Mit dem Fernbus durch den Vorderen Orient
Deutsche Landschaft und ein imposanter Berg
Die beiden nächsten Tage verlaufen ruhig. Wir dürfen wieder beim Pastor übernachten und genießen die Zeit in Teheran. Schräg über den Blättern des 8. und 9. Juli meines Taschenkalenders steht ein Satz, den wir uns in den eineinhalb Tagen zu Herzen genommen haben:
GOTT HAT UNS DIE ZEIT GEGEBEN, VON EILE HAT ER NICHTS GESAGT!
Der 10. Juli ist wieder ein Reisetag. Wir wollen ans Kaspische Meer, das wir kurz Kaspi nennen. Da wir dort kein konkretes Ziel haben, wählen wir die direkteste Busverbindung aus. Irgendwo werden wir schon unterkommen. Um acht Uhr fährt der Bus.
Die Landschaft um Teheran ist ziemlich wüst. Nur hin und wieder gibt es ein paar Büsche von mickrigem Wuchs. Zuerst führt die Straße nach Westen in die Stadt Karadsch. Von dort aus geht es dann nach Norden ins Elburs-Gebirge, das ziemlich schroff ist, am höchsten Punkt 5.600 Meter aufragt und damit 800 Meter höher ist als der höchste Gipfel der Alpen. Die Straße schlängelt sich im Tal eines kleinen Flüsschens hoch. Dort gibt es dank der Feuchtigkeit reichlich Vegetation, aber eben nur links und rechts des Wasserlaufs.
Je höher wir kommen, desto serpentinenreicher wird die Straße. Bald können wir fast senkrecht unter uns noch vier weitere Schleifen sehen. Gelegentlich wird die Straße auch durch kleinere Tunnel geführt. Bald wird offensichtlich, warum sich der Bus so steil hocharbeiten muss: Vor uns türmt sich plötzlich eine riesige Betonwand auf. Einige Zeit später haben wir die Höhe der Talsperre erreicht und die Straße schlängelt sich mehrere Kilometer am Ufer des Stausees entlang. Der Stausee muss ziemlich neu sein, denn an seinen Ufern fehlt noch der Bewuchs.
Am Ende des Sees steigt die Straße wieder an und führt durch eine Reihe von Tunneln und Ortschaften. Nach vielen Kilometern erreichen wir auf 4.000 Meter die Passhöhe. Auch sie besteht aus einem Tunnel.
Und dann kommt der Überraschungseffekt. Gleichsam am Ende des Tunnels
öffnet sich ein grünes, in Nebel gehülltes Tal! Ich denke sofort an unseren Flug von Kairo nach Deutschland vor zwei Jahren nach dreijähriger Deutschland-Abstinenz. Beim Start in Kairo nur Wüste, und wenn das Flugzeug über Frankfurt durch die Wolken taucht, ist alles grün!
Wieder verläuft die Straße in steilen Serpentinen, diesmal talwärts. Wir sitzen hinten. Ich habe ein ganz komisches Gefühl im Bauch, wenn das Hinterteil des Busses in den Kurven etwa drei Meter von der Straße entfernt durch die Nebelschwaden schwebt und mein Blick über hundert Meter lang senkrecht unter mir an nichts hängen bleibt, wenn der Dunst einmal aufreißt. Drei zerschmetterte Autowracks zähle ich, die auf dem Grund der Täler liegen. Sie sind bestimmt einigen Menschen zum Blechsarg geworden.
Anfangs sind die Bäume zwar nur Krüppeleichen und Krüppelkiefern, aber je tiefer wir kommen, desto dichter wird der Bewuchs und wird schließlich zu einem stattlichen Wald. Schließlich erreichen wir beim Dorf Tschalūs den schmalen Küstenstreifen.
