Teil 9 - Moisburg, 1880-1888
Kapitel 1
Einführung in Moisburg
Mein Reiseziel am 16. Dezember war Harburg, wo ich Mutter [Margareta Dittrich geb. Rogge] erwartete, die mir wie erwähnt bei Einrichtung und Einführung behilflich sein wollte. Da ich einige Stunden früher als sie in Harburg eintraf, benutzte ich die mir gebliebene Zeit wieder zu einem Besuch bei Frau Pastor Hoffmann, die mir auch noch mancherlei Beistand leistete, z. B. den Wein für das Einführungsessen besorgte. Dann ging ich wieder auf den Bahnhof, um Mutter abzuholen. Es war doch ein eigenes Gefühl, ihr liebes Gesicht in dieser für mich so fremden Umgebung auf einmal auftauchen zu sehen. Wir übernachteten in Stadt Lüneburg
. Am andern Morgen in der Frühe ging es zunächst mit der Post nach Buxtehude. Es hatte in der Nacht gefroren und war zu meiner Freude helles Wetter. So hoffte ich, dass Mutters erster Eindruck von meiner neuen Heimat ein freundlicher sein werde. In Buxtehude benutzte ich den kurzen Aufenthalt, zu Hakenius zu gehen und ihn um Herleihung einer Bratenschüssel für das Einführungsessen zu bitten. Er ließ es sich nicht nehmen, Mutter an dem Wagen, der uns nach Moisburg abholen sollte, zu begrüßen.
In Moisburg war am Eingang des Pfarrhofes eine Ehrenpforte errichtet. Der Küster Herr Meybohm begrüßte uns an derselben und lud uns, nachdem wir in dem behaglich durchwärmten Pfarrhause abgelegt hatten, in sein Haus zu Tisch. Im Laufe des Nachmittags kam auch der Frachtwagen mit den von Mutter in Stettin besorgten Möbeln an, und es konnte ans Einräumen gegangen werden. Schon in der ersten Nacht konnten wir in den eigenen Betten schlafen, und am Sonnabendabend war meine nach der Gartenfront gelegene Studierstube behaglich eingerichtet und das an sie anstoßende Zimmer so weit möbliert, dass das Mittagessen am folgenden Tage dort eingenommen werden konnte. Verschiedene Besuche stellten sich an dem Tage bereits ein, so stellten sich mir mehrere Konfirmandinnen vor, ebenso die Hebamme Frau Schwank.
Am Sonntag war dann die Einführung. Als Erster stellte sich KastroppPastor der Nachbarparochie Elstorf [1] ein, der in der kurzen Zeit der Vakanz die Spezialvikarie geführt hatte und am Einführungstage predigen sollte. Dann kam Superintendent Dr. Raven aus Lüne. Moisburg hatte bisher zur Inspektion Hollenstedt gehört, die nur aus den vier Parochien Elstorf, Hollenstedt, Moisburg und Tostedt bestand, aber nun nach Emeritierung des Superintendenten Baring mit Harburg vereinigt werden sollte. Dem hochbetagten Generalsuperintendent D. GöschenAdolf Göschen (1803-898) war ein lutherischer Theologe und Generalsuperintendent der Generaldiözese Harburg.Siehe Wikipedia.org [2] in Harburg, der auch dicht vor der Emeritierung stand und nur wegen einer andern Vakanz in Harburg, deren Erledigung sich wegen Wahlunregelmäßigkeiten verzögert hatte, einstweilen dort noch aushielt, hatte man die Versehung einer zweiten Inspektion nicht zumuten wollen. Der nächste Nachbar auf der andern Seite Harburgs, Superintendent Schulze in Winsen, auch bereits ein Siebziger, musste die durch den Tod des Pattenser Superintendenten erledigte Inspektion mit versehen. So hatte man denn dem schon ziemlich weitab wohnenden Raven die Versehung der Superintendentur Hollenstedt übertragen. Raven war in der ganzen Landeskirche bekannt wegen seines Reichtums und wegen seiner fünf Frauen, die er gehabt. Verschiedene Anekdoten gingen darüber von Mund zu Mund. Auch war er wegen seines selbstbewussten Auftretens mehr gefürchtet als geliebt. Er war früher Pastor an der Neustädter Kirche in Hannover gewesen und hatte als solcher eine überaus erfolgreiche Predigtwirksamkeit entfaltet. Die dortigen Kirchenvorsteher erzählten noch, dass sie damals, wenn sie den Klingelbeutel in der Kirche herumgetragen, in der Mitte der Kirche hätten umkehren müssen, um ihn zu leeren. Nach seiner dritten Verheiratung aber, die ihm ein bedeutendes Vermögen zugebracht, hätte