Teil 9 - Moisburg, 1880-1888
Kapitel 2
Turbulente Weihnachtszeit
Dienstag früh reiste Mutter ab, und ich stürzte mich nun mit aller Energie auf die Festarbeit. Da der erste Weihnachtstag Sonnabend war, ging es ja noch an, da der Sonntag nach Weihnachten wegfiel. Dafür hatte ich aber Hollenstedt mit zu versorgen. Wittkopf hatte mir bereits mitgeteilt, dass die Hollenstedter auf eine Christabendfeier rechneten. Und da eine solche in Moisburg noch nicht hergebracht war - Wittkopf hatte sie einmal gehalten, als aber dann der Kirchenbesuch am ersten Festtag unbefriedigend gewesen, erklärt, er wolle nie wieder eine halten - hatte ich zugesagt und einem Hollenstedter Kirchenvorsteher, der mich bereits am Tage vor meiner Einführung aufsuchte, mein Versprechen wiederholt, auch eine Predigt am zweiten Festtag, nachdem ich allerdings zuvor in Moisburg gepredigt, in Aussicht gestellt. So hatte ich in diesen Tagen alle Hände voll zu tun. Doch benutzte ich einen Vormittag, um auch einen Besuch in der Schule zu machen. War ich doch nun auch Ortsschulinspektor geworden.
Der Weihnachtsabend brachte sehr unfreundliches Wetter: Regen und Schlackerschnee. Bei Einbruch der Dämmerung holte mich der Wagen nach Hollenstedt ab, glücklicherweise ein geschlossener Halbwagen, so dass ich wenigstens trocken hinkam. Aber dort kam ich mir wie an den Nordpol verschlagen vor. In einer Gastwirtschaft stieg ich ab. Von der Umgebung konnte ich nichts mehr sehen, wusste also auch nicht, wo die Kirche lag. Kirchleute, die ausspannten oder sich nach dem Weg vor dem Gang in die kalte Kirche etwas aufwärmen wollten, gingen ab und zu. Ein PräparandPräparand (lat. ein Vorzubereitender) ist ein Schüler, der sich für eine (Konfirmations-)Prüfung präpariert.Siehe Wikipedia.org [4], vom Küster Schweinhagen geschickt, kam, um Liednummern zu holen. Ich erklärte, dazu müsste ich erst den Gang des Gottesdienstes kennen, da ich ja gar nicht wisse, wie viele Lieder von der Gemeinde zu singen seien. Das wollte dem jungen Mann gar nicht einleuchten, und er wiederholte seine Bitte, bis ich unwillig wurde und ihn mit dem Bescheid entließ, Herrn Schweinhagen zu holen, damit ich mit ihm selber spreche. Der kam, und ich fand in ihm einen verständigen Mann, mit dem ich mich denn auch verständigte, auch über den Gottesdienst vom zweiten Festtag und eine Trauung, die ich zwischen Weihnachten und Neujahr zu halten hätte. Als es läutete, musste ich mich zur Kirche fahren lassen wie ein Blinder. Ich merkte nur, dass es durch einen dunklen und muffigen Torweg auf den Kirchhof ging. Endlich saß ich in der Sakristei und hörte die Orgel, Gemeinde- und Chorgesang. Der Gottesdienst war liturgisch reich ausgestaltet. Aber wie roh klang der Gesang. Dazu das Lüneburger Gesangbuch mit seinen Änderungen.
