Krankheit als Versagen
Nach der NS-Ideologie war Krankheit gleichbedeutend mit Schwäche und Kranke, schadeten der VolksgesundheitSiehe: Reiter, Hans und Joh. Breger, München, Röhrig, 1942Deutsches Gold, Gesundes Leben, Frohes Schaffen
, mussten getötet werden. Daraus ergab sich eine Volksangst, die Krankheit verleugnete. Hinzu kam, für Narzissten sind Kranke Feinde, weil sie ihm nicht zu Willen sind. In meiner Familie gab es entsprechende Vorkommnisse.
Damals wie heute ist allgemein bekannt, Kinder werden krank. Es gibt die Kinderkrankheiten. Mit den richtigen Medikamenten und Zuwendung ist das schnell überwunden.
Nun wurde ich krank. Damals grassierten Mumps, Masern, Windpocken. Eine dieser Kinderkrankheiten quälte mich.
So lag ich in der neuen Wohnung das erste Mal krank im Bett. Ab dem späten Nachmittag. Das Bett stand in dem winzigen Kinderzimmer und ich hatte den Eindruck, zur Strafe ins Bett geschickt worden zu sein. Mutter nutzte die Gelegenheit wieder zur Herabwürdigung und Schuldzuweisung. Sie beschwerte sich über die zusätzliche Belastung, die ihr das Kind auferlegte. Jetzt müsse sie auch noch eine Entschuldigung für die Schule schreiben und machte die Kinderzimmertür etwas lauter hinter sich zu. Sie behauptete, dass der immer abwesende Vater dafür zuständig wäre, sie könne das nicht. Die spätere Lebenserfahrung zeigte mir, dass besonders selbstbewusste Menschen nicht immer in der Lage sind. einfache Schreiben zu verfassen. Ihr war es jedoch peinlich, sich als Mutter dieses Kindes zu outen
.
Alleingelassen litt ich vor mich hin, weil mir zu der Krankheit nichts gesagt wurde. Mutter kam nicht wieder an mein Bett.
Irgendwann, am nächsten Tag, ging ich raus, in die Wohnküche. Mutter befahl: „Geh sofort ins Bett!“ Dem Befehl folgte ich wortlos. Nach einigen Stunden kam sie zu mir ans Bett und sagte höhnisch: „Wie geht es dir, stell dich nicht so an!“ Die folgende Nacht überstand ich irgendwie.
Am nächsten Tag hatte ich keinen Hunger und fühlte mich elend. Mutter kam an mein Bett und verhöhnte mich weiter: „Musst du immer noch im Bett liegen? Stell dich nicht so an!“
Am vierten Tag machte sie mir Vorwürfe: „Kannst du immer noch nicht aufstehen? Wenn du da rumliegst, machst du mir nur Arbeit. So schlimm ist das nicht.“
Vermutlich brachte sie mir zu trinken und etwas feste Nahrung. Die Erinnerung daran fehlt mir. Jetzt kam sie nur noch mit finsterer, vorwurfsvoller Miene zu mir an das Bett. Dabei unterstellte sie mir Faulheit und Drückebergerei. Erst erwartete sie von mir und dann verlangte sie, dass ich aufstehe, ihr nicht länger zur Last falle und meine Pflicht erfülle. Mir ging es schlecht.
Ihr Tun wurde zum Psychoterror und der quälte mich. Das behinderte meinen natürlichen Gesundungsprozess. Die Situation dauerte an, bis Vater von seiner auswärtigen Arbeit nach Hause kam. Sofort gab Mutter die leidende Fürsorgliche. Sie habe schon so viel für das kranke Kind getan und könne jetzt nicht mehr, weil ich nicht aufstehen würde. Die Entschuldigung für die Schule müsse er dringend schreiben, sie habe das wegen der vielen Arbeit, die sein Kind ihr mache, nicht tun können.
Wenn Kinder unentschuldigt in der Schule fehlten, dann konnte das, wegen der gesetzlichen Schulpflicht, gegen die Eltern als Rechtsverstoß geahndet werden. Das war Mutter jedoch bis dahin egal. Das Kind war schuld. Nun hatte Vater diese „Tat“ des Kindes formgerecht auszugleichen. So hatte Mutter auch ihren Ehemann, gleich nach seiner Heimkehr, wieder in den Sozialclinch der Familie eingegliedert.
Als ich endlich aufstehen konnte, war ich froh, denn die Vorwürfe und der Psychoterror von Mutter wurden weniger. Ich fühlte mich etwas entlastet. Ihr Druck und die Schuldzuweisung blieben allerdings bestehen. Ob ich ansteckend krank war, war egal. „Werde ja nicht wieder krank. Achte auf deine Gesundheit!“, war Mutters Forderung.
Obwohl ich an einer verbreiteten Kinderkrankheit litt, war für Mutter klar, ich sei wegen Unachtsamkeit an meiner Erkrankung schuld. Kranksein war also schlecht, erkannte ich. Mein Leiden interessierte niemand. Es war vielmehr der Ausdruck von Schwäche und Faulheit. Der notwendige Genesungsprozess war nicht mit Freude über dessen Fortschritt verbunden, sondern mit zunehmenden Vorwürfen. Diese rechtfertigten auch den von Mutter vorgenommenen Nahrungsentzug. Das half bei der Überwindung des inneren Schweinehunds. Von der Erfüllung meiner Pflichten dürfe ich auch krank nicht abweichen. Mir kam das Verhalten dieser Frau absolut falsch und feindlich vor. Es war NS-korrekt.


