Kairo 1961-1966,
Kapitel 7
Mein erstes Jahr im Schülerheim
Ich habe mich wohl schnell auf das neue Leben im Schülerheim eingestellt, denn ich kann mich nicht erinnern, in meiner Kairoer Zeit Heimweh gehabt zu haben. Das Briefeschreiben, um meine Eltern auf dem Laufenden zu halten, empfand ich eher als lästig; Pflicht statt Kür. Ich sehe das als Zeichen der Abnabelung vom Elternhaus. Der Blick in die gesammelte Korrespondenz zwischen uns und unseren Eltern zeigt, dass meine Eltern versuchten, einen einwöchigen Schreibrhythmus einzuhalten, während meine Briefe sehr unregelmäßig kamen und auch mal drei Wochen bis zum nächsten Brief verstrichen. Dass ich mich aber bemühte, belegt ein Zitat aus meinem Brief vom Dezember 1961: Ich schreibe nicht so oft, weil ich Heimweh habe, sondern weil Mutter Sohnweh hat.
Mein erstes Heimjahr 1961/62 war in meiner Erinnerung das schönste. Das lag nicht zuletzt am Heimelternpaar Oesterreich, das mit viel Hingabe und Einfühlungsvermögen den Laden mit 19 Jungen, sieben Mädchen und drei eigenen Kindern (das vierte war unterwegs) zusammenhielt. Herr Oesterreich war gleichzeitig Lehrer an der DEO.
Herr Oesterreich hatte die besten Ideen für Ausflüge. Da das Heim zur Schule gehörte, bekamen wir für unsere Heimausflüge immer einen Schulbus (Foto 1). Sehr beliebt bei uns war das Reiten bei den 15 km entfernten Pyramiden in Gizeh. Dort liehen wir uns für 25 Piaster (etwa 1,25 €) pro Stunde Pferde. Dann ritten wir zwei Stunden in die Wüste hinaus. Ich hatte zwar schon einige wenige Reitstunden in Hamburg gehabt, aber im Galopp war mir immer noch mulmig. Ich stellte dann aber schnell fest, dass das Galoppieren viel einfacher war als das Traben. Vielleicht lag es an den weichen Sanddünen, die mir die Angst vorm Runterfallen nahmen.
Hier bei den Pyramiden bewahrheitete sich der Satz meines Hamburger Lehrers, der seinen Erdkundeunterricht selbstironisch als lichtvoll
bezeichnete, denn Erdkunde war nicht sein Fach. Er erklärte uns, dass man im Niltal mit einem Bein in der Wüste und mit dem anderen im Kulturland stehen konnte. Hier bei den Pyramiden konnte ich seine Angaben verifizieren.
Einmal unternahmen wir von 20 Uhr bis Mitternacht einen Nacht-Ritt mit Dromedaren, die man dort auch leihen konnte. Man besteigt das Dromedar, wenn es liegt. Dann befiehlt man ihm aufzustehen. Es stellt zuerst das Hinterteil auf. Das passiert etwas ruckartig und man kommt dabei in eine kritische Schräglage, dann kommen die Vorderbeine nach. Mit einem Dromedar kann man auch gut galoppieren: Man muss nur das eine Bein hinter dem Hals des Dromedars kreuzen und das andere Bein über den Fuß hakenSo sieht das dann aus:. So kann man sich einigermaßen gut halten. – Wir haben dann mitten in der Wüste im Dunkeln ein Lagerfeuer gemacht und Würstchen gegrillt.
Gelegentlich besuchten wir auch die Nekropolen im Südwesten Kairos, zum Beispiel Sakkara oder Dahschur. Bei aufmerksamer Beobachtung des Bodens konnte man gelegentlich noch kleine Dinge aus dem alten Ägypten finden. Zu meinen Fundstücken zählte ich kleine Kupfermünzen, die so groß waren wie mein kleiner Fingernagel. Das oxydierte Kupfer ließ sich gut mit Zitronensäure lösen. Außerdem fand ich kleine bunt glasierte Tonperlen, wie man sie von Abbildungen des Halsschmucks der alten Ägypter kennt. Mein interessantester Fund war aber ein kleiner Siegelring aus Messing oder Bronze (Fotos 2). Ich sehe in der Siegelfläche einen Pelikan, aber wenn jemand darin eine Ente erkennt, ist es mir auch recht. Der Innendurchmesser des Ringes beträgt nur elf Millimeter. Damit hätte er höchstens auf den Finger eines Kleinkindes oder auf den Knochen gepasst, den Hänsel der schlecht sehenden Hexe durch die Gitterstäbe gesteckt hat.
