Teil 9 - Moisburg, 1880-1888
Kapitel 8
Vaters Tod
In den Ostertagen 1883 hatten wir den Besuch meines jüngsten Bruders
UliJulius David Paulus Dittrich genannt Uli (1862-1931) war einer der Zwillinge. Er wurde Kaufmann, ging nach Chile und brachte es in Valparaiso zu beträchtlichem Wohlstand. [28], der auf der Reise nach Afrika war. Er hatte 1880 die Schule verlassen und war in ein kaufmännisches Geschäft eingetreten. Seit längerer Zeit hatte er schon den Plan, überseeisch zu werden, weil ihm dies der einzige Weg schien, einmal ein selbstständiges Geschäft zu übernehmen und nicht lebenslang KommisKommis, auch Commis 8von frz. commis = Gehilfe) ist eine veraltete Bezeichnung für einen Kontoristen, Handlungsgehilfen oder kaufmännischen Angestellten.Siehe Wikipedia.org [29] zu bleiben, wozu seine Vermögenslosigkeit ihn sonst genötigt hätte. Nun hatte er ein Engagement für eine Geyersche Palmöl-Faktorei in Lagos in West-Afrika erhalten und war auf dem Wege dorthin. Von Hamburg ging sein Schiff einige Tage nach Ostern ab, und bis dahin blieb er bei uns. Unsern Vater [Julius Dittrich] hatte er krank verlassen. Derselbe litt an Gesichtsrose, die ihn zwei Jahre vorher schon einmal heimgesucht hatte. Bereits war er auf Besserung gewesen, da war infolge einer Erkältung Gelenkrheumatismus hinzugetreten, der ihn 30 Jahre zuvor schon einmal an den Rand des Grabes gebracht hatte. Anscheinend war die Sache nicht schlimm, so dass Uli ihn ohne Sorge verlassen hatte. Auch wir sahen die Sache nicht ernst an, umso mehr, als wir ganz ohne Nachricht blieben. Da erschreckte uns in den Nachmittagsstunden des 11. April eine Depesche Mutters: Vater sehr krank. Kommt.
Wir machten uns beide sofort reisefertig, nachdem wir gesehen, wie wir am schnellsten nach Stettin kommen könnten. In Buxtehude hatten wir bereits Fahrkarten genommen, als uns auf dem Bahnhof eine zweite Depesche gebracht wurde: Es geht besser.
Wir sahen das als eine Aufforderung an, einstweilen nicht zu kommen, gaben deshalb die Fahrkarten zurück und fuhren wieder nach Hause. Am andern Morgen nahm ich auch noch an einer Schulkonferenz in Hollenstedt teil. Aber am Nachmittag meldete eine Depesche Alexanders den Tod. Wir würden Vater auch, wenn wir den Abend vorher gleich weitergereist wären, nicht mehr lebend angetroffen haben.
Zu der Erschütterung, die der in der vollen Kraft der Jahre eingetretene Tod naturgemäß hervorrief, gesellte sich bei mir noch der Schmerz darüber, dass in den letzten Jahren eine Entfremdung zwischen uns eingetreten war. Vater hatte sich, wie ich bereits erwähnte, nicht darein finden können, dass ich in Hannover, wohin ich doch mit seiner Zustimmung gegangen war, bleiben wollte, und hatte deshalb auch meine Heirat mit der Tochter eines alten hannoverschen Pfarrhauses nicht gern gesehen. Gerade weil er sich freute, einen Sohn zu haben, der das ihm bis an sein Ende teure Amt erwählt hatte und dasselbe in seinem Geist zu führen bemüht war, schmerzte ihn der Gedanke, denselben von sich fern und überdies auch in einer anderen Kirchengemeinschaft zu wissen. Während aber Mutter, die ebenso wie er durch meine Verheiratung ein Band geschlungen sah, das mich fester mit der hannoverschen Landeskirche verknüpfte, sich dadurch nicht hindern ließ, der Schwiegertochter mit mütterlicher Liebe zu begegnen, ließ er sie Kälte fühlen, und das empfand meine Frau und ich mit ihr. Wir hofften immer noch, die Zeit würde das ändern und auch bei ihm wärmere Gefühle auslösen. Da trat der Tod dazwischen.
