Lebenserinnerungen und Kriegserlebnisse
Kapitel 5
Verwundung und Lazarett
An einem Haus traf ich auf die Bewohner - zwei alte Leute, die noch nicht auf die Flucht gegangen waren. Ich erzählte mein Erlebnis und wartete auf meine Truppe, die dann auch bald eintraf. Auch sie konnte nachvollziehen, was mir passiert war. Am Nachmittag trafen wir auf dem Gut ein, dort wurden wir als neue Einheit
erwartet. Wir gaben im Gefechtsstand, der im Gutshaus untergebracht war, einen Bericht ab und wurden sogleich in eine Hauptkampflinie beordert. Es handelte sich hier um eine Schluchtenlandschaft mit ausgebauten Grabenstellungen. Überall war deutlicher Schusswechsel zu vernehmen. Ich wurde als Meldejäger eingeteilt und hatte die Aufgabe, Befehle und Meldungen vom Gefechtsstand in die Vormachtstellung hin- und zurückzubringen. Seitlich des Guts in ungefähr 600 Metern Entfernung verlief eine Straße. Den ersten Befehl überbrachte ich einem jungen Leutnant in der Kampflinie. Von der Schlucht-Anhöhe konnte man auf die Straße blicken, die vollgestopft war mit russischen Panzern und Soldaten. Mit der Panzerabwehrkanone (PAK) und mit Granatwerfern wurde von der Straße in unsere Vormachtstellung gefeuert. Dieser Abschnitt war mit ungefähr 150 Mann besetzt, die auch mit MG und Granatwerfern ausgerüstet waren. Der Leutnant übergab mir die Meldung an den Gefechtsstand, dass die Stellung wegen der Übermacht der Russen nicht länger zu verteidigen sei und bat um Genehmigung, sich mit der Truppe abzusetzen. Anscheinend sei ein Großangriff der Russen zu erwarten. Diese Meldung überbrachte ich dem Gefechtsstand.
Auf dem Gutshof wurden gefangene Russen vorgeführt, und ich erhielt den Befehl, die Russen hinter der Scheune zu erschießen. Ich bedeutete den Russen mitzukommen und führte sie hinter die Scheune. Plötzlich brach von der Straße ein derartiges Feuerwerk aus, dass alle überrascht waren. Ich machte den Russen durch Zeichensprache klar, sich in der Scheune in Deckung zu begeben und sich zu verstecken, stürmte auf den Gutshof und sah, wie alle hier versammelten Soldaten in Deckung einer Scheune über ein freies Feld auf einen Wald zuliefen. Granaten schlugen von allen Seiten in den Hof ein, ein Betriebsgebäude stand in Flammen. Auch ich schloss mich den Flüchtenden an. Die Fronteinheit in der Grabenstellung blieb ohne weiteren Einsatzbefehl und sich selbst überlassen. Ein Panjewagen, mit zwei Pferden bespannt, fuhr in schnellem Tempo über das freie Feld an uns vorbei. Im Hechtsprung landete ich in Bauchlage auf der Ladefläche. Links und rechts, vor und hinter uns Einschläge der Panzergranaten und Granatwerferfeuer. Es gab einen Ruck und vom Panjewagen brach ein Rad ab; ich rutschte runter und blieb einen Augenblick liegen. Überall lagen tote und verwundete Kameraden. Ich sprang auf und verspürte plötzlich einen harten Schlag im linken Schulterbereich, fiel zu Boden und bemerkte, dass ich getroffen war. Es blutete durch die Uniformjacke, die aufgerissen war. Kurz entschlossen sprang ich wieder auf und lief weiter durch den Schnee. Im Zickzackkurs laufend erreichte ich das Waldgelände, in dem schon viele Kameraden Zuflucht gefunden hatten. Durch den Wald hastend, waren wir bald außerhalb des russischen Angriffs und des Gefechtslärms.
Im Wald wurde ich notdürftig verbunden und behandelt und konnte nach einem längeren Fußmarsch in einer Verwundeten-Sammelstelle versorgt werden. Hier gab es viele Verwundete, leichtere und schwere Fälle. Für leichtere Fälle bot sich die Möglichkeit, mit mehreren, verschiedenartigen Fahrgelegenheiten den nächsten Bahnhof zu erreichen. Es muss in der Nähe von Preußisch Stargard gewesen sein. Dort angekommen erfuhren wir, dass am nächsten Tag ein Lazarettzug eingesetzt werden sollte. Auf dem Bahnhof wurden wir von Sanitätern und Rotkreuz-Schwestern frisch verbunden, für die Nacht in Häuser verteilt. Am nächsten Tag, es war ein sehr schöner, sonniger Wintertag, versammelten wir uns auf dem Bahnhof. Hier wimmelte es von Schwer- und Leichtverwundeten. Der angesagte Lazarettzug, zu erkennen an roten Kreuzen auf allen Waggons, wurde eingesetzt. Es begann ein geregelter, durch Rotkreuzhelfer und Sanitätsärzte beaufsichtigtes Verladen, zunächst der Leichtverwundeten, die sich noch selbst helfen konnten, im ersten Teil des Zugs. Der Zug bestand aus ungefähr zehn Waggons. Alles verlief planmäßig. Auch ich fand im vorderen Teil Platz. Im Waggon standen doppelstöckige Pritschen, fest installiert, mit Decken. Ich fand im oberen Teil einen Platz und legte mich hin. Der Arm schmerzte. Die Hälfte der Verwundeten stand oder