Teil 9 - Moisburg, 1880-1888
Kapitel 11
Walters Geburt, Papas Tod und andere Trauerfälle
Ich gestehe, dass ich damals die Spezialvikarie in Hollenstedt nicht mit solcher Hingebung geführt habe als 1881. Anderes beschäftigte damals Herz und Gemüt, ja gab dem ganzen Leben eine neue Gestaltung. Am 15. März 1886 wurde unser erstes Kind geboren, unser Walter. So nannten wir ihn, als ich ihn am Sonntag Oculi, den 28. März, dem neunten Jahrestag meiner Ordination, taufen durfte. Es war ein Tag des Lobens und Preisens des Herrn. Mein Schwiegervater kam herüber, um den Enkel aus der Taufe zu heben. Meine Schwiegermutter, die ihren Mann begleitete, weinte Freudentränen, als sie das niedliche, gesunde Kind sah. Und der Junge wuchs und gedieh zusehends. Die Leute in der Gemeinde, die das Ereignis überhaupt mit der lebhaftesten Teilnahme und Freude begrüßten, war es doch seit mehr als 20 Jahren das erste Kind, das im Pfarrhauses geboren wurde, nannten ihn erst wohl 'nen lütten Finen
, bald aber 'nen lütten Dicken
. Und mit dem körperlichen Wachstum hielt das geistige Aufwachen gleichen Schritt. Wenn Elisabeth keine Zeit hatte, sich mit ihm zu beschäftigen, schob sie den Kinderwagen unter die Wanduhr, dann konnte er sich stundenlang mit ihr unterhalten und sie anlachen und sie ankrähen. Nach einem langen und harten Winter, noch am Tage der Geburt hatten wir -7° R.Umrechnung nach Celsius ergibt -9°C. [50] hatten wir einen überaus schönen Frühling und Sommer. So konnte der Junge bald in den Garten gefahren werden. Und wie freute ich mich, wenn ich die junge Mutter mit ihrem Kinde dort sah. Der Sommer 1886 war wohl der schönste und glücklichste meines Lebens. Freute ich mich seit meiner Verheiratung, wenn ich von einem Ausgang zurückkehrte, stets, sobald ich den Giebel meines Hauses erblickte, so war das nun doppelt der Fall. Stets wusste ich es so einzurichten, dass ich so zeitlich wiederkehrte, um den Jungen noch zu sehen, ehe er zu Bett gebracht wurde, und mit ihm zu tändeln. Er hatte es auch bald los, wie gern ich mich mit ihm beschäftigte, und vergalt mir das mit doppelter Freude. Vater ist der beste
, sagte meine Frau wohl mit einem Anflug scherzhafter Eifersucht. Als im Spätsommer Georg mit seiner Frau [Anna] uns besuchte, musste ich einige Tage abwesend sein, um auf dem Missionsfest in Meyenburg zu predigen. Als ich bei meiner Rückkehr ins Haus eintrat, hüpfte er mir von dem Arm seiner Mutter mit einem Jubelschrei förmlich entgegen. Ich sehe noch den Blick, den meine Schwägerin Anna ihrem Mann zuwarf. Sie musste sich mit Wehmut dessen erinnern, was sie auch besessen und ein Jahr früher verloren.
Zehn Tage später nahm ihn meine Frau mit sich nach Sinstorf zu den Eltern. Als ich einige Tage darauf nachkam, riss er mir, als er mich erblickte, die Brille von der Nase, dass sie auf dem Boden zersplitterte. Im Hochsommer kam meine Mutter mit Grete auf mehrere Wochen zum Besuch, um an dem ersten Enkelsohn sich zu freuen. Auch Elly, die mit Mutter Gevatter gewesen, kam herzu, und beide hatten ihre Lust an dem Jungen. Er war auch wirklich ein bildhübsches Kind mit strahlenden blauen Augen.