das merklich abgenommen. Auch Frau Abt Uhlhorn erzählte mir, dass sie von da ab den früher mit Raven gepflegten Verkehr hätten abbrechen müssen, weil sie einfach nicht mehr hätten mitkommen können. Man hatte ihm dann die nicht besonders hoch dotierte, aber doch in mancher Hinsicht bevorzugte Superintendentur gegeben. Damals war er ein Mann von 63 Jahren, eine immerhin stattliche Erscheinung, das ausdrucksvolle, scharf geschnittene Gesicht von vollem weißen Haar und Bart umrahmt. Die kräftig entwickelte, stark gerötete Nase zeigte, dass er den Freuden der Tafel nicht abgeneigt war. Mutter erzählte noch, wie man bei seinem Eintritt ins Zimmer seinen Mienen die angenehme Enttäuschung angemerkt hätte, dass er statt wie er befürchtet, in eine öde Junggesellenwirtschaft in eine wohnliche Haushaltung gekommen wäre; und dass er sich das von Mutter mitgebrachte Diner nach der Einführung trefflich habe schmecken lassen, wurde uns dann von andrer Seite bestätigt. Ich habe jedenfalls einen angenehmen Ephorus an ihm gehabt - auch Kastropp hatte die gleiche Erfahrung gemacht -, der mir auch später stets mit Wohlwollen begegnet ist. Auch Mutter fühlte sich von seinen feinen gesellschaftlichen Manieren angenehm berührt, weit mehr als von denen des bald nach ihm eintreffenden weltlichen Kirchenkommissars Amtshauptmann Dieterichs aus Tostedt, der gleich nach seinem Eintritt sich seine Zigarre anzündete und dieselbe auch während der vor dem Gottesdienst vorgenommenen Verpflichtung nicht ausgehen ließ.
Beim Einführungsgottesdienst hielt Pastor Bockhorn aus Tostedt die Liturgie, Pastor Kastropp die Predigt, in der er zum Schluss auch des Einzuführenden gedachte. Der Text der gehaltvollen und eindringlichen Einführungsrede Ravens war 1. Timotheus 4, 16Achte auf dich selbst und auf die Lehre; halte daran fest! Wenn du das tust, rettest du dich und alle, die auf dich hören.
[3]. Mutter, die noch mit den Vorbereitungen des Einführungsessens beschäftigt war, hatte es sich doch nicht nehmen lassen, bei der Einführung zugegen zu sein. Kastropp stand allerdings schon auf der Kanzel, als sie mit raschem Schritt in die Kirche kam, was der Gemeinde nicht wenig imponierte. Sie hörte doch fast die ganze Predigt und die Einführungsrede und sprach sich über beide hinterher befriedigt mir gegenüber aus. Dass die Liturgie am Anfang ihr entging, war kein Schade. Denn die war sehr wenig liturgisch.
Am Einführungsessen nahm außer dem Kirchenvorstand auf unsere Einladung Meybohm teil. Von den Kirchenvorstehern saß neben mir Peter Bösch aus Rodendorf, der mir besonders treuherzig die Hand schüttelte. Er war ein hübscher alter Mann mit festen Gesichtszügen. Als ältestes Mitglied des Kirchenvorstandes und bisher ständiger Vertreter desselben auf der Bezirkssynode hatte er einen etwas weiteren Blick und größere Gewandtheit als die übrigen Kirchenvorsteher, aber auch ein größeres Selbstbewusstsein. Mir gegenüber nahm er anfangs eine gönnerhafte Miene an. Ich merkte aber bald, dass ihm nicht ganz über den Weg zu trauen war.
Kastropp blieb auch, als die übrigen sich entfernt hatten, noch eine Weile bei uns und freundete sich mit Mutter ordentlich an. Mutter blieb noch den Montag da. Es gab immer noch einiges einzurichten. So stutzte sie das von Wittkopf übernommene Mädchen Anna Kullack, die aber bisher hauptsächlich das Vieh besorgt hatte, etwas für den Haushalt bis zu [meiner Schwester] Ellys Eintreffen zurecht, bestellte in der Christian Meyerschen Gastwirtschaft das Mittagessen für mich, vor allen Dingen machte sie mit mir Besuch bei der einzigen gebildeten Familie des Dorfes, des Oberamtmanns Wilhelmi, da ihr besonders daran lag, dass Elly bei derselben Anschluss fände.
[2] Adolf Göschen (1803-898) war ein lutherischer Theologe und Generalsuperintendent der Generaldiözese Harburg.
[3]
Achte auf dich selbst und auf die Lehre; halte daran fest! Wenn du das tust, rettest du dich und alle, die auf dich hören.