Der Bus fährt auf einer schmalen, aber guten Straße weiter gen Westen. Links liegen saftige Wiesen, auf denen gut genährte schwarzbunte Holsteinkühe
grasen. Ab und an steht dort auch ein Bauernhaus, das an Nordfriesland erinnert. Rechts liegt das graue, unergründbare, jährlich seine Menschenopfer fordernde Meer, hinter dem sich eine ebenso graue, drohende Wolkenwand auftürmt.
Ziel des Busses ist Ramsar, wir steigen aber schon in Shahsavar (heute Tonekābon) aus, weil wir nicht in einer der teuren Sommerfrischen absteigen wollen, die sich hier am Kaspi befinden. Es ist 14 Uhr. Als Erstes setzen wir uns in das nächste Restaurant und trinken Tee. Das ist unsere Taktik, die wir auf der Reise ausgeklügelt und mehrfach erfolgreich angewendet haben. Da man uns ansieht, dass wir keine Einheimischen sind, kommt auch bald jemand, a good friend of us, of course
, und bietet uns eine Unterkunft für 20 Rial (etwa eine D-Mark) pro Person und Nacht an. Wir sind zufrieden, denn die Unterkunft ist relativ sauber – wobei für einen Mitteleuropäer dort alles relativ
ist. Man gewöhnt sich schnell daran, andere Maßstäbe anzulegen.
Wir lassen es uns nicht nehmen, noch am selben Nachmittag im Kaspi zu baden. Das Wasser ist voller Algen und schmutzig, aber wie gesagt, alles ist relativ. Wenn wir schon am Kaspi sind, müssen wir dort auch gebadet haben. Trotz Nieselregens, den wir in Deutschland ganz normal finden würden, aber für uns Wüstensöhne ist es die Ausnahme.
Am nächsten Morgen gießt es, richtiges Hamburger Schmuddelwetter
. Ursprünglich hatten wir vor, vier Tage am Kaspi zu verbringen, falls das Wetter mitspielt und wir es nicht als verlorene Zeit ansehen. Aber unter diesen Umständen beschließen wir, schon am nächsten Morgen sonnigere Gegenden aufzusuchen und nach Ostanatolien weiterzufahren.
Thomas, immer etwas abenteuerlustiger und leichtsinniger als ich, wollte einfach mal ausprobieren, wie es sich mit dem Trampen in Persien verhält. Er startete also einen Versuch Richtung Ramsar, um zu testen, wie weit er kommt. Als er wiederkommt, muss er uns beichten, dass er unwissentlich ein Taxi erwischt hat und dann zahlen musste.
Am Nachmittag machen wir noch einmal einen Spaziergang am Ufer des Kaspi. Eine Frau, die augenscheinlich Selbstmord begehen will, läuft unentwegt ins Wasser, um gleich darauf von den Herumstehenden wieder herausgezogen zu werden. Eine seelenlose Sumpfschildkröte treibt eines der kleinen Bächlein herunter, die in den Kaspi münden, und strandet auf einer Sandbank. Ansonsten ist an dem Tag nichts los. Wir nutzen die Zeit, um Briefe zu schreiben.
Der 12., 13. und 14. Juli sind wieder drei Reisetage, mehr oder weniger anstrengend. Um sieben Uhr Abfahrt mit dem Fernbus über Ramsar und Rascht, beide noch an der Küste des Kaspi, dann geht es wieder übers Elburs-Gebirge durch ein Tal mit vielen Olivenbäumen nach Qasvin auf die trockene Seite des Gebirges. Dort erkundigen wir uns sofort nach einer Busverbindung nach Täbris. Zu unserem großen Schrecken erhalten wir die Auskunft, dass der nächste Bus erst am kommenden Morgen fährt. Damit haben wir nicht gerechnet. – Aber es gibt eine Zugverbindung nach Täbris! Um 16 Uhr fährt der Zug. Wir kratzen unsere letzten Rials zusammen und kloppen bis zur Ankunft des Zuges Skat. Er kommt tatsächlich und, o Wunder und Entzücken, es sind echte Waggons der Deutschen Bundesbahn. Eine Familie, die mit uns im Abteil sitzt, steigt noch vor Einbruch der Nacht aus, und so kommt es, dass wir ein Abteil für uns allein haben. So können zwei von uns im Gepäcknetz schlafen, darunter ich, zwei auf den Bänken darunter, und der fünfte verkrümelt sich auf eine Bank in ein anderes Abteil. Um acht Uhr morgens kommen wir auf dem etwas außerhalb gelegenen Bahnhof von Täbrīs an. Dort haben wir leider eine Pleite mit dem Anschlussbus – man kann nicht immer Glück haben. Der ist nämlich schon seit sechs Uhr nach Erzurum unterwegs. Erzurum ist die größte Stadt in Ostanatolien hinter der türkischen Grenze. Wir haben sie uns als nächstes Ziel gesteckt.
