Lebenserinnerungen und Kriegserlebnisse
Kapitel 9
Erinnerungen an Steintal
Was die Stadt Lötzen unter den Städten Masurens war, nämlich eine kostbare Perle, das war Steintal unter den zahlreichen Dörfern des Kreises Lötzen: Reizvoll liegt es in der hügeligen Endmoränen-Landschaft inmitten vieler kristallklarer Seen. Nach Osten hin der Kissain-See, ein Teil des 26 Kilometer langen Mauer-Sees - Schifffahrtslinie Angerburg - Lötzen, nach Westen zu der Doben-See, an dessen Rand das Rittergut des Freiherrn Baron Schenk zu Tautenburg und nach Süden hin - ganz nah - der schöne Deyguhn-See mit seinen zahlreichen Buchten, die im Sommer sehr gute Bademöglichkeiten boten und im Winter zu Tummelplätzen von Schlittschuhläufern und Eissegelschlitten wurden. Hier führte auch die Fischereischule Lötzen mit den Nachwuchsfischern das Fischereipraktikum durch. Der Teich lag in der Mitte des Dorfes; heute ist er abdrainiert - nahezu trockengelegt. An ihm lagen die Gasthöfe Witt und Tuschewski/Majora. Am Ende des Dorfes, in Richtung Kühnort, war die Windmühle von Reuter/Gregorz. Umgeben war Steintal von großen Wäldern (Borwald - Borrek - Lassik - Haidchen) und gepflegten Feldern.
Unsere Schule war zweiklassig; auch die Kinder aus dem Fischerdorf Gutten und Rainfeld (Bogatzko) kamen in die Steintaler Schule. Unseren Lehrern Weidekamm, Rohloff und später Michels sind wir zu großem Dank verpflichtet. Sie waren ausgezeichnete Pädagogen, gewissenhaft in ihren Amtspflichten und daher bei den Eltern und Kindern sehr beliebt. Gern erinnern wir uns unserer Lehrer - verdanken wir ihnen doch nicht nur unsere Heimat- und Vaterlandsliebe, sondern auch unsere christliche Erziehung.
Es ist mir nicht schwergefallen, Erinnerungen an Steintal zu Papier zu bringen. So frisch ist alles noch in meinem Gedächtnis und nach über 40 Jahren noch gegenwärtig. Je älter ich werde, desto stärker wird der Drang, nach Hause zu fahren, um meine geliebte Heimat Ostpreußen wiederzusehen.
Frühling, - Sommer, - Herbst und Winter, das sind die vier Jahreszeiten. Meine ersten Gedanken zur Erinnerung an Steintal habe ich mir im Frühling, eineinhalb Jahre vor der 550-Jahrfeier, gemacht, und so will ich mit dem Frühling anfangen.
Meine Gedanken verweilen in den Wäldern. Leberblümchen, rosa und blau, weiße Anemonen schmücken Waldflächen und Waldpfade, Vogelkonzerte erklingen hoch in den Wipfeln der Bäume. Die Sonntagsspaziergänge mit den Geschwistern und Nachbarskindern zum Lassik
, vorbei an Frühlingsblumen und Blütenmeeren von Maiglöckchen, werde ich nie vergessen. Unseren Eltern haben wir große Sträuße Anemonen und Leberblümchen gepflückt. Nach dem langen Winter hatten wir Kinder nur ein Bedürfnis: draußen zu sein, zu spielen und die ersten warmen Frühlingstage zu genießen.
Mit dem Frühling kommt das Osterfest, das für uns alle in Steintal unvergessen bleibt mit seinen Bräuchen und Sitten. Ein Osterbrauch, wohl noch aus heidnischer Zeit, war das Holen von Osterwasser. Am ersten Feiertag, früh bei Sonnenaufgang, wurde Wasser aus einem fließenden Bach geholt. Auf dem Weg dorthin und zurück durfte nicht gesprochen werden. Auch durfte man sich nicht umschauen, da sonst der Segen und die Heilkraft des Wassers verloren gingen. Mit diesem Wasser wusch man sein Gesicht. Auch das Vieh wurde damit bespritzt, um es vor Krankheit zu schützen. Oft war es noch sehr kalt und die Gräben und Bäche zugefroren und von Schnee verweht. Das waren schöne und erfüllte Tage. Schon die kleinen Kinder lernten den Spruch: Oster, Schmakoster, fünf Eier, Stück Speck, dann geh' ich gleich weg.