20 Kilometer südöstlich von Kairo gibt es einen 35 Millionen Jahre alten versteinerten Wald, in den wir mit dem Schulbus einen Ausflug machten. Damals war dort nur Wüste, heute ist das Areal touristisch erschlossen und als SchutzgebietDas geologische Schutzgebiet Versteinerter Wald bei el-Maʿādī (engl. The Petrified Forest Protected Area of Maʿādī; arabisch: محمية الغابة المتحجرة بالمعادي, Maḥmīyat al-Ghābat al-mutaḥaǧǧirat bi'l-Maʿādī) befindet sich ca. 20 km östlich des Kairener Stadtteiles el-Ma'ādī im ägyptischen Gouvernement Kairo.Siehe Wikipedia.org eingezäunt. Dort liegen dicht an dicht riesige versteinerte Baumstämme und kleine und große Baumstücke herum. Ich habe heute noch ein etwa 20 cm langes Stück Holz
von damals. Es liegt auf meiner Fensterbank (Foto 3). Aus dem Holz
wurden damals schon Schmuckstücke gemacht, beispielsweise Anhänger für Ketten.
Mindestens einmal im Jahr machten die Heimschüler ein mehrtägiges Zeltlager am Meer. Meine erste Zeltfahrt ging im Mai 1962 nach Ain SuchnaAin Suchna (arabisch العين السخنة, DMG al-ʿAin as-Suḫna; auch Ain Sukhna) ist ein an der Bucht Ghubbat al-Būṣ an der Westküste des Golfs von Suez gelegenes touristisches Urlaubsgebiet etwa 120 km südöstlich von Kairo und 65 km südlich von Suez im Gouvernement as-Suwais. Der Name bezieht sich auch auf den ganzen Küstenstreifen von mehreren Dutzend Kilometern Länge, wo sich entlang der gut ausgebauten Küstenstraße mehrere Ferien-Komplexe angesiedelt haben. Der Name steht im Arabischen für "heiße Quelle" und leitet sich von einer Schwefelquelle in der Region ab.Siehe Wikipedia.org am Roten Meer, etwa 120 km östlich von Kairo und 50 km südlich von Sues. Es gibt dort einen wenige hundert Meter breiten flachen Küstenstreifen, der im Osten vom Meer und im Westen von den steil aufragenden Bergen der Arabischen Wüste begrenzt wird. Auf diesem Streifen liegt die heiße Quelle, die dem Ort ihren Namen gab. Zwei Tümpel gab es dort, etwa 30 Quadratmeter groß und eineinhalb Meter tief, die wohl aus der Erde gespeist wurden. Das weiche Wasser roch stark nach faulen Eiern. Mein Bruder erinnert sich, darin gebadet zu haben. – Eine Hafenanlage aus dem Mittleren ReichAls Mittleres Reich wird der von etwa 2137 bis 1781 v. Chr. bestehende Staat im alten Ägypten bezeichnet.Siehe Wikipedia.org war damals noch nicht entdeckt. So gab es dort außer der Küstenstraße bis auf die Quelle nichts als Sand und Steine. – Heute stehen dort riesige Hotelkomplexe, die wegen der Nähe zu Kairo (120 km) meist von Kairoern besucht werden.
In sicherer Entfernung vom Wasser bauten wir unsere Zelte auf (Fotos 4). Zwischen den Zelten wurde ein großes Sonnensegel aufgespannt, darunter Tische und Bänke. Dort hielten wir uns vorwiegend auf, wenn wir nicht angespültes Holz sammelten, Volleyball spielten oder im Wasser waren, um zu schnorcheln und zu tauchen. Das Wasser war klar und die Unterwasserwelt des Roten Meeres breitete ihre ganze Schönheit vor uns aus: Korallenbänke auf sandigem Grund, bunte Fische, Riesenmuscheln der Art Tridacna costataTridacna squamosina (syn.: Tridacna costata) ist eine Muschel-Art aus der Unterfamilie der Riesenmuscheln (Tridacninae), die zur Ordnung der Cardiida gestellt wird. Die Art kommt in sehr flachem Wasser im Roten Meer vor und wurde erst im Jahr 2008 wiederentdeckt.Siehe Wikipedia.org, die bis zu 40 cm groß waren und einen welligen Rand hatten, sodass sie in halb geöffnetem Zustand sehr bedrohlich ihre Zähne zeigten (Foto 5).
