Teil 9 - Moisburg, 1880-1888
Kapitel 12
Gerhards Geburt
Auch von zwei anderen Universitätsfreunden hatte ich um diese Zeit Besuch, im August 1887 von Schnedermann, im Oktober von [Heinrich] Jentsch. Ich freute mich, dass alle drei Freunde auch meiner Frau besonders gut gefielen. Da haben wir denn tüchtig in Jugenderinnerungen geschwelgt. Jens begleitete uns dann noch nach Hamburg, wo in den Tagen die allgemeine lutherische Konferenz tagte. Da sah ich denn zum ersten Male Heerschau der lutherischen Kirche. KliefothTheodor Kliefoth (1810-1895) war ein Theologe und Kirchenreformer. Er gilt als der bedeutendste Vertreter des Neuluthertums in Norddeutschland und wichtigster Theologe der mecklenburgischen Kirchengeschichte.Siehe Wikipedia.org [53] präsidierte, trotz seiner 77 Jahre noch frisch, die kleine, sehnige Gestalt mit dem energischen Antlitz elastisch, die Worte klar und knapp. Die Eröffnungspredigt in der Petri-Kirche hielt Becker aus Kiel. Ein feste Burg ist unser Gott
rief uns das Glockenspiel von dem hohen Turm nach, als wir aus der Kirche heraustraten. Den Vortrag in der ersten Hauptversammlung hielt Luthardt über unser Verhältnis zur römischen Kirche. In der Debatte sprachen u. a. DieckhoffAugust Wilhelm Dieckhoff (1823-1894) war ein lutherischer Theologe.Siehe Wikipedia.org [54], WackerEmil Wacker (1839-1913) war ein evangelischer Theologe.Siehe Wikipedia.org [55]
aus Flensburg und Max FrommelMax Frommel (1830-1890) war ein evangelisch-lutherischer Theologe und Autor, Generalsuperintendent und Konsistorialrat in Celle.Siehe Wikipedia.org [56]. Am zweiten Tag brachte Späth aus Philadelphia Grüße des amerikanischen Generalskonzils, und Dieckmann aus Verden hielt einen Vortrag über das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung. Von den Spezialkonferenzen ist mir besonders eine über Innere Mission erinnerlich, bei der Hieckmann aus Cölln bei Meißen in sehr ansprechender Weise redete. Ich residierte mit meiner Frau bei Gleiß, von denen sie sich noch einige Tage halten ließ. Natürlich sah ich auf der Konferenz auch verschiedene alte Freunde. Steinmetz war mit seiner Frau aus Göttingen gekommen, Hoppe aus Barkhausen, wohin er von Osterholz versetzt war, Wagner aus Bissendorf, Graff aus Neuenkirchen, Brauer aus Fallingbostel. Auch verschiedene Freunde aus dem theologischen Verein. So begrüßte mich beim Ausgang aus dem Saal nach der ersten Hauptversammlung Behrens, bei dessen Anblick ich daran erinnert wurde, dass wir altern, denn auf seinem Haupte blühte der Mandelbaum. Mit Rühe, den ich auch sah, wurde verabredet, das eingeschlafene Briefkränzchen alter Vereinler wieder ins Leben zu rufen. Es hat dann auch an die 30 Jahre eine allerdings zeitweise recht mühselige Existenz gefristet.
Als ich ohne meine Frau nach Hause kam, suchte ich Walter beizubringen, dass Mutter in Hamburg sei. Fragte ich ihn aber: Wo ist Mutter?
, so antwortete er mit schelmischem Lächeln: Tata Mata-Bemen.
Das Wort Hamburg auszusprechen machte ihm zu große Mühe. Da half er sich damit, dass er statt über Mutters Verbleib nur über den von Tante Martha sprach, die kurz vorher einige Wochen bei uns gewesen war, von uns aus aber zur Vervollständigung Ihrer Bildung in eine Pension nach Bremen gegangen war.