Der zweite Feiertag stand im Zeichen dieses Schmakosterns. In aller Frühe kam der Osterhase, und wir Kinder wurden nicht müde, immer neue Osternester und Verstecke mit Ostereiern im Garten zu entdecken. Nach dem Frühstück wurden wir dann schön angezogen, nahmen uns die grün aufsprießenden Osterruten, hängten uns einen Korb über den Arm und gingen schmakostern
. Mit vollen Körben, reich beschenkt mit Ostereiern, Speck, Kuchen und anderen Leckereien, kehrten wir gegen Mittag wieder heim. Fleißig wurde dann verteilt, sortiert und ausgetauscht; oft ging das nicht ohne Streit und Ärger aus. Aufs Mittagessen konnten wir leicht verzichten, da wir satt waren von all den süßen Sachen, die wir laufend fleißig probierten.
Einen Übergang vom Frühling in den Sommer haben wir Kinder kaum wahrgenommen. Die Störche waren wieder da, Bäume und Sträucher, Wiesen und Felder wurden wieder grün. Bald wurden die Schuhe ausgezogen, und uns zog es hinaus zu den Seen. Niemals vergessen werden wir im Hochsommer den Flug der Störche in ihre Nester, das Klappern der zahlreichen Störche, wie es heute noch in Ostpreußen zu beobachten ist, über die Wiesen und Felder, bei der Heuernte oder bei der Getreideernte. Sie wateten gemächlich ohne Furcht hinter dem Heu- und Erntewagen her und suchten nach Mäusen, anderem Getier und auch nach Fröschen. Für sie gab es genug Nahrung.
Das schönste für uns Kinder war die Fahrt auf dem hochbeladenen Leiterwagen, der Blick von hoch oben hinunter auf die langsam vorbeiziehenden Bäume und Wege. Wenn heute das Getreide auf den Feldern reif ist, auf Feldern, die mit Kunstdünger und Unkrautvernichtungsmitteln behandelt sind, ohne die für uns so schönen Korn- und Mohnblumen, dann fahren riesige Mähdrescher auf die Felder, und hinterlassen nach wenigen Stunden ein völlig abgeerntetes Feld. Nicht mehr zu sehen sind die Schnitter- und Binderkolonnen. Heute fehlen die Hockenreihen auf den Stoppelfeldern und die langen Erntewagen auf den holprigen Feldwegen. Auf den ostpreußischen Bauernhöfen wurden alle verfügbaren Arbeitskräfte eingespannt, auch wir Kinder mussten fleißig mithelfen, um das Getreide zu ernten und einzufahren. Zuerst wurden die Felder mit der Sense vorgehauen und die Ecken und Winkel ausgehauen. Es durfte nichts umkommen. Am Sensenstiel befand sich eine Fangvorrichtung, die die Schwaden so legte, dass sie zum Binden einfacher aufgenommen werden konnten. Die Sensenblätter mussten sehr scharf sein und wurden mehrmals täglich gekloppt. Später wurde das Getreide mit dem Grasmäher gemäht, und seit 1925 hatten die Bauern einen Ableger, der die geschnittenen Halme über den Tisch außerhalb der Spur ablegte
. So konnten die abgelegten Haufen aufgebunden werden. Einige Bauern besaßen schon 1940 einen Selbstbinder, der von vier Pferden gezogen wurde; später wurden die Selbstbinder von einem Trecker, meistens war es ein Lanz-Bulldog, gezogen. Den ersten Trecker in Steintal hatte der Bauer Wilhelm Majewski, er kaufte ihn 1935. Damit habe ich noch im August 1944 ein großes Feld gepflügt. Beim Anlassen mit dem Lenkrad lief der Motor falsch herum. Jedes Mal, wenn ich den Vorwärtsgang einlegen wollte, lief der Trecker rückwärts. So habe ich dann mit dem Rückwärtsgang weiter gepflügt, denn von Technik hatten wir alle noch keine Ahnung. Gegen Abend erschien dann der Besitzer und erkannte sofort den Grund. Dem Motor, der sehr robust war, hat das nicht geschadet. Ich war sehr stolz, dass ich damals schon Trecker fahren durfte.
