Lebenserinnerungen und Kriegserlebnisse
Kapitel 6
Gefangenschaft und Kriegsende
Schon früh am Morgen hörten wir Motorenlärm. Wir konnten erkennen, dass sich amerikanische Panzer, flankiert von Infanteriesoldaten, bedrohlich durch das Dorf schoben. Wir beschlossen, uns zu ergeben. Die Panzerfäuste und Gewehre ließen wir in den Löchern liegen. Mit erhobenen Händen gingen wir langsam den Panzern entgegen. Der Unteroffizier und der junge Leutnant vorweg. Die Panzer hielten, Soldaten tasteten uns nach Waffen ab. Sie sahen, dass wir noch sehr jung waren, fragten nach dem Alter, lachten und sagten: Oh, Naziboys, Naziboys!
Ein Vorgesetzter bedeutete uns, einfach die Dorfstraße bis zum Ende zu gehen, dort konnten wir uns dann melden
. Ohne weiter Notiz von unserem desolaten Haufen zu nehmen, fuhren sie weiter. Es fiel kein Schuss, die Zivilbevölkerung stand an der Straße, wusste sie doch, wie auch wir, dass das Ende des Kriegs nicht mehr weit war. Wir schlenderten
- doch etwas ängstlich - bis zum Ende der Dorfstraße. Auf einem größeren freien Platz nahe einer Schule sahen wir eine große Ansammlung von Menschen: Soldaten, Fahrzeuge aller Art, Volkssturmmänner, Flüchtlinge. Im Abstand standen amerikanische Soldaten und Großraum-Lastkraftwagen. Wir gesellten uns dazu und hörten, dass wir in Gefangenschaft kommen. Das war Anfang April 1945.
Gegen Mittag erschien in einem Jeep ein Offizier mit einer Ordonnanz und ordnete an, dass alle Jugendlichen bis 18 Jahre sich gesondert zu versammeln hätten. Die älteren Soldaten, getrennt nach Dienstgraden (Offiziere und Mannschaften), wurden sogleich auf die bereitstehenden Mannschafts-Lkw befohlen und weggefahren. Wir standen mit ungefähr 50 bis 60 Jugendlichen, 17 bis 18 Jahre alt, in einem Schulhofabschnitt, schon bewacht, und warteten. Aus einem Lkw wurden Kartons ausgeladen. Der Offizier erschien und erklärte uns Naziboys
zu Gefangenen. Er sprach gut deutsch. Aus den abgeladenen Kartons erhielten wir Verpflegungsdosen mit verschiedenem Inhalt: Schinken mit Ei, Käse, Kekse, Corned Beef, Schokolade. Das war für uns etwas ganz Besonderes. Es ging ganz ruhig zu, ohne Hektik. Die farbigen Soldaten unterhielten sich mit uns und erklärten, dass der Krieg bald zu Ende sei und wir wieder nach Hause kommen würden. Mit Mannschafts-Lkw ging es in Richtung Holland und Belgien. Es war schon sehr spät. Auf einem Bahnhof standen offene Güterwagen, die zum Teil schon mit jugendlichen Gefangenen beladen waren. Auch wir wurden verladen. Nachts setzte sich der Zug in Bewegung. Man sagte uns, dass dies aus Sicherheitsgründen angeordnet wurde. Die Fahrt ging in Richtung Frankreich. Nach mehreren Aufenthalten auf offener Strecke fuhren wir dann durch Frankreich. Jetzt wussten wir, warum es besser war, nachts zu fahren. Von den Straßen und an Bahnhöfen, aus offenen Fenstern, die der Zug passierte, flogen Steine, leere Flaschen, Gegenstände. Aus den Fenstern wurden wir mit Wasser, sogar mit Urin begossen. Überall schrie man Heil Hitler
, Hitler kaputt!
Es muss Anfang bis Mitte April gewesen sein. Am Tag war es schon recht warm, jedoch in der Nacht war es kalt. Aber wir spürten es nicht, war doch die Aufregung und Ungewissheit sehr groß. Irgendwo in einer provisorisch mit Stacheldraht und Postenständen erstellten Einzäunung wurden wir ausgeladen und da hineingetrieben. Es war wieder Abend und dunkel. Auch das Lager war nur notdürftig beleuchtet. Am Eingang standen große Stapel mit Paketen. Nachdem man uns über Lautsprecher gesagt hatte, dass jeder Ausreißversuch zwecklos sei und dass sofort geschossen werde, wurden wir aufgefordert, am Eingang Verpflegung
zu empfangen. Ein Stück Weißbrot und eine Dose aus dem Bestand der Marketenderware
. Das waren wieder Käse, Rindfleisch, Kekse, Schinken mit Ei, Schokolade. Wir kannten diese Ausgabe aus dem ersten Verpflegungsempfang. Die leeren Kartons wurden abseits gestellt. Nachdem alle versorgt waren, durften wir uns die leeren Kartons als Ruheunterlage für die Nacht holen. Ich flitzte nach vorn und stellte mich an. In dem für mich passenden Augenblick schnappte ich mir aus dem Stapel mit noch vollem Inhalt einen Karton, der mir fast aus den Händen fiel, und schon war ich in der gefangenen Menschenmenge untergetaucht, hoffte nur, dass niemand etwas gesehen und bemerkt hatte.
Im Lager selbst war es dunkel, nur an allen vier Ecken waren einfache und nicht sehr helle Scheinwerfer installiert. Ich verdrückte mich in den äußeren Bereich des Lagers und setzte mich auf meinen Karton. Doch kam es den am nächsten stehenden Kameraden komisch vor, und sie sprachen mich an, merkten sie doch, dass es mit diesem Karton eine besondere Bewandtnis haben müsste. Ich bedeutete ihnen mit dem Finger auf den Mund, ruhig und leise zu sein. Sie schirmten mich sozusagen ab und warteten stehend. Ganz leise, ohne viel Aufhebens, riss ich dann eine Seite des Kartons auf. Welch Überraschung! Ich hatte einen Karton mit all den leckeren Sachen aus dem Marketender Bereich erwischt, stopfte mir die Taschen voll, was ich so im Dunkeln greifen konnte und überließ den weiteren Inhalt meinen Kameraden. Alles verlief ziemlich ruhig, jeder verzog sich mit dem geteilten Inhalt in eine andere Richtung. Ich breitete den leeren Karton als Sitzunterlage auf dem Erdboden aus und aß ganz still und leise aus meinem Taschenvorrat. An Schlaf war nachts nicht zu denken. Es war noch sehr kalt.