In der Hoffnung, den Vater noch am Leben anzutreffen, war Elisabeth bereit gewesen, mitzureisen. Jetzt, da ein gegenseitiges Sehen und Sprechen ausgeschlossen war, reiste ich allein. Am Abend des 13. April, genau ein Jahr, nachdem ich ihn bei Ellys Hochzeit auf der Höhe seines Vaterglücks gesehen, stand ich an seinem Totenbett. Außer den Geschwistern war auch Tante Berta [Dittrich] aus Bärsdorf gekommen. Die Mutter fand ich gefasst und stark. Donnerstag war Vater gestorben. Auf Montag war die Beerdigung angesetzt. Schon Sonntag hörten wir in der Kirche des Diakonissenhauses, wo Vater oft gepredigt hatte, Worte dankbaren Gedächtnisses aus dem Munde Pastor Brandts. Zur Beerdigung war Onkel Wilhelm [Rogge] aus Altenburg, Vaters ehemaliger Schüler, und Superintendent Henske aus SchivelbeinSchivelbein, heute Swidwin, ist eine Kreisstadt in der polnischen Woiwodschaft Westpommern.Siehe Wikipedia.org [30] gekommen. Die Leichenrede hielt Vaters Konfessionarius, Konsistorialrat Brandt, über Römer 8, 37-39Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.
[31]. Dann gab ich den Empfindungen, die uns Kinder sonderlich bewegten, Ausdruck in einem kurzen Wort ohne besonderen Text. Hellmuth Wiesener schloss auch noch Worte des Dankes an, und Onkel Wilhelm beschloss mit einem Gebet die Feier im Hause. Das volle, harmonische Geläut der Glocken der Schlosskirche, dem Vater stets so gern gelauscht, gab dem Leichenzug das Geleit. Die Militärkapelle empfing ihn am Eingang des Kirchhofs. Gebet und Segen am Grabe sprach Superintendent Henske. Am folgenden Tage, meinem Geburtstage, an dem ich ein Jahr zuvor Mutter nach Swinemünde begleitet hatte, kehrte ich wieder nach Hause zurück.
Eine Freude war uns im Sommer der mehrwöchige Besuch Mutters mit
Grete und VeraMargarethe und Veronika, ihre Töchter [32]. Sie kamen von Höxter, wo sie Anna Aschoff und deren Mutter - der Vater war bereits vor Jahren gestorben - besucht hatten. Besonders Vera tummelte sich mit Vergnügen in unserm Garten, spielte mit Amtmanns Emmy ehr Popp
und schloss Freundschaft mit unserm Hund Polly. Auch Verwandte Elisabeths besuchten uns verschiedentlich. So das Hanffstengelsche Ehepaar, Tante Friederike Groneweg [geb. Borchers] und Tante Sophie von Stolzenberg. Wir besuchten die Verwandten in Kuhla hinter Stade, Papas Bruder Heinrich [Borchers], dessen älteste Tochter Agnes auch auf unserer Hochzeit gewesen war und uns seitdem auch im Winter schon auf einige Tage besucht hatte.
Im Herbst 1883 heiratete [Bruder] Alexander. An der Hochzeit teilzunehmen hinderte mich die große Entfernung. Dagegen traute ich [Bruder] Georg auf dessen Bitte in der Pfingstwoche 1884 in Höxter. Auf der Hinreise machten wir Station im Friederikenstift, wo ich meine Frau vorstellte. In Höxter selbst besuchte ich den Superintendenten BeckhausKonrad Beckhaus (1821-1890) war ein evangelischer Theologe, Botaniker, Mykologe und Lepidopterologe (Schmetterlingskundler).Siehe Wikipedia.org [33], der einer der angesehensten Geistlichen Westfalens war. Dimissoriale bedurfte ich zwar von ihm nicht, sondern von Onkel Bernhard [Rogge], gemäß dem Vorrecht der Militärgeistlichen, da Georg, der damals ein Kommando in Potsdam hatte, zu seiner Gemeinde gehörte. Aber ich wollte mich bei Beckhaus nach dem dort gültigen Trauformular erkundigen und erfuhr zu meiner Überraschung, dass er nach der Lüneburger Kirchenordnung traue und zwar nach dem ungeänderten Formular. Es war der einzige Fall in meinem Leben, wo ich nach der vor Einführung des Zivilstandsgesetzes gültigen Weise getraut habe. Trauung und Hochzeitsfeier fanden in dem alten aber überaus traulichen Hause der Familie Aschoff statt, und wir waren alle sehr vergnügt. Am Polterabend fanden wenige Vorführungen statt. Wir ließen es uns aber nicht nehmen, allerlei Schandtaten Georgs aus seiner Kindheit zum Besten zu geben. Natürlich statteten wir auch in den Tagen dem Kloster KorveyCorvey (lat. Corbeia nova) ist eine ehemalige reichsunmittelbare Benediktinerabtei direkt an der Weser auf dem heutigen Stadtgebiet von Höxter in Nordrhein-Westfalen.Siehe Wikipedia.org [34] einen Besuch ab.