Auf den Sommer der Freude folgte dann freilich ein Winter der Trauer. Das Kastroppsche Ehepaar, das überhaupt Leid und Freud treulich mit uns teilte, hatte Geburt und Wachstum unseres Kindes mit lebhaftester Teilnahme begleitet. Es war bei ihm umso rührender, als sie dreiviertel Jahr vor Walters Geburt einen Knaben im Alter von nicht ganz zwei Jahren, der sein ganzer Stolz war, infolge eines Stiches von einem giftigen Insekt verloren hatten. Als wir Ende Oktober von Kleines Einführung zusammen zurückkamen, hielt er sich bei uns etwas auf und freute sich an dem Jungen. Und als wir zur Feier seines 40. Geburtstages am 22. November nach Elstorf hinüber fuhren, - vor der Abfahrt erhielten wir eben noch die Anzeige, dass bei Alexander in Danzig das zweite Töchterlein geboren sei - sagte er noch zu mir: Ihr Junge ist prächtig.
Seine Frau erzählte auch noch, wie voll er von ihm gewesen sei, als er ihn neulich gesehen, er hätte die Augen gar nicht vergessen können.
Zwischen Weihnachten und Neujahr hörte ich dann, dass Kastropp an einer Erkältung erkrankt sei. Ich besuchte ihn und legte der Sache weiter keine Bedeutung bei. Aber noch zum zweiten Epiphanias-Sonntag bat er um meine Vertretung. Da fand ich ihn, während er bei meinem ersten Besuch auf gewesen war, bettlägerig. Doch hielt ich den Zustand auch dann noch nicht für ernst, bis ich Ende des Monats die Aufforderung vom Generalsuperintendenten erhielt, den Konfirmandenunterricht in Elstorf zu übernehmen, da Kastropp schwer erkrankt sei. Am folgenden Tage, noch ehe ich Zeit gehabt, hinüber zu gehen, hielt ein Wagen aus Elstorf vor meiner Tür, mich zu Pastor Kastropp abzuholen, um ihm das heilige Abendmahl zu reichen. Als ich hinkam, fand ich ihn in heftigen Fieberphantasien. Schon als ich noch auf dem Vorplatz war, hörte ich ihn laut und erregt reden. Als ich eintrat, streckte er mir die Hände entgegen und sprach: Sie können mir helfen, Sie allein.
Ich wartete einen lichten Augenblick ab, aber vergebens. Ich musste unverrichteter Sache umkehren. Die Abendmahlsgeräte ließ ich da in der Hoffnung, dass ich am anderen Tage, wenn ich zum Konfirmandenunterricht käme, ihm das heilige Abendmahl geben könne. Aber auch dann, und so oft ich in den folgenden Tagen an sein Bett trat, sah ich dazu keine Möglichkeit. Am 1. Februar vormittags wurde mir die Todesnachricht gebracht. Freitag den 4. war die Beerdigung. An seinem Sarge sprach ich über Sprüche Salomonis 4,18Doch der Pfad der Gerechten ist wie das Licht am Morgen; es wird immer heller bis zum vollen Tag.
[51] Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan
, so klang es mir durch die Seele.
Als wir vom Grabe zurückkehrten, reichte mir mein Schwiegervater - es war der einzige Augenblick, wo wir uns sprechen konnten, tief ergriffen die Hand und sprach: Wie wunderbar Gottes Wege sind. Ich meinte, ich müsste der Nächste sein, und nun trifft es einen, an denen niemand gedacht.