Aber hier muss ich nachholen, dass er schon am 19. Mai des Jahres [1887] ein Brüderlein bekommen hatte. Gerade am Himmelfahrtstage hatte sich unser Gerhard eingestellt. Das Läuten zum Nachmittagsgottesdienst hatte ich um eine Viertelstunde verschoben, um noch den kleinen Ankömmling begrüßen und den Ornat anlegen zu können. Brauer-Fallingbostel, dem ich die Geburt auf einer Karte meldete, antwortete durch die Anzeige eines bei ihm gerade eine Stunde später eingetretenen ähnlichen Ereignisses. Sein Ankömmling hat sich zum Kunstmaler entwickelt, von dem ich später ansprechende Zeichnungen von der Wartburg in die Hände bekommen habe. Doch zurück zu meinem Jungen. Walter, der damals alle Tiere, ja alles, was Leben hatte und ihm Leben zu haben schien, nicht nur Schafe und Kühe, sondern auch Fliegen, ja selbst Schneeflocken mit dem Wort Bah
bezeichnete, begrüßte auch das Brüderchen: Ei, Bah.
Mit der Zeit erkannte er in ihm einen Konkurrenten, für den er nicht immer die freundlichsten Gefühle hatte. Seine Bettstelle stand zu Füßen unserer Betten, und neben der Mutter Bett stand Gerhards Wagen. Da erregte seine Eifersucht, dass Gerhardt öfter von der Mutter ins Bett genommen wurde, während früher er sich dieses Vorzugs zu erfreuen hatte. In einer Nacht gab's, ich weiß nicht mehr wodurch, eine Störung. Walter, aufgeweckt, stand plötzlich in seinem Bettchen aufgerichtet und sah nach Mutters Bett hinüber, willens, mit einem Purzelbaum herüber zu kommen. Da sah er Gerhardt neben der Mutter liegen und rief: Buder!
Als ihm bemerklich gemacht wurde, Buder
sei bei der Mutter, antwortete er aufgeregt: Buder - Erde!
Übrigens hatte er eine Zeitlang die Gewohnheit, plötzlich mitten in der Nacht, ohne auch nur aufzuwachen, mit einem Purzelbaum in mein Bett herüber zu schießen und sich neben mir häuslich einzurichten.
Gerhards Befinden machte uns einige Zeit ernste Besorgnis. Weihnachten 1887 kam heran. Wir freuten uns besonders auf das Fest, da wir erwarteten, dass Walter es zum ersten Mal mit einigem Verständnis erleben werde. Das Jahr vorher hatten ihm die Konfirmanden, die wir alljährlich um den Christbaum versammelten, viel mehr Eindruck gemacht als dieser. Auch Gerhard hatte sich gerade um die Zeit sehr niedlich herausgemacht. Am 23. Dezember war ein Weihnachtspaket von Mutter aus Stettin gekommen. Elisabeth hatte es mit Freuden ausgepackt und Gerhardt zum Scherz ein für diesen gesandtes Mützchen aufgesetzt - er merkte ja noch nichts davon. Da kam kurz darauf das Dienstmädchen in die Schlafzimmer, wo wir beide uns gerade aufhielten, und erschreckte uns mit den Worten: Gerhard hat Krämpfe.
Wir stürzten hinüber, wo er war. Richtig, da lag er, blau im Gesicht mit verdrehten Augen in Zuckungen. Der Doktor kam auf telegrafischen Anruf und gab Verhaltungsmaßregeln. Aber nach einigen Stunden wiederholten sich die Krämpfe, und je näher die Nacht kam, in desto kürzeren Abständen. Schließlich dauerten die Anfälle länger als die dazwischenliegenden Pausen. Wir kamen die ganze Nacht nicht aus den Kleidern und glaubten schließlich gar nicht mehr, dass wir ihn behalten würden.
Am andern Morgen verlangsamte sich das Tempo, aber immer noch kehrten die Krämpfe wieder. Gegen Mittag kam Meybohm, der von unserer Not gehört hatte, und gab uns aus seiner homöopathischen Apotheke BelladonnaDie Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna) ist eine giftige Pflanze, die auch als Arzneipflanze Verwendung findet.Siehe Wikipedia.org [57], das sofort die gewünschte Wirkung hatte. Walter stand natürlich zurück. Ich weiß noch, dass ich schließlich, als ich mich auf den Christabendgottesdienst rüstete, ihn bei der Hand nahm und mit ihm, meine Ansprache memorierend, im Zimmer auf und abging. Mit Zittern hielt ich noch den Gottesdienst. Aber wie dankte ich Gott, als ich, aus der Kirche wiederkommend, hörte, dass die Krämpfe sich nicht wiederholt hatten. An einer Weihnachtsbescherung war natürlich nicht zu denken, schon, weil ich nun noch die Vorbereitung auf die Festgottesdienste nachholen musste. Aber wir konnten dann doch, als das Fest vorüber war und Gerhard auch in den Festtagen von Krämpfen verschont geblieben, den Christbaum noch anzünden. In Abständen von vier bis fünf Wochen wiederholten sich zwar den Rest des Winters hindurch die Krämpfe. Aber es blieb jedes Mal bei einem leichten Anfall. Gegen den Frühling hin hörten sie ganz auf.
Ich kann es an dieser Stelle nicht unterlassen, der treuen Hilfe zu gedenken, die uns in diesen Nöten wie überhaupt in dieser Zeit unsere Stütze Anna Renken geleistet hat. Stützen der Hausfrau
sind ja in so manchem Haushalt eine willkommene oder unwillkommene Zugabe. Auch wir konnten ihrer, seit Gott unsere Ehe mit Kindern segnete und damit der Hausfrau Arbeit und Mühsal sich vermehrte, nicht entraten. Höchstens dass wir ab und an statt einer solchen ein Kindermädchen mieteten. Zuweilen hatten wir auch beide miteinander neben dem Mädchen für den eigentlichen Haushalt. Wie viele junge Mädchen sind so im Lauf der Zeiten durch unser Haus gegangen, böse und gute. Die beiden ersten dürften vielleicht die allerbesten gewesen sein. Schon zwei Monate vor Walters Geburt kam in unser Haus Margarethe Bohlmann aus Winsen an der Luhe und blieb ein Jahr bei uns schlicht um schlicht. Mit mir und mich stand sie zwar auf dem Kriegsfuß, war aber stets freundlich, willig, dienstbereit und persönlich teilnehmend, dabei keineswegs ohne Bildung, jedenfalls nicht ohne Herzensbildung. Dann folgte nach einem Interregnum von einigen Monaten, während dessen Tina Gleiß, Hannas jüngste Schwester, für die nach dem Tode ihrer Mutter ein Beruf gesucht wurde, in unserem Hause Aufenthalt nahm und dasselbe nach Kräften betreute, Anna Renken aus Daverden, Tochter eines Lehrers, der früher in Meyenburg gewesen und unseren Geschwistern Hanffstengel nahe getreten war. In ihr bekamen wir wirklich eine Perle, die nicht nur das eine Jahr, wo sie förmlich bei uns engagiert war, sondern auch später bei den verschiedensten Anlässen hilfreich bei uns einsprang und eine wirkliche Freundin unseres Hauses geblieben ist bis auf diesen Tag. Alte Tata
, unter diesem Namen wurde sie von unseren Kindern immer wieder jubelnd willkommen geheißen, wenn sie später in unser Haus kam. Damals war sie jung, frisch und tatkräftig, darin besonders das bei aller Freundlichkeit und Dienstwilligkeit doch schon etwas als jungfräuliche Fräulein Bohlmann übertreffend. Wie prächtig wusste sie Walters Spiele mit einigen Dorfgespielen, etwa den Meybohmschen Kindern, zu leiten. Und wie treulich nahm sie sich Gerhardts an.