Den Rückweg machten wir auch nicht direkt, sondern benutzten die Gelegenheit, Elisabeths bester Freundin aus der Marienberger Zeit, Anna Siebold, in Schildesche bei Bielefeld einen Besuch zu machen. Sie war noch zu Hause bei ihren Eltern, aber verlobt mit Pastor Kuhlo, dem Posaunengeneral. Wir trafen sie auch bereits auf dem Bahnhof Löhne mit diesem. In Schildesche verlebten wir dann erquickliche Tage bei dem prächtigen alten Siebold mit seiner Frau. Sonntag begleitete ich ihn zu einer Vikariepredigt in der damals verwaisten Kirche zu Jöllenbeck. Ich sehe noch die langen schwarzen Linien von Kirchgängern, die von allen Seiten nach der hoch gelegenen Kirche wallten, die dann das weite Gotteshaus kaum zu fassen vermochte. Am Abend lernte ich in einer kleinen Konferenz den Superintendent HuchzermeierClamor Huchzermeyer (1809-1899) war ein lutherischer Pfarrer und konservativer Politiker.Siehe Wikipedia.org [35] kennen, auch eine von den Säulen der westfälischen Geistlichkeit. Das Interessanteste aber in diesen Tagen war ein Besuch in Bethel. Elisabeth wollte mich dahin begleiten, musste aber unterwegs umkehren, da ihre Kräfte nicht mehr reichten. Daher ging ich mit Anna Siebold allein hinauf. Wir trafen Frau Pastor von BodelschwinghIda von Bodelschwingh (1835-1894) half an der Seite ihres Mannes Friedrich von Bodelschwingh mit, die weltbekannten von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel aufzubauen.Siehe Wikipedia.org [36] mit den Kindern am Kaffeetisch. Bald kam auch erFriedrich von Bodelschwingh (1831-1910) war evangelischer Pastor und Theologe in Deutschland. Er arbeitete in der Inneren Mission.Siehe Wikipedia.org [37] hinzu, und wir trugen unser Anliegen vor. Nachdem wir unseren Kaffee getrunken, übernahm er selbst die Führung, schob seinen Arm in den meinen und fragte mich nach den Verhältnissen meiner Gemeinde, als ob er nichts wichtigeres zu tun hätte, als sich über Moisburg orientieren zu lassen, übergab uns aber dann doch, als andere Geschäfte ihn abriefen, einem alten Pastor Meyer, der uns an die Zionskirche, die damals gerade im Bau begriffen war, auf den Kirchhof, wo wir das Grab des früheren Missionsinspektors Lüpke sahen, und durch das ganze Gebirge Juda
mit den bekannten biblischen Namen führte. Die Anstalt war damals noch nicht so groß wie jetzt. Überall hatte man noch freie Durchblicke. Aber eben deshalb machte die Anstalt einen umso anmutenderen Eindruck.