Herr Oesterreich hatte sich einen Wüstenschein
ausgedacht, der sich aus mehreren Einzelprüfungen zusammensetzte, ähnlich wie ein Führerschein oder der Wettbewerb bei den Bundesjugendspielen, aber erheblich umfangreicher. Er nannte sich Wüstenschein für Jungen
. Ob es auch einen für Mädchen gab, weiß ich nicht mehr. Folgende Bedingungen mussten erfüllt sein:
Im Bereich Biologie:
- Fünf Wüstenpflanzen erkennen und im getrockneten und gepressten Zustand vorweisen können.
- Zwei Giftschlangen aus dem ägyptischen Raum erkennen (Zoo).
Im Bereich Geschichte:
- Über einen ägyptischen König des Alten oder Neuen Reiches oder aus der Spätzeit ein kurzes Referat ohne Notizen halten, Königskartusche zeichnen können.
- Einen Tempel (z. B. Dimai) nach der Natur zu zweien oder zu dritt vermessen und eine maßstabgerechte Skizze anfertigen.
- Als
Fremdenführer
eine Sehenswürdigkeit Kairos oder der Umgebung übernehmen können (Moschee, koptische Kirche, altes Haus in der Muski, Haus Moh. Ali Garten, Museum, dort aber nur einen kleinen Abschnitt oder Unterabteilung!).
Im Bereich Erste Hilfe:
- Erste Hilfe für folgende Unglücksfälle: Verbrennung (Sonnenbrand), einfacher Bruch (Schiene), Schlagaderblutung, Sonnenstich, Hitzschlag, Skorpionstich, Schlangenbiss, Ertrinken (Wiederbelebung).
- Ab 17 Jahre: Eine Injektion intramuskulär in Gegenwart eines Arztes geben (Bescheinigung des Arztes).
Im Bereich Sport:
-
Wüstenfußmarsch:
- bis 14 Jahre: 10 km
- bis 16 Jahre: 15 km
- über 16 Jahre. 20 km.
Im Bereich Lager und Fahrt:
- Lösen einer Orientierungsaufgabe ohne Kompass.
- Lösen einer Orientierungsaufgabe mit Kompass bei Nacht.
- Drei Sternenbilder kennen.
- Zu zweit ein Zelt aufbauen; Bescheid wissen über Verhalten bei Sturm.
- Feuer Anzünden, ohne Papier zu benutzen.
- Ein Essen kochen. Zutaten werden gestellt, aber vorher nicht bekannt gegeben.
- SOS-Zeichen bei Tage und Nacht geben können.
- Einen Petroleumkocher in Betrieb setzen.
- Eine Petroleumlampe auseinandernehmen, zusammensetzen und in Betrieb setzen.
Für Achtzehnjährige, falls im Besitz eines Führerscheins: Einen Personenwagen auf einer Wüstenpiste steuern. Einmal festfahren: Null Punkte. Die Piste wird vorgefahren, Richtzeit gegeben. Jedes zu frühe oder zu späte Eintreffen am Ziel wird mit Strafpunkten belegt.
Was war noch? Unsere Heimkollegen, die ihre Elternhäuser in Alexandrien oder Ismailia hatten, fuhren an Wochenenden gelegentlich nach Hause. Manchmal wurden wir von ihnen eingeladen und konnten auf diese Weise auch Alexandrien und Ismailia kennenlernen. Das war eine schöne Abwechslung für uns.
Der Höhepunkt des Schuljahres war aber eine Fahrt, die Herr Oesterreich zu Ostern 1962 organisierte. Es ging zum Katharinenkloster auf dem Sinai, und ich bekam die Gelegenheit teilzunehmen. Aber das ist eine eigene GeschichteLesen Sie auch:Osterfahrt zum Katharinenkloster