Wenn die Walderdbeeren reif waren, besorgten wir uns einen Beerenschein vom Förster, das war die Vorschrift, und mit Milchkannen, Töpfen und Bechern ging es hinaus in den benachbarten Wald zum Beerenlesen. Unsere Mütter hatten dafür keine Zeit, denn die Feld- und Gartenarbeit, das Aufziehen des Geflügels, die Versorgung der kleineren Kinder nahm sie voll in Anspruch. Es war sehr mühsam, die kleinen Beeren zu pflücken, dennoch machte es uns Kindern sehr viel Spaß, und wir waren sehr stolz, wenn wir mit vollgefüllten Kannen und anderen Gefäßen nach Hause kamen.
Das Himbeeren-Pflücken war nicht so mühsam, weil die Beeren hoch an den Sträuchern hingen. Der Saft wurde in Flaschen gefüllt und schmeckte besonders gut zum Pudding. Danach waren die Blaubeeren reif, und wir Kinder gingen in den Gutter Wald, um Blaubeeren zu pflücken. Hier trafen sich die Steintaler Kinder, weil es hier die meisten Blaubeeren gab. Es dauerte lange, bis Kannen und Töpfe voll waren. Alle Anstrengungen und Mühen waren vergessen, wenn wir dann die Blaubeersuppe und Mehlflinsen vorgesetzt bekamen. Das war immer ein leckeres Mittagessen.
Wir Kinder auf dem Lande hatten so immer eine Aufgabe und Beschäftigung: Wasser musste getragen werden; die Wassertonne in der Küche musste ständig gefüllt sein; auch Holztragen für die Küche und den Kartoffeldämpfer war unsere Aufgabe; Gänse mussten gehütet werden, was eine Arbeit in der Hauptsache für die kleineren Geschwister war. Wir taten uns nützlich, wo wir nur konnten, und fragten nicht nach Belohnung oder nach Geld, das überall sehr knapp war und gerade zum wichtigsten Lebensunterhalt reichte.
Erwähnen möchte ich noch die starken Gewitter im Sommer in Masuren. Innerhalb kurzer Zeit verdunkelte sich der Himmel, starker Sturm setzte ein, und dichter Regen prasselte auf die Erde. Heftige Blitze schossen zu Boden, mächtiges Donnerkrachen ließen Haus, Hof und Landschaft erzittern. Die ganze Familie setzte sich in die Mitte der Wohnstube, weg vom Schornstein, Tür und Fenster, und rückte immer dichter zusammen, wenn das Gewitter unmittelbar darüber stand. Ich habe viele Einschläge miterlebt und habe heute noch Angst vor Gewittern. Aber schon bald schaute die liebe Sonne hinter den Wolken hervor, und über uns spannte sich ein kristallklarer Regenbogen. So schnell, wie das Gewitter kam, war es wieder verschwunden. Die Arbeit konnte weitergehen. Ging der Sommer so langsam seinem Ende entgegen, wurden Pilze gesammelt. Es gab in allen Wäldern sehr viele davon: Steinpilze, Birkenpilze, Gelböhrchen, Grünlinge, rote Reizker, Butterpilze und noch viele andere. Wir Kinder kannten sie, und die Körbe waren bald vollgesammelt. Zu Hause wurden sie sehr sorgfältig bearbeitet: abgezogen, abgeschabt, zerschnitten und dann gebraten. Sie schmeckten uns alle sehr gut. Verlockend zog der Duft aus der Küche durch das ganze Haus. Es gab nichts Köstlicheres als solch ein selbst gesammeltes Pilzgericht!
Der Herbst stellte sich langsam ein mit warmen Sonnentagen und bedeutete für uns Kinder die Jahreszeit mit der reichen Obsternte. Wir konnten die Zeit bis zur Reife kaum abwarten. Dann kletterten wir auf die Bäume, um die übervollen Äste abzuschütteln. Zuerst waren die Sommeräpfel reif, es folgten die Kruschkes, Honigbirnen, Kurzstielchen, Zitronenäpfel, Hasenköpfe, Grafensteiner, Mehl- und Haferbirnen und dann später im Herbst die Boskopäpfel und Grauchen. Es gab bei uns aber auch viele Pflaumensorten, wie Spillen, Eierpflaumen, Kreekeln und Zwetschen. Nicht zu vergessen die Süß- und Sauerkirschen! Überall wurde im Herbst Obst zum Verkauf angeboten. Es wurde nach Litern verkauft. Holzgefäße von einem oder zwei Litern dienten als Maß. Das Obst war sehr billig. Für ein paar Groschen konnte man die gekaufte Obstmenge kaum noch tragen.
So verging der Herbst. Die Felder waren abgeerntet, frisch gepflügt und wieder bestellt. Kartoffeln, Rüben und Wruken waren eingefahren, und es begannen die Vorbereitungen für den bevorstehenden Winter, der dann nicht lange auf sich warten ließ. Erste Nachtfröste zeigten ihn an, und bald lag unser schönes Steintal wie in jedem Winter unter tiefem Schnee begraben. Tagelang hatte es gestiemt, die Straßen waren zugeweht, das Dorf war von der Außenwelt abgeschnitten. Dennoch brach die Verbindung zu unserer Kreisstadt Lötzen nicht ab. Als Verkehrsmittel kamen nun die Pferdeschlitten infrage; sie brachten uns Kinder von den Abbauhöfen auch zur Schule. Mit ihnen war jeder Weg zu schaffen. Die Straße nach Lötzen musste freigeschaufelt werden und immer passierbar sein: Arzt und Tierarzt mussten zu erreichen sein, die Post von Lötzen musste täglich mit dem Postauto gebracht werden. Sie wurde auch täglich vom Posthalter Willi Gregorz, der gleichzeitig auch Briefträger war, bis auf die entferntesten Abbauten ausgetragen. Im Winter war es für ihn kein leichter Beruf. Schneeschieber gab es damals noch nicht, so mussten die Straßen in Gemeinschaftsarbeit mit Schaufeln freigeschaufelt werden. Auch das war sehr schwer, denn der Schnee lag oft meterhoch.
Für uns Kinder war der Winter eine herrliche Zeit. Rodelschlitten, Schlittschuhe, Tonnenbretter und Pieken wurden hervorgeholt, und es ging hinaus.
Auch die schlimmste Kälte konnte uns nicht davon abhalten. Über Nacht waren Seen, Gräben und Teiche zugefroren. Wir Kinder konnten es kaum abwarten, dass das Eis hielt und wir darauf Schlittschuh laufen und Schlitten fahren konnten, und wir probierten es laufend. Es geschah oft, dass wir einbrachen und mit nassen Sachen nach Hause kamen. Und dann erging uns das so wie dem Büblein auf dem Eis
: Das Büblein hat getropfet, der Vater hat's geklopfet zu Haus.
Hielt das Eis, so wurde zuerst geschorrt. Auf Holzschlorren oder Holzklumpen ging das am besten. Die Pieken vom Vorjahr waren meisten kaputt und mussten neu gebastelt werden: Am Ende von zwei Stöcken wurden Nägel, deren Köpfe vorher abgekniffen wurden, eingeschlagen. Wir setzten uns auf den Schlitten, nahmen in jede Hand eine Pieke und bewegten uns damit sehr schnell über das spiegelblanke Eis. Auf dem Dorfteich wurde von den größeren Jungen ein Karussell aufgebaut.