Vom Himmel hoch da komm ich her
hatte ich mit Fleiß nicht gewählt. Denn die triviale Änderung: Vom Himmel kam der Engel Schar
hätte meinem Geschmack doch etwas zu viel zugemutet.Offensichtlich hatte der Autor eine Abneigung gegen das Lüneburger Gesangbuch, weil er das Lied Vom Himmel kam der Engel Schar
als gräuliche Verhunzung des Liedes Vom Himmel hoch, da komm ich her
empfand und außerdem noch allerlei andere Mängel zu kritisieren hatte. [5] Aber siehe da, es wurde dafür vom Chor gesungen, und - um das gleich vorwegzunehmen - als ich am zweiten Festtag Vom Himmel kam der Engel Schar
angegeben hatte, versah sich der gute Herr Schweinhagen, und ich bekam das verballhornte Lied abermals zu hören. Die Kirche war groß, und, soweit ich bei dem etwas ungewissen Kerzenlicht unterscheiden konnte, gut besucht. Aber die Akustik war ungünstig. Meine eigene Stimme kam mir trocken und tonlos vor, und das Predigen wurde mir deshalb nicht leicht. Mit dem Gefühl, furchtbar auf dem Lande
zu sein, fuhr ich nach dem Gottesdienst wieder heim, um den Rest des Abends mit Vorbereitung auf die Predigt des ersten Festtages, die ja zugleich meine Eintrittspredigt in Moisburg sein sollte, zuzubringen. Einen Christbaum hatte ich diesmal natürlich noch nicht. Doch beschenkte ich natürlich meine getreue Anwar Pullak mit Sachen, die mir Mutter besorgt hatte.
Am ersten Festtag war außer der Vormittagspredigt auch eine Nachmittagspredigt zu halten. Ich verlegte dieselbe, um der Gemeinde einigermaßen Ersatz für den ausgefallenen Christabendgottesdienst zu geben, - es hatten sich schon Stimme hören lassen, dass ich doch für Moisburg und nicht für Hollenstedt angestellt sei - auf den Abend unter den brennenden Christbaum. Am zweiten Festtag setzte ich den Gottesdienst in Moisburg eine halbe Stunde früher an, um die Hollenstädter, die, wie ich es Herrn Schweinhagen anmerkte, mit der Hinausschiebung ihres Gottesdienstes unzufrieden waren, nicht zu lange warten zu lassen. In Hollenstedt musste ich übrigens vor der Predigt noch katechisieren, und die völlig improvisierte Katechese ging immerhin ziemlich glatt. Aber der Gottesdienst zog sich auf diese Weise sehr in die Länge, so dass ich ziemlich spät am Nachmittag erst wiederkam.
So war die erste Arbeit getan, und zum Kaffee und Abendbrot war ich bei Wilhelmis eingeladen. Mein Vorgänger hatte mit Wilhelmi nicht gut gestanden und mich etwas mit Vorurteilen gegen sie erfüllt. Ich hielt mich daher anfangs etwas in Reserve ihnen gegenüber. Ich muss aber bekennen, dass mir von ihnen nur Freundlichkeit erwiesen worden ist. Auch habe ich den Eindruck, dass sie in der Zeit, wo ich in Moisburg war, an kirchlichem Interesse zugenommen haben. Oberamtmann Wilhelmi war damals ein Fünfziger, etwas asthmatisch und, wie Landwirte überhaupt, leicht hypochondrisch gestimmt. Aber er war ein durchaus nobler Charakter und nahm auch, wo ich einmal etwas in kirchlichem Interesse zu monieren hatte, es aufs Beste auf. Frau Oberamtmann, eine hohe Vierzigerin, sah noch recht gut aus und war in ihrem Wesen frisch und resolut. Drei Kinder hatten sie, eine damals siebzehnjährige Tochter Emmy, an frischem Wesen der Mutter ähnlich, aber derber als sie, auch äußerlich weniger hübsch, und zwei Söhne, den damals dreizehnjährigen Fritz und den achtjährigen Wilhelm, Bill genannt. Fritz besuchte das Gymnasium in Lüneburg, Bill damals die Volksschule. Als er etwas älter war, habe ich ihn im Latein unterrichtet, bis er auch auf das Gymnasium kam. Bill war wohl der Begabtere, hatte auch ein feines Gesichtchen, während Fritz von Schönheit nicht gerade gedrückt wurde. Dieser hatte jedoch etwas zuverlässiges, hat mir auch als Konfirmand wie später Freude gemacht. Zur Familie gehörte außerdem noch die alte Mama Wilhelmi, des Oberamtmanns Mutter, eine alte Dame, die an die Biedermeierzeit erinnerte.
Nach dem Weihnachtsfest kam nun zugleich Neujahr und einen Tag darauf das Epiphaniasfest. Da ich in der Zwischenzeit auch wiederholt in die Gemeinde Hollenstedt zu Amtshandlungen musste, kam ich auch dann noch nicht zu Atem. Erst in der darauf folgenden Woche fing ich an, Besuche in der Gemeinde zu machen. Die Gemeinde bestand aus zwei politischen Gemeinden, Moisburg mit dem südöstlich an der Este gelegenen Dörfchen Podendorf, das nur aus zwei Höfen und einer Abbauerstelle bestand, und dem noch weiter südlich gelegenen Hof Appelbeck, insgesamt 500 Seelen zählend, und Daensen, eine gute Viertelstunde nördlich, an der Chaussee nach Buxtehude gelegen, mit den beiden dazugehörigen Ortschaften Pippensen, noch weiter nach Buxtehude zu, und Heimbruch, westlich davon, ziemlich versteckt an der Este gelegen.
Man erzählte, die Franzosen hätten es in der Zeit der Franzosenherrschaft nicht finden können, und es sei deshalb von Einquartierung verschont geblieben. Daensen hatte die stattlichsten Höfe der Gemeinde und etwa 120 Einwohner. Pippensen und Heimbruch, aus je vier Hofstellen bestehend, hatten zusammen etwa 100, so dass das ganze Kirchspiel etwa 720 Seelen zählte. Die meisten kleinen Leute
waren in Moisburg, wo das meiste Land der Domäne gehörte und ein beträchtlicher Teil der Einwohner Tagelöhner der Domäne waren. Hier waren nur drei größere Höfe, daneben einige Kötnerstellen, und mehrerer Handwerker. Die Verhältnisse lagen durchweg einfach. Der Eingang, den ich in der Gemeinde fand, war nicht schwer. Durchweg kamen mir die Leute voll Vertrauen und freundlich entgegen. Nicht selten versicherten sie mir, sie wären nicht so schlimm
. Mein Vorgänger hatte die allerdings ziemlich im Schlaf liegende Gemeinde mit Gewalt erwecken wollen, war aber mehr mit des Gesetzes Schärfe als mit der Freundlichkeit des Evangeliums gekommen und hatte dadurch in äußerer Zucht manches erreicht, aber die Herzen durch sein schroffes Wesen mehr abgestoßen, besonders in seiner Abschiedspredigt sie nach dem, was mir erzählt wurde, geradezu wegwerfend behandelt. So ruchlos, as Wittkopp uns makt hat, sünd wi doch nicht
, hatte die Kirchenvorsteher zu Kastropp gesagt, als derselbe als Spezialvikar die Sitzung hielt, in der mir die VokationVokation (lat. vocatio von vocare für rufen
) bezeichnet die Berufung in ein Amt.Siehe Wikipedia.org [6] erteilt wurde. Eigentliche Kirchenfeindschaft gab es in der Gemeinde gar nicht, geradezu unkirchliche Elemente sehr wenige, dagegen auch nur wenig kirchlich lebendige.
Recht einsam fand ich mich in den ersten Wochen doch. Ich hatte niemand, bei dem ich mir in so manchen Sachen, die mir neu waren, Rats erholen konnte. Dazu kam auch, dass das Haus des nächsten Amtsnachbars, Kastropp, mir in den ersten Wochen verschlossen war, da er mir die zu Weihnachten erfolgte Geburt eines Kindes, das gleich nach der Geburt gestorben war, anzeigte.
[5] Offensichtlich hatte der Autor eine Abneigung gegen das Lüneburger Gesangbuch, weil er das Lied
Vom Himmel kam der Engel Scharals gräuliche Verhunzung des Liedes
Vom Himmel hoch, da komm ich herempfand und außerdem noch allerlei andere Mängel zu kritisieren hatte.
[6] Vokation (lat. vocatio von vocare für
rufen) bezeichnet die Berufung in ein Amt.