Teil 6 - Hauslehrerzeit 1874 bis 1875
Kapitel 5
Die Gebirgskamm-Partie und verschiedene Besuche
In der Zeit, als die Jänkendorfer Herrschaften zum Besuch waren, wurde eine Partie über den Gebirgskamm veranstaltet. Der Prinz, die vier jungen Prinzessinnen, Fräulein Ganzel und ich und meine beiden Zöglinge waren von der Partie, die am 1. Juli angetreten wurde. Der alte Fürst und die beiden Damen wollten uns andern Tages in Schreiberhau erwarten. Wir waren aber vom Wetter wenig begünstigt. Es waren fast die einzigen Tage im ganzen Sommer, in denen das Gebirge in Wolken eingehüllt war. Unser Weg ging über Krummhübel, Wang, die Hampelbaude zum Koppenkegel hinauf. Unten war's noch hell. Je mehr wir aber in die Höhe kamen, desto mehr trübte es sich. Auf der Höhe des Gebirgskamms und beim Besteigen des Koppenkegels umtobte uns ein eisiger Sturm. Ich nahm die Hüte der jungen Mädchen in Verwahrung, damit sie nicht an den Ecken der Serpentinen, in denen der Weg verläuft, sei's in den Metzergrund, sei's in den Riesengrund hinabgeweht würden. Im Koppenhause wurde Mittag gemacht. Einen Augenblick zerteilte der Wind wohl den Nebel, so dass man einen Blick hinab in den Riesengrund erhaschen konnte. Aber gleich darauf schloss sich die öffnung wieder. Wir gingen dann denselben Weg vom Koppenkegel hinab, darauf an den Teichrändern und der kleinen Sturmhaube vorüber nach der Petersbaude. Dort wurde Nachtrast gemacht. Vier Zimmer belegte der Prinz, in einem schlief er selbst, in einem die drei großen Prinzessinnen, in einem Fräulein Ganzel mit Lenchen, in einem ich mit meinen beiden Zöglingen. Der Prinz fragte die drei großen Prinzessinnen, ob sie auch wüssten, woran man eine echte Prinzess erkenne. Am andern Tage war das Wetter ebenso wenig günstig. Ich erinnerte daran, dass heute der Tag sei, an dem Maria über das Gebirge gegangen sei, und Fräulein Ganzel fragte die Mädchen, ob sie auch wüssten, wie das Gebirge geheißen hätte. Der Weg führte über die große Sturmhaube, das kleine und große Rad - ein Abstecher nach dem Elbfall wurde auch noch gemacht - und die Schneegruben. Einen grandiosen Eindruck machten die aus der Tiefe dieser ungeheuren Schlucht (800 bis 1000 Fuß tief) emporwallenden weißen Nebel. Der Prinz meinte, der Eindruck sei viel großartiger, als man ihn bei klarem Wetter haben könne. Um uns den vollen Eindruck genießen zu lassen, ohne das Hinabstürzen in die bodenlos erscheinende Tiefe zu riskieren, hielt er uns einen nach dem andern in seinen starken Armen über die Schlucht. Als meine Zöglinge anfingen, schlapp zu werden, stimmte ich mit ihnen Lieder an, Europa hat Ruhe
und anderes. Das machte nicht allein sie munter, sondern fand bei der ganzen Gesellschaft Anklang, so dass sie sich nun alle um mich scharten um immer neue Lieder von mir zu hören und mit mir zu singen begehrten. So stiegen wir von der Höhe des Kammes - von der übrigens Prinzess Elisabeth ziemlich enttäuscht war, sie meinte: Das ist ja gar kein Kamm, das ist ja ein Rücken, und zwar ein recht breiter, so wie meiner
- hinab, und je mehr wir hinab kamen, desto mehr hellte sich das Wetter auf. In der Josefinenhütte von Schreiberhau, wo uns die zurückgebliebenen Herrschaften erwarteten, lachte uns die Sonne entgegen. Hier wurde Mittag gemacht, und dann ging's in zwei Wagen heimwärts. Schon während wir zusammen saßen, und noch mehr bei der Heimfahrt, wurde wieder tüchtig gesungen. Alles wollte bei mir im Wagen sitzen, weil ich immer neue Lieder aufs Tapet brachte. übrigens ging die Fürstin auf den nun eingeschlagenen Ton mit vollem Humor ein und wusste ihrerseits auch noch allerhand lustige Lieder anzustimmen.
Ein anderer Besuch, der eine Zeitlang in Neuhoff sich aufhielt, war der Herrnhuter Bischof Theophil Reichel aus Berthelsdorf. Die Reußsche Familie hatte schon seit Zinzendorf, dessen erste Gemahlin bekanntlich eine Gräfin Reuß war, Verbindung mit der Brüdergemeinde gehabt, und Theophil Reichel war der Lehrer des Prinzen Harry gewesen und hielt seitdem Freundschaft mit ihm. Eines Tages musste ich in seiner und des Prinzen Gegenwart ein Examen mit Enzio abhalten. Es fiel verhältnismäßig gut aus, da Enzio nicht auf den Mund gefallen war.
Natürlich machte ich von Neuhoff aus auch verschiedene Besuche. So bei den von früher her bekannten Damen Frau Gebauer und den Fräuleins von Wechmar in Schmiedeberg. Vor allen Dingen aber auch bei den verschiedenen Geistlichen der Diözese. An Pastor Götzschmann in Fischbach hatte mir Vater, der ihm besonders nahe gestanden, Grüße aufgetragen, und er war deshalb einer der ersten, die ich besuchte. Ich tat es in den Pfingsttagen, meine beiden Prinzen ließ ich in Buchwald. Götzschmann war ein Sechziger, fast völlig erblindet, aber einer der gediegensten und tüchtigsten Geistlichen der Diözese, den ich auch in der Folge wiederholt besuchte und von dem ich mir verschiedentlich Rats erholte. Nicht aus Vaters Zeit mehr stammte Pastor Poster aus Buchwald, dem ich schon als dem nächsten Nachbar bald Besuch machte, den mir aber auch die prinzlichen Herrschaften besonders empfahlen, ein stiller, bescheidener und dabei gelehrter Mann, damals gerade Witwer geworden. Er war früher Hauslehrer bei Zimmers in Vorhaus gewesen, und das bot schon Anknüpfungspunkte. Ferner besuchte ich Pastor Sowade in Lomnitz, einen noch jüngeren Mann, einen der früheren Schmiedeberger Vikare, den ich auch einmal vertrat. Natürlich unterließ ich es auch nicht, Superintendent Anderson in Erdmannsdorf mich vorzustellen, einen tüchtigen Geschäftsmann, quecksilbrig lebhaft. Er behandelte meinen Besuch ganz dienstlich, sagte mir auch gleich, dass er mich demnächst einmal in seiner Gegenwart werde predigen lassen. Konsistorialrat Eickenrodt, der um diese Zeit Vater in Cöslin besuchte und von demselben das erfuhr, fand es sonderbar, da ich ja allerdings als hannoverscher Kandidat dem Konsistorium in Hannover direkt unterstand. Ich machte weiter keine Einwendungen und benutzte gern die Gelegenheit, einmal zu predigen, um in der übung zu bleiben, predigte dann auch in der Erdmannsdorfer Kirche, am 17. Sonntag nach Trinitatis über das Sonntagsevangelium.