Dafür wurde ein Pfahl in das Eis getrieben, der über Nacht frieren musste. Über diesen Pfahl wurde ein altes Wagenrad mit Nabe gelegt, und darauf wurde eine lange Stange gebunden. Daran befestigten wir die Rodelschlitten. In der Mitte wurde das Wagenrad mit einem kurzen, angenagelten Hebel gedreht, und die festgebundenen Schlitten sausten im Kreis herum. Konnte man sich nicht festhalten, wurde man weit über den Dorfteich geschleudert, was nicht immer ohne Folgen für die Kleidung blieb. Die selbstgestrickten Strümpfe und die Handschkes hatten dann große Löcher. Dennoch war das für uns Kinder jeden Winter ein toller Spaß. Für uns alle werden die Wintertage in Steintal mit ihren Winterfreuden und Winterleiden unvergessen bleiben.
Für jeden Steintaler gehörte auch das Schlachten im Winter zum festen Programm. Die Arbeiten für das Schlachtfest wurden vorbereitet. Die Schweine waren fettgefüttert und wogen bis zu fünf Zentner. Je fetter die Schweine waren, desto stolzer war der Besitzer, Den Tag zuvor wurde alles bereitgestellt: Der Kessel mit Wasser, das Fass zum Einsalzen ausgebrüht. Eimer, Schüsseln, Töpfe, Salz, Salpeter, Gewürze, Rinderdärme und Rindfleisch wurden besorgt, der Schweinstrog aus dem Schoppen getragen. Auch der Fleischbeschauer musste für Mittag bestellt werden. Früh am Morgen war es dann so weit: Mit einem Strick am Bein wurde das Schwein aus dem Stall getrieben, was schon mit viel Quieken begleitet wurde. Für uns Kinder war das immer wieder aufregend; wir wagten einen kurzen Blick durch die Scheiben und zogen uns die Bettdecke über den Kopf, um das Schreien nicht zu hören. Mit einem starken Schlag mit der Axt auf die Stirn wurde das Schwein betäubt und fiel auf die Seite. Es wurde abgestochen, das Blut aufgefangen und fleißig gerührt, bis es abkühlte. Es wurde für die Blutwurst verwendet. Das tote Schwein wurde in den Schweinstrog gerollt und mit kochendem Wasser abgebrüht, danach abgeschabt, bis es weiß und sauber war.
An einem Schwengel, durch die Sehnen der Hinterbeine gesteckt, wurde das Schwein nun an eine Leiter gebunden, gegen die Hauswand gestellt und ausgenommen. Es konnte nun auskühlen. Der Schlachter und die Hilfsleute machten es sich in der Küche gemütlich, tranken einen Mischkinnes oder Pillkaller nach dem anderen und warteten auf den Fleischbeschauer, der das Fleisch untersuchte und trichinenfrei stempelte. Die ersten Spirkel konnten gebraten werden. Auch wir Kinder warteten auf diesen Augenblick. Spirkel mit Fett im Teller, darin eingetaucht das selbstgebackene Brot, war ein Festessen für alle. Das Schlachten war aber besonders für die Hausfrau mit viel Arbeit verbunden, denn das Fleisch musste frisch verarbeitet werden. Zuerst wurde Wurst gemacht: Blutwurst, Leberwurst und Grützwurst. Wir Kinder konnten es kaum abwarten, bis die Grützwurst fertig gekocht war; wir hängten sie uns dann als Schmeckwurst um den Hals. Das Fleisch wurde eingeweckt, Schinken und Speck konnten in Salzlake gelegt werden und wurden später in die Räucherkammer zum Räuchern gehängt.
Für den ganzen Sommer hatte die Hausfrau dann eine gute Reserve; denn dann war die Feldarbeit sehr schwer, und das Essen musste besonders kräftig sein.
Denken wir an den Winter, erinnern wir uns wehmütig auch an Weihnachten. Eisblumen zierten die Fenster, und in den Stuben war es mollig warm, denn auch ein Kachelofen strahlte immer gleichmäßige Wärme aus. In der Küche wurden die ersten Weihnachtsplätzchen und Pfeffernüsse gebacken, und überall roch es nach Gewürzen: Kreidnelken, Kaneel, Ingwer, Pottasche, Hirschhornsalz und Zimt. Zum Weihnachtsgebäck gehörten auch Blechfladen, Mohnstritzel, Napfkuchen und Pfefferkuchen. Am Adventskranz flackerten die Kerzen, und in der Schule und zu Hause wurden Weihnachtslieder gesungen. Vor jeder ersten Stunde eines Schultages wurden Kerzen angezündet.
Immer, wenn die Advents- und Vorweihnachtszeit mit den stillen Stunden der Besinnung Einzug hält, eilen meine Gedanken weit zurück in die Zeit meiner Kindheit - nach Hause - nach Steintal. War der Heilige Abend da, wurde die große beziehungsweise die gute
Stube zum Fest hergerichtet. Die Spannung für uns Kinder stieg auf den Höhepunkt. Voller Ungeduld warteten wir auf die Bescherung. Vater war damit beschäftigt, den großen und frisch geschlagenen Tannenbaum zu schmücken; Mutter arbeitete in der Küche und richtete das Festessen. Wurde dann die Tür zur Weihnachtsstube geöffnet, war die Freude sehr groß. Wir konnten uns damals noch richtig freuen! Gemeinsam wurden Weihnachtslieder gesungen. Wir Kinder hatten unsere Weihnachtsgedichte gelernt und sagten sie vor dem Weihnachtsbaum auf. Das weiße Laken, das die Geschenke bedeckte, wurde entfernt, und nun lagen sie da, unsere Geschenke: ein Kaufmannsladen, eine Trommel, Schlittschuhe, ein Teddybär, Laubsägekasten, eine Puppe, Zinnsoldaten, ein Holzgewehr, selbstgestrickte Pullover, Strümpfe, Handschuhe, Mützen und Leibchen. Wie war doch die Freude groß, alle waren zufrieden und glücklich. Jedes Kind bekam auch seinen bunten Teller, der noch am selben Abend leer gefuttert war. Über die Festtage beschäftigten wir uns mit den neuen Spielsachen und gingen hinaus aufs Eis, um die neuen Schlittschuhe auszuprobieren.
Bald war der Alltag wieder da. Wir Kinder mussten wieder in die Schule, und auf den Höfen ging die Arbeit weiter. Oft wurde im Winter noch das Getreide gedroschen, das so lange noch in den großen Fächern der Scheunen lagerte. Das Dreschen ist heute noch ein wichtiger Teil meiner Kindheitserinnerungen. Die Bauern hatten längst noch nicht alle eine große Dreschmaschine. Ein kleiner Unternehmer besaß damals schon einen großen Dreschkasten mit einer Lokomobile, die angeheizt werden musste, denn es gab noch nicht überall Strom, auch nicht bei uns in Steintal. Ich erinnere mich zu genau an das Anlassen der Lokomobile, was sehr umständlich und anstrengend war, und an den langen Antriebslederriemen, der laufend eingewachst werden musste, damit er nicht von den Antriebseisenrollen rutschte. Der Dreschkasten wurde dann von Bauer zu Bauer gerückt, und das gesamte Getreide wurde dann an mehreren Tagen gedroschen. Leute wurden dafür bestellt, und jeder hatte alle Hände voll zu tun. Aus dem Scheunenfach wurden die Garben auf den Dreschkasten geworfen. Der Einleger auf der Maschine musste sehr sorgfältig das Getreide in die Dreschtrommel einlegen, damit sie nicht verstopfte; denn es kostete viel Zeit, die Trommel wieder freizumachen. Vorne vor dem Dreschkasten lief das Korn in die angehängten Säcke und wurde gleich von den Trägern auf dem Buckel zum Speicher getragen. Am anderen Ende des Dreschkastens fiel das ungebundene Stroh heraus, das von den Abnehmern in das Scheunenfach gestakt wurde. Das war eine sehr schwere Arbeit. Zum sehr kräftigen Kleinmittag, Mittag, Vesper und Abendbrot fehlte nie der Schnaps, um die verstaubten Kehlen durchzuspülen. Für uns größeren Kinder blieb das Spreutragen übrig. Die Spreu wurde mit großen Säcken in die Futterkammer gebracht, dort mit geschnittenen Wruken und Rüben vermengt und als Viehfutter vorgelegt.