Das war das letzte Wort, das ich aus seinem Munde hörte. Gerade acht Tage später, [wohl am 12. Februar 1887,] als ich eben im Begriff war, hinauf in mein Konfirmandenzimmer zu gehen, trat Oberamtmann Wilhelmi herein mit verstörter Miene, einen Brief in der Hand, und fragte, ob ich nichts von meinem Schwiegervater aus Sinstorf gehört hätte. In dem Augenblick kam Elisabeth herein, um mir Frühstück zu bringen. Da schwieg er. Sowie sie aber hinaus war, flüsterte er mir zu: Er ist tot
, und zeigte mir ein Zeitungsblatt, in dem die kurze Notiz stand. Er hatte es gelesen und war daraufhin zur Post geeilt, um zu fragen, ob ein Brief an mich gekommen sei. Den brachte er mir nun, nachdem er mich auf diese Weise vorbereitet hatte. Er war von dem Kandidaten Wolters, der seit einiger Zeit bei meinem Schwiegervater als Prädikant war und mir nun im Auftrage Mamas die traurige und durch ihre Plötzlichkeit erschütternde Mitteilung machte. Papa war zwar schon vor etwas mehr als einem Jahr auf der Kanzel von einem leichten Schlaganfall betroffen worden, hatte sich aber von demselben schnell wieder erholt und sein Amt in vollem Umfange versehen, nur dass er, wie gesagt, in der letzten Zeit einen Predigtgehilfen angenommen. Er hatte Mittwoch den 9. Februar noch Konfirmandenunterricht erteilt, an dem er in diesem Winter auch meine jüngste Schwägerin, Martha, obgleich diese noch nicht 14 Jahre alt war, teilnehmen ließ. Es war, als hätte er ein Vorgefühl seines nahen Endes gehabt. In der Nacht war Mama, die überhaupt viel an Schlaflosigkeit litt, einmal durch ein Stöhnen von ihm erschreckt worden. Er war aber, daraufhin von ihr geweckt, wieder eingeschlafen. Nach einer Weile hatte sich jedoch das Stöhnen wiederholt, und als sie wieder zugesehen, hatte sie ihn bereits leblos gefunden. Er kann durch des Todes Türen träumend führen.
Meine Frau reiste, sobald sie ihre Trauerkleidung hergerichtet hatte, sogleich ab. Ich folgte ihr den Sonntag darauf, nachdem ich meine Sonntagsarbeit erledigt. Am Montag war dann die Beerdigung. Die Angehörigen der großen Familie hatten sich zahlreich dazu eingefunden, denn Papa galt seit langem als das Familienhaupt. Verschiedene lernte ich bei dieser Gelegenheit erst kennen. So den jüngeren Bruder meines Schwiegervaters, Onkel Fritz [Borchers], damals Pastor in Blender, eine feine, innige, überaus sympathische Persönlichkeit. Auch verschiedene Freunde und Verehrer, deren Führer er gewesen war, gaben ihm die letzte Ehre. Am Sarge sprach Gabert über Simeons Wort Lukas 2, 29-30Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen.
[52]. Plathner schloss daran ein Gebet. In der Kirche, wohin der Sarg dann getragen wurde, sprach der Generalsuperintendent.
Auch einen anderen die Familie berührenden Trauerfall will ich hier gleich anschließen, obgleich er erst ein Jahr später eintrat. Im Februar 1888 starb meine Schwägerin Adele Plathner [geb. Borchers]. Lange Jahre hatte sie auf ihrem Krankenlager gelegen. Verschiedene Male war sie dem Tode nahe gewesen, aber immer wieder war vergleichsweise Besserung eingetreten. Nun hatte sich Anfang 1888 zu ihren sonstigen Leiden Lungenentzündung hinzugesellt. Wochenlang hatte sie im höchsten Fieber über 40° gelegen. Schließlich hatte ein Blutsturz ihrem Leben ein Ende gemacht. Dass wir alle tief bewegt waren, kann man sich denken. Bei strenger Kälte - es war der Winter, in dem der alte Kaiser starb, in dem Kälte und Schnee bis in die zweite Hälfte des März anhielt und schließlich der Deichbruch bei Darchau erfolgte, - fuhr ich hinüber nach Hermannsburg zu Beerdigung, die unter großer Beteiligung stattfand. Superintendent [Otto] Münchmeyer, der Plathner von jeher nahe gestanden, hielt in der Kirche die Leichenpredigt über Offenbarung 7, 9-17. - Ich besuchte bei der Gelegenheit auch meinen alten Freund Ehlers, der nach dem Tode von Theodor Harms Pastor an der Hermannsburger Kreuzkirche geworden war. Im Sommer vorher hatte ich ihn in Stade, wohin ich zur Konferenz gekommen war, zuerst wieder gesehen, und er hatte mich dann auch mit Wiedemann, den er von Erlangen her kannte, in Moisburg in besucht.
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Doch der Pfad der Gerechten ist wie das Licht am Morgen; es wird immer heller bis zum vollen Tag.
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Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen.