Lebenserinnerungen und Kriegserlebnisse
Kapitel 1
Kindheit in Masuren
Am 25. Mai 1927 erblickte ich, Paul Emil Trinker, in dem kleinen Dorf SteintalSteintal, bis 1928: Kamionken, Kreis Lötzen, bis 1932: Adlig Kamionken, Kreis Neidenburg Ostpreußen, seit 1945: Kamionki (Giżycko), Ort im Powiat Giżycki, Woiwodschaft Ermland-Masuren, Polen Kreis Lötzen in Ostpreußen im Hause meiner Großeltern mütterlicherseits das Licht der Welt. Mein Vater Walter Friedrich Leopold Trinker (* 1893,† 1984) hatte einen Bauernhof von 280 Morgen. Meine Mutter Ida Trinker, geborene Groß (* 1898, † 1967) war auch aus Steintal, ihre Eltern hatten nur einen kleinen Hof. So waren bei einer Heirat viele Schwierigkeiten voraussehbar. Mein Vater übernahm den Hof in jungen Jahren, denn mein Großvater hatte den grauen Star und war fast blind. Die Großeltern versuchten, eine Heirat mit einem armen Mädchen, wie es meine Mutter einmal war, zu verhindern. Dennoch hielt mein Vater unbeirrt aus Liebe zu ihr und heiratete sie. Als junge Bäuerin kam sie auf den Hof und alsbald geschah, was kommen musste: Meine Großmutter, die gegen diese Heirat war, versuchte, meine Mutter gegenüber den Arbeitern des Hofs auszuspielen und ihnen und meinem Vater klarzumachen, dass sie als Bäuerin ungeeignet wäre. Dieses unterstrich sie durch allerlei Boshaftigkeiten. Mein Vater saß ständig zwischen zwei Stühlen, doch das Leben musste auch unter diesen schwierigen Voraussetzungen weitergehen.
Ich war das älteste Kind meiner Eltern und hatte noch sechs Geschwister - Waltraut (* 1928), Bruno (* 1930), Ernst (* 1932), Wilfried (* 1933), Christa (* 1937) und Ingrid (* 1939).
Ostern 1934 wurde ich in Steintal eingeschult. Unser Dorf gehört zu den ältesten Siedlungen in Ostpreußen und wurde schon 1436 gegründet. 1931 wurde eine neue zweiklassige Schule gegenüber dem Turnplatz gebaut. Im oberen Stockwerk waren die beiden Lehrerwohnungen für den ersten Lehrer Weidemann und für den zweiten Lehrer Michels. Zum Schulbereich gegenüber der Schule gehörte ein Stall-Scheunengebäude, das der erste Lehrer als Unterkunft für sein Dienstmädchen und für den Knecht nutzte; denn zu dieser Lehrerstelle gehörten 40 Morgen Ackerland. In der zweiten Klasse waren die Schuljahre eins bis vier, in der ersten Klasse die Schuljahre fünf bis acht untergebracht. Je neun Kinder fanden in einer Bank Platz, Mädchen und Jungen getrennt. Meinen Lehrern bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie waren sehr streng, aber gerecht und gaben mir das Rüstzeug fürs Leben. Noch heute erinnere ich mich mit Dankbarkeit an die schöne Zeit.
Wenn ich an meine Heimat Masuren denke, steigen in mir die bis heute haften gebliebenen Kindheitserinnerungen auf, Erinnerungen an die sorglose Jugendzeit in Steintal. Es fällt mir daher auch nicht schwer, diese Erinnerungen nach mehr als 60 Jahren aufzuschreiben. Unvergessen sind die Fahrten mit dem Schlitten durch die verschneite Landschaft, das Eisvergnügen auf dem Dorfteich, die Weihnachtsfeiern. Und dann die Wälder! Wieder und wieder verweile ich gedanklich in ihnen: im Frühling, wenn die Anemonen den Waldboden weiß färbten, Leberblümchen, blau und rosa, gesellten sich dazu, auch Schlüsselblumen und Maiglöckchen fanden wir. Unseren Eltern haben wir große Sträuße davon gepflückt. Mit dem Frühling kam das Osterfest, das mit seinen Sitten und Gebräuchen unvergessen bleibt.
Ich denke an das Johannifeuer. Dieser Brauch wurde nach alter Sitte überall in Ostpreußen gefeiert. Auf Chiducks Berg, der höchsten Erhebung in unserem Dorf, wurde ein großer Holzhaufen zusammengefahren. Bei Anbruch der Dunkelheit versammelten sich die Einwohner des Dorfs, und der Holzhaufen wurde angezündet. Vorher aber wurden Reden gehalten, und wir Kinder sangen unsere eingeübten Lieder. Die Flammen loderten in den Himmel. Das Holz knisterte und knackte, Wärme strömte nach allen Seiten. War der Holzhaufen fast niedergebrannt, durften wir hindurchspringen und unseren Mut beweisen. Die Menschen klatschten. Für uns Kinder war es ein unvergleichlich schöner Tag. Als Pimpfe zogen wir an diesem Tag unsere Uniform an und waren besonders stolz.
Ich denke an das Begräbnis, an den Tod, der für mich als Kind noch unerklärlich, auch etwas Unheimliches, etwas Beklemmendes war. Vom Sterbebett meines Großvaters gingen meine Mutter und ich nach Hause. Plötzlich sah ich über die Wiese ein Schaf laufen, das meine Mutter aber nicht wahrnahm. Ich versuchte, es ihr zu zeigen, zu erklären, aber das Schaf war meinen Blicken entschwunden. In diesem Augenblick starb mein Großvater. Angst hatten wir auch, wenn Eulen am Fenster schrien oder Dohlen laut um das Haus krächzten. So glaubten wir, dass jemand aus der Familie sterben würde. Und so geschah es auch. Mein Großvater, Vater meines Vaters, starb unter solchen Vorzeichen. Ich liebte ihn sehr, hatte er doch mit mir gerechnet, mir das Einmaleins beigebracht, viele Geschichten, auch Spukgeschichten, erzählt, die ich heute noch in meinem Gedächtnis habe. Es war tiefer Winter, 5. Januar 1939, Gärten, Sträucher, Wege waren in eine dicke Schneedecke gehüllt, als Großvater starb. Er wurde in der besten Stube aufgebahrt, Kerzen angezündet. Nachbarn, Bekannte und nahe Verwandte kamen. Es wurden fromme Lieder gesungen. Am Beerdigungstag wurden alle Stalltüren aufgemacht, auch die Tiere nahmen Abschied. Der Sarg wurde mit einem Schlitten zum Friedhof gefahren. Die Trauergesellschaft folgte durch den hohen Schnee und sang. Mit verweinten Augen nahmen wir Abschied. Meine Großeltern, Eltern meiner geliebten Mutter, mein Großvater, Vater meines Vaters, Onkel und Tanten ruhen auf dem Steintaler Friedhof. Und immer, wenn ich heute nach Steintal fahre, gehe ich dorthin und bin in Gedanken bei den Verstorbenen, und manchmal verlasse ich mit verweinten Augen diesen Gottesacker.
Gern erinnere ich mich an die 500-Jahrfeier von Steintal 1936, ich war neun Jahre alt. Mit einem großen Umzug begann das Fest. In historischen Kostümen marschierten Fischer, Bauern, Altpreußen. Mein Vater, als Ortsbauernführer, ritt in Ordensritterrüstung an der Spitze des Umzugs. Auf dem festlich geschmückten Turnplatz endete der Umzug. Ein großer glatt geschälter Baum diente für uns Kinder als Kletterstange. Oben an der Spitze war ein Kreuz befestigt, daran hingen leckere Süßigkeiten und kleine Spielsachen. Es war nicht so leicht, an dem glatten Stamm hochzuklettern. Der Paulche
schaffte es! Als meine Mutter nach dem Umzug unseren Vater suchte, war er nirgends zu finden, auch ich machte mich mit meiner Schwester Traute auf die Suche. Er lag in voller Rüstung, schweißgebadet, nebenan beim Fleischer Gregorz in der Scheune im Stroh und schlief. Der viele Schnaps hatte die Wirkung nicht verfehlt. Für meine Mutter war die 500-Jahrfeier beendet. Sie war traurig, denn sie musste sich um den Ordensritter
kümmern.
Zu unserem Hof gehörte ein Insthaus
Siehe Lexikon der alten Wörter und Begriffe: Insthaus, ostpreußische für Gesinde, Landarbeiter. In einer Hälfte des Hauses wohnte der SchweizerSiehe Lexikon der alten Wörter und Begriffe: So wurden die Landarbeiter genannt, die das Vieh betreuten und die Kühe melkten. mit seiner Familie, in der anderen Hälfte der Deputant. Es waren Tagelöhner mit Deputat. Neben einem Geldlohn erhielten sie Getreide, Milch, Brennholz, auch Arbeitskleidung, durften sich Schweine und Geflügel halten, hatten freies Wohnen. Von früh morgens bis spät abends wurde gearbeitet, Stunden wurden nicht gezählt. Wir Kinder hatten unsere Aufgaben und halfen beim Säen und Ernten, je nach Arbeitsanfall. Alle Kinder, die wir da waren, empfingen Liebe und Geborgenheit von unseren Eltern und Großeltern, waren glücklich und zufrieden. Wir hatten noch keine Vorstellung von dem, was in der großen Welt vorging. Das Adolf Hitler die ganze Welt in einen tiefen Abgrund stürzen und unsere Nation in unfassbares Elend bringen wird.
Wir haben es erlebt!