Aber das Glück ist uns auch in Täbris wieder hold. Es stellt sich nämlich heraus, dass der Fernbus ein Durchgehender von Teheran nach München ist. Deshalb kosten kleine Zwischenstrecken sehr viel. Pro Person sollen wir 400 Rial (etwa 20 D-Mark) zahlen. Ein Taxi kostet aber nur 1500 Rial, also 300 Rial pro Nase. Wir entscheiden uns kurzerhand für das Taxi, was sich als klug erweist, denn die Straße zur Grenze ist eine Katastrophe – und das ist noch geschmeichelt. Piste
trifft es besser. Man sieht schon einige Ansätze für eine neue Straße, aber sehr weit sind die Bauarbeiten noch nicht gediehen, obwohl die persischen Straßen im Allgemeinen nichts zu wünschen übrig lassen.
An der Grenze haben wir Schwierigkeiten mit dem Taxifahrer, der das Geld plötzlich doch in Rial haben will statt in Dollars, wie vorher vereinbart, aber auch das regelt sich. Die Grenzformalitäten verlaufen verhältnismäßig schnell. Ein Visum für die Türkei benötigen wir nicht, da sich die Türkei bereits zu Europa zählt. Das Problem an der türkischen Grenze ist nur, wie wir weiterkommen sollen. Um zehn Uhr morgens verkehrt ein Postbus, der auch Passagiere in die nächste größere Stadt mitnimmt. Dann müssen wir aber die Nacht an der Grenze verbringen, was uns absolut nicht zusagt. Trampen misslingt, aber kurz vor dem Dunkeln kommt doch noch ein Bus und der Fahrer verspricht, uns mit nach Erzurum zu nehmen.
Schon von weitem sehen wir den mächtigen und imposanten Berg, der hier mit über fünftausend Metern die Landschaft bestimmt und um den sich so viele Gerüchte ranken: der Ararat. Leider trägt er einen Wolkenhut, sodass wir die schneebedeckte Spitze nicht sehen können. An seinem Fuße soll laut Bibel und dem Gilgamesch-EposDas Gilgamesch-Epos ist eine Gruppe literarischer Werke, die vor allem aus dem babylonischen Raum stammt und eine der ältesten überlieferten schriftlich fixierten Dichtungen beinhaltet. Das Gilgamesch-Epos stellt in seinen verschiedenen Fassungen das bekannteste Werk der akkadischen und der sumerischen Literatur dar.Siehe auch: Wikipedia.org die Arche NoahNach der biblischen Überlieferung ließ sich die Arche auf den Bergen Ararat
nieder. Damit ist wohl das urartäische Bergland und nicht spezifisch der Berg Ararat gemeint. Zahlreiche Expeditionen hatten den Großen Ararat
zum Ziel, um unter dem gletscherbedeckten Gipfel Überreste der Arche Noah zu finden.Siehe auch: Wikipedia.org gestrandet sein, als die Sintflut abebbte. Es geht die Sage, dass schon Holz von der Arche gefunden worden sei und dass man vor einigen Jahrzehnten die Arche sogar in einem etwas zurückgetretenen Gletscher gesehen haben will.
