dass das Stift im Fest drei Predigten von mir erwartete, eine am Gründonnerstag, eine am Karfreitag, eine am ersten Ostertag. Auf die am zweiten Ostertag wollten sie für diesmal verzichten. Zwei Predigten in der Schlosskirche, drei im Stift, im Ganzen fünf, von denen ich eine im Konzept hatte. Und es war Mittwoch vor Ostern! Zu meiner Beruhigung fügte Fräulein Lichtenberg aber hinzu, da sie am Gründonnerstag vormittags nicht in die Schlosskirche, wie sonst, sondern in die Gartenkirche gehen würde, wo ihr jüngster Neffe konfirmiert werde, könne ich ja ohne Schaden am Abend im Stift dieselbe Predigt wie vormittags in der Schlosskirche, vielleicht etwas abgekürzt, halten. In andern Jahren feierte das Stift am Gründonnerstag das Heilige Abendmahl. Mir wollte sie bei meiner Neuheit nicht gleich einen Abendmahlsgottesdienst zumuten und hätte deshalb Uhlhorn gebeten, eine Abendmahlsfeier zu halten, die aber, weil derselbe am Gründonnerstag verhindert, bereits heute Abend stattfinden solle. Da ich nun im Jahre vorher am ersten Ostertag in Loccum gepredigt hatte, außerdem für den Karfreitag die von meiner Hauslehrerei aus in Bärsdorf zuerst gehaltene, danach so oft wiederholte Predigt wenigstens benutzt werden konnte, so erklärte ich schließlich, hoffte, es schaffen zu können. Fräulein Lichtenberg bat mich dann noch, heute zu Mittag Gast des Stifts sein zu wollen und überließ mich dann mir selbst, wo ich nun daran ging, meine Sachen auszupacken.
Gegen Mittag musste ich dann aufs Konsistorium zur Vereidigung, die Konsistorialrat KahleGeorg Kahle (1829-1895) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und Generalsuperintendent der Generaldiözese Hoya-Diepholz.Siehe Wikipedia.org [1] vornahm. Mit mir zugleich vereidigt wurde ein Kandidat Bonatz, den ich von einem Besuch in Loccum her kannte, dann aber aus den Augen verloren hatte. Er war zum Kollaborator in Wechold ernannt. Aus dem Konsistorium gingen wir dann in die nahgelegene Neustädter Kirche zur Ordination. Wir legten in der einen der beiden Sakristeien den Ornat an. Die beiden Assistenten, die sich mit dem Ordinator Düsterdiecksiehe Teil 7 (Loccum), Kapitel 1 [2] in der andern Sakristei eingefunden hatten, Höpfner an der Kreuzkirche, damals jüngster Geistlicher des Stadtministeriums, und Schultze, Kollaborator in Linden, holten uns in die Kirche ab, Höpfner, der ältere, vor uns hergehend, Schultze, der jüngere, uns folgend, und nahmen dann zu beiden Seiten vor dem Altar Stellung. Nach dem Gesang Komm, Heiliger Geist, Herre Gott
Vers 1 und 2 trat zunächst Schultze in den Altar und betete eine
KollekteDas Kollektengebet ist das Tagesgebet, das den Eingangsteil des Gottesdienstes abschließt.Siehe Wikipedia.org [3]. Nach dem Gesang Mein Schöpfer, steh mir bei
hielt Düsterdieck die Ordinationsrede über Philipper 2, 12+13Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit - schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
[4] und vollzog die Ordination. Nach dem Schlussverse von Komm Heiliger Geist
betete dann Höpfner noch eine Kollekte und sprach den Segen. Die ganze Stimmung, die mich an diesem Wendepunkt meines Lebens, dem wichtigsten, den ich noch erlebt hatte, beherrschte, trug dazu bei, dass die ganze Feier Eindruck auf mich machte. Als ich später als der Neustädter Kirche zunächst wohnender Geistlicher oft zur Assistenz bei Ordinationen hinzugezogen wurde - Düsterdieck pflegte es mein beneficium flebilebeweinenswertes Privileg
. Die Assistenz bei Ordinationen war wohl eine Auszeichnung, aber auch mit Nachteilen verbunden. Vielleicht war die Redewendung ein damals gängiges Oxymoron, mit dem gebildete Herren protzen konnten. [5] zu nennen -, empfand ich die Feier in der großen leeren Kirche - höchstens waren je und dann einige Angehörige eines Ordinanden zugegen - als reichlich kahl und nüchtern. Wie viel schöner muss es sein, wenn sie in einem vollen Gottesdienst vor versammelter Gemeinde, am liebste in der, an welcher der Ordinand amtieren soll, vollzogen wird. Der formale Gesichtspunkt, den Düsterdieck bei Gelegenheit wohl einmal geltend machte, dass der Ordinand ja nicht bloß für die eine Gemeinde, die zufällig seine erste Wirkungsstätte ist, sondern für die ganze Landeskirche erfolgt, ist doch demgegenüber nicht durchschlagend.