lag noch auf dem Bahnsteig. Frauen mit Kindern waren auch darunter. Plötzlich wurde der Zug von russischen Jagdbombern angegriffen. Sie überflogen im Tiefflug den Zug und schossen aus allen Rohren. Es brach Panik aus. Die auf dem Bahnsteig wartenden Menschen und Verwundeten, die sich noch selbst helfen konnten, suchten im Bahnhofsgebäude Schutz. Alles schrie durcheinander, Befehle wurden erteilt. Immer wieder stürzten sich die Flieger auf den Zug und schossen ihre Munitionsgarben hinein. Fenster gingen zu Bruch, es krachte und splitterte. Einer der letzten noch leeren Wagen fing an zu brennen. Diese Wagenpartie wurde kurzerhand abgekoppelt, und die vordere Zughälfte setzte sich in Bewegung. Von allen Seiten sprangen die Menschen auf und versuchten, noch irgendwie einen Platz zu finden. Wir lagen in Bauchlage unter den Pritschen. In unserem Wagen waren alle Fenster zerschossen, ein Kamerad wurde erneut getroffen und krümmte sich vor Schmerzen. Wir wagten nicht aufzustehen, denn noch immer wurden wir von den Jagdbombern verfolgt. Es ging bis Rummelsburg. Dort konnten wir das Ausmaß des Tieffliegerangriffs betrachten. In allen Waggons waren Einschusslöcher sichtbar. Fast alle Fenster waren zerschossen. Wir wurden in einen anderen Lazarettzug mit nur drei bis fünf Waggons umgeladen; dazu wurden normale Personenwagen angekoppelt. Auf dem Bahnhof war die ärztliche Versorgung noch in Ordnung, auch die Bahnhofsmission versorgte uns. Wir fuhren weiter. Unterwegs hielten wir mal länger, mal kürzer. Immer wieder wurden Wagen umgehängt, abgehängt, angehängt. Ich konnte mir daraus kein Bild machen. Mit diesem Zug waren wir mehrere Tage Richtung Westen unterwegs. Wir alle waren für diese Behütung sehr dankbar.
Die weitere Fahrroute weiß ich nicht mehr. Wir landeten auf dem Bahnhof in Büdingen in Oberhessen; es muss Anfang Februar 1945 gewesen sein. Wir wurden in einer Schule untergebracht. Nach gründlicher Untersuchung und Behandlung aller angekommenen Verwundeten wurden die Schwerverwundeten in ein Krankenhaus oder in ein Lazarett verlegt. Die leichteren Fälle blieben in der Schule. Meine Schulter-Achsel-Verwundung bereitete Schwierigkeiten. Die Wunde eiterte. Durch eine Kanüle wurde die Wunde sauber gehalten, der Eiter abgeleitet. Der Heilungsprozess begann. Meine ganze Sorge galt jetzt meiner Familie. Aus Berlin, dorthin hatte ich geschrieben, erhielt ich keine Post. Dort wohnte meine Tante, mit der lange vorher die Verabredung getroffen wurde, sich bei ihr zu melden, falls die Familie durch irgendeinen Umstand getrennt würde. Durch Zeitungen und Rundfunkmeldungen konnten wir von den schlimmen Ereignissen erfahren. In Büdingen blieb ich bis Anfang März, wurde als kriegsverwendungsfähig (kv) eingestuft und musste mich beim 4. Fallschirmjäger-Ersatz-Bataillon in Stendal melden.
Mitte März 1945, die Amerikaner hatten Frankreich, Holland und Belgien weitgehend erobert, wurden wir zu einer Kampfgruppe zusammengestellt, die die Amerikaner aufhalten sollten. Wir bekamen Waffen und neue Kleidung laut Ersatz-Soldbuch, und zwar:
1 Flieger-Mütze
1 Flieger-Hose
1 Flieger-Bluse
1 Kragenbinde
1 Hemd
1 Unterhose
1 Paar Schnürschuhe
1 Taschentuch
1 Paar Fußlappen
1 Koppel
1 Schlupfjacke sowie 1 Karabiner 98h mit 60 Schuss Munition.
Nach Einweisung in unsere neuen Aufgaben fuhren wir in einem Güterzug Richtung Holland. Östlich von Arnheim kamen wir zum Einsatz. Dort erhielten wir noch zusätzlich Panzerfäuste. Wir gingen mal hier, mal da in Stellung, und wenn die amerikanischen Panzer sich näherten, setzten wir uns wieder ab. Unser junger Leutnant hörte auf den Rat eines älteren, erfahrenen Unteroffiziers mit EK I. Für ihn war der Krieg lange verloren. Schon vor seiner letzten Verwundung an der Ostfront war das auch für seine Kameraden klar sichtbar. Gegen die russische Übermacht waren die deutschen Verbände machtlos, lagen sie doch zum Teil ohne Munition in vorderster Linie. Nun kämpften die Älteren nach dem Motto Rette sich, wer kann!
und wir mit ihnen. Doch wir mussten vorsichtig sein, denn überall gab es Verräter, und die Feldjäger, Kettenhunde
genannt, fackelten nicht lange, hielten sie sich doch an den Führerbefehl. In einem Dorf in der Nähe der deutschen Grenze verschanzten wir uns auf einem hügeligen Gelände. Verpflegung gab es keine mehr. Essen erbettelten wir uns von der Bevölkerung. Die Nacht war schaurig. Wir froren fürchterlich, lagen in selbst ausgehobenen Löchern. Vom Feind, den Amis, war nachts nichts zu hören und zu sehen. Wir wussten, dass sie nachts Gefechte vermeiden wollten und daher nur Posten aufgestellt hatten.