Zu Füßen des Ararat liegt ein kleines Dorf mit dem schönen Namen Doğubeyazit. Hier hält der Fahrer und eröffnet uns, dass der Bus erst am nächsten Morgen weiterfährt. Vermutlich hat er es uns schon an der Grenze gesagt, aber die Kommunikation mit den Einheimischen, die nur ihre Muttersprache kennen, ist für uns nicht immer einfach.
Wir dürfen im Bus schlafen. Das ist für uns beinahe so komfortabel wie in einem Bett. Nachts klettert noch ein Polizist in den Bus, bis er, halb verdutzt, halb erschrocken, uns bemerkt, und macht sich dann wieder davon. Vielleicht suchte auch er eine Schlafgelegenheit.
Nachträglich gesehen war es gut, über Nacht dort geblieben zu sein, denn am nächsten Morgen ist der Ararat wolkenfrei. Und, wahrscheinlich extra für uns, geht hinter ihm die Sonne auf! Außerdem war es interessant, so lange dort zu bleiben, weil wir die Menschen etwas näher betrachten konnten. Nach dem Pass sind sie Türken, sehen aber ganz anders aus. Ja, natürlich, es sind Kurden, denn diese Gegend gehört ja zum Wilden Kurdistan
. Die Männer sind recht stämmig und untersetzt und tragen durch die Bank Schlägermützen, wie wir damals zu Schiebermützen sagten. Wir haben keine einzige Frau auf der Straße gesehen.
Am nächsten Morgen, dem 14. Juli 1965, unserem 16. Reisetag, fährt der Bus schon um halb sechs Uhr in Doğubeyazit ab. Es geht nun nach Erzurum auf der Europastraße 23, die früher einmal gepflastert gewesen sein muss. Auch hier versuchen wir wieder, von den Mitreisenden die Zahlen von eins bis zehn herauszubekommen, diesmal die türkischen, was uns schließlich gelingt.
Von Erzurum aus, wo das einzige Fortbewegungsmittel neben dem Esel die Pferdedroschke zu sein scheint, nehmen wir den Fernbus nach Trabzon am Schwarzen Meer. Vor uns liegt die höllischste Strecke der ganzen Reise, denn zwischen uns und Trabzon liegt das Pontus-Gebirge, das sich in Nordanatolien entlang des Schwarzen Meeres erstreckt. Drei Pässe sind zu überqueren. Aber davon ahnen wir noch nichts.
Die Landschaft wird nach Norden zu immer europäischer, mit kleinen Krüppelwäldern und mit Blumenwiesen, auf denen Rinder weiden. Zwei Pässe haben wir schon überwunden, langsam fängt es an zu dunkeln. Offensichtlich begreift unser Busfahrer erst jetzt, dass er den letzten Pass in der Dunkelheit überqueren muss, leider etwas zu spät. Nun fängt er an zu rasen.
Das allein wäre nicht dramatisch. Zwei weitere Fakten erhöhen die Spannung, die sich in uns aufbaut. Das eine ist der Zustand unseres Busses, der in Deutschland schon längst aus dem Verkehr gezogen worden wäre. Das andere ist die schnell hereinbrechende Dunkelheit. Die Passstraße ist so schmal, dass bei Gegenverkehr ein Fahrzeug ganz an die Felswand heranfahren und dort stehenbleiben muss, um das andere Fahrzeug passieren zu lassen. In der Dunkelheit sehen wir fast nichts mehr. Gucken wir rechts raus, so sehen wir eine steil nach oben aufragende, vom Bus nur spärlich beleuchtete Felswand. Gucken wir aber links raus, so sehen wir nur einen großen, gähnenden, schwarzen Abgrund. Wir hoffen inständig, dass der Fahrer mehr sieht als wir.