Nach der Ordination ging ich wieder ins Friederikenstift zurück zum Mittagessen, wo ich nun das ganze Personal, die stellvertretende Vorsteherin Fräulein Käthchen Riefkohl und die Gehilfinnen, wie sie damals noch schlechtweg genannt wurden, kennen lernte. Der frische, natürliche Ton Fräulein Lichtenbergs, der wohlwollende, warme Fräulein Riefkohls bewirkten, dass ich mich schnell im Kreise heimisch fühlte. Die andächtig ehrfurchtsvolle Haltung, die die Gehilfinnen einnahmen, hob mich. So war das anfänglich bängliche Gefühl bald überwunden, und ich merkte, wie Steinmetz' Voraussage, dass das Friederikenstift der angenehmere Teil meines Amtes sein werde, sich bewahrheitete.
Nach Tisch ging ich nun zunächst zu Uhlhorn, um mich vorzustellen und Anweisungen für meinen Dienst an der Schlosskirche zu empfangen. Er teilte mir mit, dass er außer den beiden Predigten, die ich zu halten hätte, von mir erwarte, dass ich ihm bei der Austeilung des heiligen Abendmahls am Gründonnerstag, Karfreitag, Ostersonnabend und Ostersonntag helfe. Auch empfahl er mir, zu der liturgischen Vesper am Karfreitagnachmittag zu kommen. Als ich ihm meine Absicht aussprach, am Gründonnerstag selbst in der Schlosskirche zum Heiligen Abendmahl zu kommen, meinte er, ich solle lieber an der Abendmahlsfeier, die er am Abend im Stift halte, teilnehmen, er wolle mich dann gleich der Stiftsgemeinde vorstellen.
Ich kehrte dann ins Stift zurück, um zunächst das Konzept der für den Karfreitag in Aussicht genommenen Predigt aufzusuchen und zu sehen, wieviel ich davon noch gebrauchen könne und das Umzuarbeitende umzuarbeiten. Während ich am Schreibtisch saß, kam Freund Wagner herein, der trotz der auch ihm obliegenden Festarbeit doch noch Zeit gefunden hatte, mich als Amtsbruder zu begrüßen.
Um sieben Uhr war dann die Abendmahlsfeier im Betsaal des Stiftes. Uhlhorn hielt eine sehr warme Beichtrede über Jeremias 31, 3.Der HERR ist mir erschienen von ferne: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.
[6] Am Schluss des Gottesdienstes sprach er dann noch einige Worte, die sich auf meinen Dienstantritt bezogen und in sinniger Weise die Abendmahlsgemeinschaft, in die ich somit gleich mit meiner Gemeinde träte, zu meiner Arbeit in derselben in Verbindung brachte. Es war ein schöner Schluss meines ersten Tages im Amte.
[2] siehe Teil 7 (Loccum), Kapitel 1
[3] Das Kollektengebet ist das Tagesgebet, das den Eingangsteil des Gottesdienstes abschließt.
[4]
Also, meine Lieben, - wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit - schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
[5]
beweinenswertes Privileg. Die Assistenz bei Ordinationen war wohl eine Auszeichnung, aber auch mit Nachteilen verbunden. Vielleicht war die Redewendung ein damals gängiges Oxymoron, mit dem gebildete Herren protzen konnten.
[6]
Der HERR ist mir erschienen von ferne: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.