Auch Schildesche war noch nicht unsere letzte Station, sondern einmal unterwegs wollten wir auch die Geschwister [Wilhelmine Borchers und Emil von Hanffstengel] in Meyenburg besuchen. Einen Aufenthalt in Osnabrück benutzte ich zu einem Gang in die Stadt, um einen Gesamteindruck zu gewinnen, konnte Kirchen und Rathaus freilich nur von außen ansehen. Die Bahn ging bis Vegesack. Von da fuhr die Post. Wir hatten vier Plätze innerhalb des Postwagens, von denen jeder eine Ecke desselben einnahm, so dass ein halbrunder Hohlraum zwischen je zwei Sitzen blieb, besetzt, als in der Stadt eine Frau hereinstürmte und mit den Worten Ick hew jo betalt
einen Platz für sich beanspruchte, mich aber auf einen der Hohlräume drängte. Zwei Stunden lang, bis Schwanewede, hielt ich's aus, immer hoffend, dass einer von den Passagieren aussteigen würde. Da meine Hoffnung trog, stieg ich dort aus und ging die letzten dreiviertel Stunden zu Fuß. In Meyenburg wurden wir in dem alten, gebrechlichen Hause wohl aufgenommen. Meine Schwägerin hielt es allerdings für gut, uns beim Schlafengehen in unser Schlafzimmer zu begleiten, da sie selber die Fenster schließen müsse. Ungewohnten Händen würden sie entgleiten und auf die Straße stürzen. Wir verlebten dort noch einige gemütliche Tage, sahen auch Rakenius, der in den Tagen gerade die amtliche Schulvisitation in Meyenburg hielt, die damals im Stadeschen noch bestand. Ich reiste dann allein ab, da Elisabeth noch etwas länger bei den Geschwistern bleiben wollte. In der Bahn traf ich mit zwei Herren zusammen, die ich nach ihren Gesprächen bald als Geistliche erkannte. Sie sahen mir auch den Amtsbruder an und fragten, ob ich auch zum Missionsfest wolle. Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit erst, dass an dem Tage in Bremen Missionsfest sei, und da ich dort einige Stunden hatte, schloss ich mich Ihnen an - es waren die Pastoren Müller aus Blumenthal, von dem Hanffstengel mir schon erzählt, dass er mit ihm verkehre und viel von ihm habe, der spätere Auricher reformierte Generalsuperintendent , und Hesse aus Neuenkirchen - und hörte in der Liebfrauenkirche eine Predigt von Schluttig und eine Abordnung von zwei Missionaren durch VietorCornelius Rudolph Vietor (1814-1897) war ein evangelischer Geistlicher.Siehe Wikipedia.org [38],
der die Ordinationshandlung vornahm, und ZahnFranz Michael Zahn (1833-1900) war ein deutscher evangelischer Theologe und Inspektor der Norddeutschen Missionsgesellschaft.Siehe Wikipedia.org [39], der eine feine Ansprache an die Ordinanden hielt. Ich sah bei dieser Gelegenheit den ganzen rechts stehenden Teil der Bremer Geistlichkeit: Mallet, Funcke, Henrici, Zauleck, Thikötter, Thiesmeyer u.s.w., die alle bei der Handauflegung in Aktion traten.
[29] Kommis, auch Commis 8von frz. commis = Gehilfe) ist eine veraltete Bezeichnung für einen Kontoristen, Handlungsgehilfen oder kaufmännischen Angestellten.
[30] Schivelbein, heute Swidwin, ist eine Kreisstadt in der polnischen Woiwodschaft Westpommern.
[31]
Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.
[32] Margarethe und Veronika, ihre Töchter
[33] Konrad Beckhaus (1821-1890) war ein evangelischer Theologe, Botaniker, Mykologe und Lepidopterologe (Schmetterlingskundler).
[34] Corvey (lat. Corbeia nova) ist eine ehemalige reichsunmittelbare Benediktinerabtei direkt an der Weser auf dem heutigen Stadtgebiet von Höxter in Nordrhein-Westfalen.
[35] Clamor Huchzermeyer (1809-1899) war ein lutherischer Pfarrer und konservativer Politiker.
[36] Ida von Bodelschwingh (1835-1894) half an der Seite ihres Mannes Friedrich von Bodelschwingh mit, die weltbekannten von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel aufzubauen.
[37] Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) war evangelischer Pastor und Theologe in Deutschland. Er arbeitete in der Inneren Mission.
[38] Cornelius Rudolph Vietor (1814-1897) war ein evangelischer Geistlicher.
[39] Franz Michael Zahn (1833-1900) war ein deutscher evangelischer Theologe und Inspektor der Norddeutschen Missionsgesellschaft.