Ein letztes Mal läuteten die Silvesterglocken in unserer geliebten Heimat 1944 das Neue Jahr ein. Wir durften noch zu Hause sein, aber bereits Millionen Menschen befanden sich schon auf der Flucht und suchten Rettung. Ich habe als Soldat in Westpreußen die endlosen Flüchtlingstrecks gesehen und hatte nur einen Gedanken: Mögen die Steintaler und alle flüchtenden Menschen doch das rettende Ufer
erreichen und die Flucht heil und gesund überstehen. Dennoch war Hoffnung vorhanden, dass sich alles zum Guten wenden möge. Plötzlich jedoch war es so weit, woran niemand glauben wollte: Die Rote Armee drang im Januar 1945 fast kampflos und überraschend schnell in Masuren ein, und eine der schönsten Gegenden Deutschlands wurde gewaltsam abgetrennt. Heute, über 40 Jahre danach, gehen die Erinnerungen zurück, zurück in die Zeit, als sich kein Mensch denken konnte, dass Russen und Polen jemals in Masuren die Herren und Unterdrücker sein könnten.
Masuren war ein reines Agrarland. Heute drängen dort die Menschen, die auf dem Lande wohnen, in die Städte, um mehr zu verdienen. Mehr und mehr Menschen verlassen ihre Höfe. Widerwillig übernehmen die Söhne die Höfe ihrer Väter. Viele Äcker bleiben unbestellt, werden mit Wald aufgeforstet oder verwildern. Auch die dadurch entstehende Zusammenfassung der noch bestellten Ländereien in Staatsgüter trägt nicht dazu bei, den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben. Überall herrscht Mangel an Lebensmitteln. Unsere Heimat wurde früher die Kornkammer Deutschlands genannt, Agrarprodukte und Fleisch wurden ausgeführt. Heute müssen diese Dinge eingeführt werden.
Viele Menschen, vor allem die im Osten Geborenen, fahren heute nach Ostpreußen. Wenn auch die gewonnenen Eindrücke oft wenig erfreulich sind, freuen sich diese Menschen dennoch, zu Hause gewesen zu sein; sie beweisen dadurch, dass das Interesse für die Heimat wach geblieben ist. Über die Reisen dorthin wird viel geschrieben in Form von Erlebnisberichten. Auch ich war schon dreimal zu Hause in Steintal. Wenn ich durch die Felder unseres früheren Hofes gehe, werde ich jedes Mal ganz still und nachdenklich. Der Anblick ist für mich immer erstaunlich und überraschend. Ich unterhalte gute Kontakte zu den polnischen Bewohnern unserer Heimat und besonders zu den Bauern unserer Höfe in Steintal. Die Gastfreundschaft ist überwältigend. Ostpreußen waren schon immer sehr gastfreundlich, und es liegt wohl an der ostpreußischen Erde. Unvergesslich sind die Erinnerungen an die sorglose Jugendzeit in Steintal. Verloren gegangen ist unsere schöne Heimat Ostpreußen. Nicht verloren gegangen aber ist die Erinnerung an sie, an unsere Geburtsstätte. Und wenn auch jeder unserer Steintaler eine neue Existenz gefunden hat, so wird doch ständig die Sehnsucht nach unserer geliebten Heimat bleiben.