Das bemerkenswerteste Ereignis im Sommer 1888 war eine Reise nach Swinemünde, wo Mutter mit Grete und Vera nahe dem Strande Sommeraufenthalt genommen hatte. Schon als sie 1886 bei uns war, hatte sie uns das Projekt entwickelt, dass sie dort alle ihre Kinder und Enkel, soviel deren könnten, einmal um sich versammeln wolle. Als Gerhardts Befinden sich gebessert, wurde die Reise fest beschlossen, und nachdem der Gedächtnisgottesdienst für den im Juni verstorbenen Kaiser Friedrich gehalten war, vom Generalsuperintendent der vierwöchige Urlaub erteilt und die Reise angetreten. Zuerst wurde Station in Bützow gemacht. Die Bahnfahrt war, besonders da wir ein Kindermädchen mit uns hatten, keineswegs lästig. Walter interessierte sich für alle Gegenstände, an denen uns der Bahnzug vorüberführte, so lebhaft, dass eine Ermüdung bei ihm gar nicht eintrat. In [Bad] Kleinen verließ ich den Zug, um, während Frau und Kinder nach Bützow voran fuhren, einen kleinen Abstecher nach Wismar zu machen und Freund Genzken, der dort als Pastor an St. Marien stand, zu besuchen. Ich wartete in Kleinen die Abfahrt des Zuges ab, und noch steht mir Walters Bild vor Augen, wie er aus dem Rahmen des Wagenfensters mit seinen seelenvollen Augen heraus schaute und mir Abschied winkte. Es wurde mir ordentlich schwer, mich zu trennen. In Wismar war Freund Genzken an der Bahn, beherbergte mich gastlich in seinem Hause, ließ mich an seinem häuslichen Glücke teilnehmen, das ihm später so furchtbar zertrümmert werden sollte, zeigte mir die wundervollen Kirchen und das Fürstenhaus von Wismar, letzteres mit seinem die Geschichte des verlorenen Sohnes darstellenden Friese, wo die Gäste in der Schlussszene alle unter dem Tisch liegen, und nahm mich auf die Dampfschifffahrt nach Boltenhagen mit. Im Bützow traf ich Frau und Kinder wohlbehalten an, Gerhardt um die Liebe des gleichaltrigen aber viel dickeren Vetters Rudolf werbend, aber bei demselben wenig Gegenliebe findend, Walter etwas verstimmt, dass er nicht wie zu Hause die Hauptperson, dass auch sein Vater, als er kam, viel von den lebhaften Cousinen beschlagnahmt wurde, die unaufhörlich von ihm geschaukelt werden wollten. In Swinemünde führten wir dann ein richtiges Badeleben und pendelten dabei zwischen Mutters Wohnung und dem Pfarrhauses hin und her: Frühstück bei den höchsten und Familientafel bei den allerhöchsten Herrschaften.
Doch habe ich mich auch nützlich gemacht. Hellmuth Wiesener war bei unserer Ankunft noch auf Urlaub, und ich habe ihn zweimal vertreten. Als er da war, wurden dann auch Wagenfahrten nach den hübschen Punkten der Insel arrangiert. Mutter hatte noch Liesel Rogge aus Potsdam zu Besuch. Gegen Ende der Zeit rückte dann auch Alexander mit Frau und drei Kindern ein. Aus der Zeit stammt das Bild der Großmutter mit den fünf Enkeln. Natürlich musste sich nun auch ein Verhältnis zwischen Vetter und Cousinen - denn Gerhard auf der einen und der Vetter Joachim auf der anderen Seite kamen für ein Verhältnis noch nicht in Betracht - herausbilden. Die fast vierjährige Erika fand anfangs, dass Walter doch noch zu kindisch
sei. Zuletzt meinte sie aber, er sei schon verständiger geworden. Allerliebst mit den Kindern war wie immer der Onkel Hellmuth. Es waren sonnige Tage trotz des meist regnerischen Wetters. Wir mussten uns an die häusliche Prosa erst wieder gewöhnen.
[54] August Wilhelm Dieckhoff (1823-1894) war ein lutherischer Theologe.
[55] Emil Wacker (1839-1913) war ein evangelischer Theologe.
[56] Max Frommel (1830-1890) war ein evangelisch-lutherischer Theologe und Autor, Generalsuperintendent und Konsistorialrat in Celle.
[57] Die Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna) ist eine giftige Pflanze, die auch als Arzneipflanze Verwendung findet.